Ein Pfändungsvorgang ist in der Schweiz ein demütigender Prozess, der in nicht wenigen Fällen zu einer Schuldenspirale und Armut führen kann. In unserer Geschichte spielt das „betreibungsrechtliche Existenzminimum“ eine entscheidende Rolle, dem eine simple Berechnung zugrunde liegt. Unser Beispiel zeigt, wie diese massiv an der Realität vorbeizielt und wie ein Bundesgericht keine Anstalten macht, etwas an dieser unmenschlichen und unfairen Praxis zu ändern.
Thomas Widmer (Name geändert) hatte Schulden. Weil er diverse Personen in seinem Umfeld unterstützte und seine Finanzen nicht im Griff hatte, bezahlte er mehrfach die Steuern nicht und hatte deshalb beim Steueramt Bern-Mittelland hohe Beträge offen. Somit folgte der gängige Weg, dass er vom Betreibungsamt aufgefordert wurde, die Zahlungen zu begleichen. Weil ihm das nicht möglich war, kam es zu einer Pfändung des Lohns. Er arbeitete bei einer Modehauskette in einer leitenden Funktion. Von aussen musste klar sein, dass es ihm möglich ist über einen gewissen Zeitraum die Schulden zu tilgen. Die Drastik dieser Pfändung brachte ihn und seine Partnerin jedoch in die Armut.
Eine simple Rechnung
In beinah der Hälfte der Betreibungen kommt es in der Schweiz zu einem Pfändungsvorgang. Die gesetzliche Regelung für eine Pfändung findet sich im „Schuldbetreibungs- und Konkursrecht“, dessen Erstfassung aus dem Jahr 1889 stammt. Der Aufwand zur Versilberung von beweglichen Gegenständen ist oft ein grosser Aufwand und wenig gewinnbringend, da Menschen mit Schulden eher selten teuren Schmuck oder wertvolle Kunst zuhause haben. Deswegen kommt es häufig zu einer Lohnpfändung. Eine solche ist für Schuldner:innen ein demütigender Prozess, bei der sie ihre gesamten finanziellen Verhältnisse offenlegen müssen. Das Betreibungsamt rechnet daraufhin das „betreibungsrechtliche Existenzminimum“ aus. Dieses ist jedoch nicht gesetzlich festgelegt.
Massgeblich für die Pfändung des Einkommens ist der Artikel 93 im SchKg, dessen aktuelle Fassung auf das Jahr 1994 zurückgeht. Dieser Artikel überträgt dem Pfändungsbeamten grossen Ermessensspielraum, was nun lebensnotwendig ist und was nicht. Zudem schreibt der Artikel vor, dass eine Lohnpfändung nicht länger als ein Jahr dauern soll. Sind die Schulden bis dahin nicht getilgt, findet eine erneute Pfändung statt. Dem Pfändungsbeamten ist damit also vorgeschrieben das Existenzminimum auch wirklich als Minimum einzuhalten. Die Pfändung soll so schnell als möglich abgeschlossen werden, mit den maximalen Einschränkungen der Schuldner:innen.
Die Betreibungsbeamten halten sich bei Berechnung des Existenzminimums an die Richtlinien der „Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten“ aus dem Jahr 2009. Die Beamten haben das Existenzminimum also gleich selbst festgelegt. Dies ist jedoch keine gesetzliche Grundlage, sondern nur eine Richtlinie. Der Spielraum liegt immer noch bei den jeweiligen Ämtern. Seit 2009 hat zudem keine Anpassung an die Teuerung stattgefunden.
Die Lohnpfändung ist gemäss der Richtlinien eine ziemlich simple Angelegenheit. Ein Dokument von zwei Seiten regelt die finanzielle Schmerzgrenze aller Schuldner:innen in der Schweiz. Alleinstehende Personen erhalten 1200 Franken für ihre Grundbedürfnisse von Nahrung, Kleidung, Haushalt angerechnet, zudem anerkannte Auslagen wie Miete, Heizkosten, Krankenkassenprämie und Berufsauslagen. Bei Paaren im Konkubinat liegt der angerechnete Betrag für die Grundbedürfnisse bei 1700 Franken.
Fernab der Realität
Dass eine solche Rechnung, wie sie aufgrund der Richtlinien seit 2009 in der Schweiz praktiziert wird, die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Schuldner:innen weit verfehlt, zeigt sich unter anderem am Beispiel von Thomas Widmer. Er verdient nach Abzug der Sozialabgaben 7200 Franken. Das Betreibungsamt Bern-Mittelland rechnet ihm den Grundbetrag von 1200 Franken an, die Hälfte der Miete der gemeinsamen Wohnung mit seiner Partnerin, sowie kleinere Auslagen. Am Ende des Monats erhält er gerade noch 2870 Franken. Auch Erfolgsbeteiligungen oder Bonus gehen direkt ans Amt.
Nun ist es in seinem Fall aber so, dass er mit seiner Partnerin im Konkubinat steht, sie sogar verlobt sind. Sie sind seit fünfzehn Jahren zusammen, sein Lohn sollte eigentlich für beide reichen. Sie stammt aus dem Ausland, hat in der Schweiz nicht gearbeitet, ist zudem an Krebs erkrankt. Eine Sozialhilfe kann sie nicht beziehen.
Er reicht deshalb eine Beschwerde ein. Denn sie als Paar benötigen den Grundbetrag von 1700 Fr., die Gesamtmiete von 2000 Fr., sowie die Krankenkassenprämien beider Personen, die insgesamt 1100 Fr. betragen, angerechnet, sodass ihnen 5100 Fr. pro Monat zum Leben reichen. Die Schuld würde damit nicht verfallen, sie würde nur langsamer abbezahlt werden. Doch die Beschwerde wird vor Obergericht abgelehnt. Da das Paar nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, wird ihr Konkubinat in diesem Falle nicht anerkannt. Sein Anwalt rechnet vor: Thomas Widmer und seiner krebskranken Frau bleiben mit dem angerechneten Betrag nach Abzug all ihrer tatsächlichen Kosten gerade mal 4.50 Fr. pro Tag, um zu überleben. Der Anwalt meint dazu nur: „Da kann man sie ja gleich verhungern lassen.“ Nur dank privater Hilfe ist es ihnen möglich irgendwie zu überleben.
Keine Chance vor Bundesgericht
Thomas Widmer und sein Anwalt ziehen die Beschwerde bis vor Bundesgericht, denn der Artikel 93 des SchKg lässt den Pfändungsbeamten eigentlich einen grossen Spielraum bei der Festlegung des Existenzminimums und kann auch Beträge anrechnen und würdigen, die nicht den Richtlinien der Konferenz entsprechen. Der Anwalt argumentiert unter anderem, dass es sich bei ihrem Konkubinat um eine eheähnliche Verbindung handelt und die EMRK, da die Pfändung seine Menschenwürde und den Artikel 8 zur Achtung des Familienlebens, der auch nicht rechtlich begründete Verbindungen schützt, nicht berücksichtigt. Das Obergericht des Kantons Bern lehnte die Beschwerde bereits ab und auch das Bundesgericht fällte ein kühles Urteil: „Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten“. Überraschend ist dies nicht, denn das Bundesgericht greift beinah nie in das Ermessen der Betreibungsbeamten ein bzw. ist dieser Redaktion kein solcher Fall bekannt.
Neue Steuern, neue Schulden
Ein weiterer Aspekt, der Schulder:innen wie Thomas Widmer in der Spirale hält, sind neue Steuerschulden, die sich im Laufe der Pfändung anhäufen. Denn in fast allen Kantonen, gehören die Steuern nicht zum Existenzminimum. Massgebend dafür ist ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2003. Dies führt zu einer stossenden Praxis: jemand wie Thomas Widmer wird wegen der Steuerschulden auf das absolute Existenzminimum gepfändet, in seinem Fall auf 2870 Franken. Da bleibt nichts übrig. Trotzdem werden die Steuern auf seinen Lohn von 7200 Franken erhoben und dabei nicht dem Existenzminimum angerechntet. Dies führt dazu, dass Schuldner:innen keine Rückstellungen für die nächsten Steuern machen können und so finden sie kaum noch aus der Spirale heraus, nicht selten werden sie krank davon. Immerhin hat das Parlament diesen Missstand erkannt. Ständerat und Nationalrat votierten erst kürzlich für eine Änderung dieser Regelung. Justizminister Beat Jans meinte dazu: „Der gesetzgeberische Handlungsbedarf ist nach Ansicht des Bundesrates klar gegeben.“
Veränderungspotenzial gibt es aber noch an diversen anderen Stellen. Die heutige Gesetzgebung und Praxis besteht aus Abschreckung, absolutem Existenzminimum und Schuldenspirale. Man täte gut daran, das System hin zu einer humaneren Praxis zu führen, das auf eine nachhaltige Schuldensanierung setzt und sich stärker mit den realen Verhältnissen der Schuldner:innen befasst. Denn wer Schulden hat, wird krank und daran kann niemand interessiert sein – weder die Schuldner, noch die Gesellschaft.