Bundesgericht: Urteilsberatung eskaliert in offenen Streit

Am Freitag kam es am Bundesgericht bei einer Urteilsberatung zum Eklat. Wie verschiedene Medien berichten, sind sich die fünf Richter so arg in die Haare geraten, dass es zu tumultartigen Szenen kam. Streitpunkt: Die Frage, an der sich der Streit entzündete, ist brisant: Es ging darum, wo Rechtsprechung aufhört und Rechtsetzung beginnt.

Das Thema ist nicht neu, und der Vorwurf immer wieder gehört: das Bundesgericht spreche oft genug nicht einfach Recht, sondern interpretiere Gesetze weit ausserhalb dessen, was der Gesetzgeber ihm als Ermessensspielraum zubillige. Insbesondere im Zusammenhang mit den Forderungen der USA, Auskunft über Bankenbeziehungen von US-Steuerpflichtigen zu erhalten, hatte sich das Bundesgericht in der Ansicht vieler Juristen massiv versündigt und grundlegende Verfassungsprinzipen geschliffen. Nicht selten war vom Untergang des Rechtsstaates die Rede, weil Recht rückwirkend neu ausgelegt gelegt wurde. Eigentlich ein völliges No-go, wie jeder Jura-Student im ersten Semester lernt.

Richter machen Politik

Am Freitagvormittag war es offenbar der CVP-Bundesgerichter Thomas Stadelmann, der seinen Kollegen Andreas Zünd (SP), Florence Aubry Girardin (Grüne) und Yves Donzallaz (SVP) mit deutlichen Worten vorwarf, Ihre Rechtsauffassung sei durch das Gesetz nicht gedeckt und sie würden sich zu Gesetzgebern aufschwingen. „Statt das Gesetz zu respektieren, würden sie „ihre eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen“ durchsetzen“, berichtet Markus Häfliger in den Tamedia- Zeitungen und online-Portalen.

Das uferte offenbar soweit aus, dass die Bundesrichter Zünd und Aubry Garardin mit Zwischenrufen versuchten, Stadelmann zu stoppen.

Kann eine Kann-Formulierung einen Anspruch postulieren?

Inhaltlich ging es um die Frage, ob aus einer „kann“-Formulierung in einem Gesetz ein genereller Anspruch hergeleitet werden darf: Ein Mann aus dem Kosovo mit Aufenthaltsrecht in der Schweiz wollte nach vielen Jahren seine Frau nachziehen lassen. Die Fristen war längst verwirkt, das Gesetz erlaubt es den Kantonen allerdings, dass die Kantone in solchen Situationen einen Familiennachzug dennoch bewilligen können. Drei der Richter verwiesen auf die EMRK und den dortigen Artikel 8, der postuliert, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienblebens habe. Aus Sicht der drei Richter Zünd, Donzallaz und Aubry-Girardin reicht diese EMRK-Bestimmung aus, um den Familiennachzug zwingend zu erlauben. – Was der Schweizer Gesetzgeber wohl definitiv nicht wollte, sonst hätte er im Gesetz keine Kann-Formulierung gewählt.  Stadelmann folgte am Ende nur SVP-Bundesrichter Hans-Georg Seiler, der weitergehende Anspruch auf Familiennachzug hat damit als Richterrecht die Gesetzesbestimmung überholt.

Besondere Brisanz: Zünd soll EGMR-Vertreter werden

Eine besondere Bedeutung erhält der Fall, weil SP-Bundesrichter Andreas Zünd als Richterkandidat für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gilt. Und der war in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik, weil er die Menschenrechtsdeklaration sehr extensiv auslegte und immer wieder Urteile fällte, die Kopfschütteln auslösten. – Beispielsweise, als der Schweiz das Recht abgesprochen wurde, einen verurteilten Straftäter auszuschaffen, weil er in der Schweiz eine Familie hatte – und bei einer Ausschaffung sein Recht auf Achtung vor dem Familienleben beeinträchtigt worden wäre, weil er dann seine Familie nur noch in seinem Herkunftsland hätte sehen können.