„Prämien bezahlt, aber keine Leistungen“ – wie der Staat KMU abzockt

In der komplexen Welt der Justiz sind die Geschichten auf inside-justiz.ch oft schwer zu erklären. Doch manchmal scheint eine Geschichte auf den ersten Blick ganz einfach. Es geht um die Arbeitslosenversicherung (ALV) der Schweiz, in die alle Unternehmen und Arbeitnehmenden einzahlen müssen. Eigentlich ein klares Prinzip: Wer einzahlt, hat im Ernstfall Anspruch auf Leistungen. Doch es gibt eine große Ausnahme: Hunderttausende von Zwangszahlern werden von den Leistungen ausgeschlossen. Rund eine Million Selbständigerwerbende zahlen jährlich zwischen 1’000 und 5’000 Franken in die ALV ein, erhalten aber im Krisenfall keine Leistungen. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht. Das SECO, der Bundesrat und das Bundesgericht. Und sie wehren sich gegen Änderungen, die im Parlament aufgegleist sind. 

Knapp 8 Milliarden Franken zahlen alle Schweizer Unternehmen, Verwaltungen und ihre Angestellten jedes Jahr in die Arbeitslosenversicherung ein. Eine staatliche Summe. In den letzten Jahren hat die staatliche Versicherung äusserst positive Resultate erzielt. Im letzten Jahr betrug der Gewinn 2’700 Millionen Franken.

2,7 Milliarden Gewinn für die ALV

In der Schweiz steht die Organisation der Freiberufler und Selbständigerwerbenden (OFKS.ch) an vorderster Front im Kampf gegen die massive Ungerechtigkeit im Sozialversicherungssystem. Selbständigerwerbende und Firmeninhaber zahlen Hunderte von Millionen in die Arbeitslosenversicherung (ALV) ein, haben aber im Falle von Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf die Leistungen, die sie finanziert haben. Das ist ein grundsätzliches Problem, das nicht nur die finanzielle Sicherheit betrifft, sondern auch den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass das bisherige System nicht mehr funktioniert.

FirmeninhaberInnen, TeilhaberInnen und mitarbeitende EhepartnerInnen müssen aufgrund eines ungerechten Gesetzes jährlich über 1’200 Millionen Franken in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, ohne im Krisenfall Unterstützung zu erhalten. Das sind in der Schweiz rund eine Million Erwerbstätige, die jährlich zwischen 1000 und 5000 Franken Prämie bezahlen, ohne dafür im Krisenfall eine Leistung zu erhalten. Ein diskriminierender Systemfehler, der seit Jahrzehnten von Parlament und Bundesrat betoniert wird und wegen Corona zu Tausenden von Konkursen und Sozialfällen geführt hat.

Die Ausgeschlossenen

Während Hunderttausende von Arbeitnehmenden in der schwierigen Corona-Zeit glücklicherweise von Kurzarbeitsentschädigung profitieren können, sind unternehmerisch tätige Personen von den Unterstützungsleistungen der ALV also gesetzlich ausgeschlossen. «Denn das Gesetz schliesst Firmeninhaber, Gesellschafter, Geschäftsführer und Verwaltungsräte sowie deren mitarbeitende Ehepartner vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung aus», sagt François Cochard, Vorstandsmitglied der OFKS. „Ein echter Milliardenschwindel!

„Gemäss Berechnungen kassiert der Bund jedes Jahr über 1,2 Milliarden Franken an ALV-Beiträgen, ohne dass die Firmeninhaber und Teilhaber im Krisenfall von dieser staatlichen Versicherung profitieren können“, ergänzt Markus Hohl. Der KMU-Vertreter gehört dem Vorstand der OFKS an und ist einer der Betroffenen. „Bundesrat und Parlament haben es seit 2014 versäumt, diesen Systemfehler und die Rechtslage zu korrigieren. Über eine Million Unternehmerinnen und Unternehmer müssen die obligatorische ALV bezahlen, ohne je eine Leistung erwarten zu können.“

Die irrsinnige Angst vor Missbrauch

Bundesrat und Seco konzentrierten sich in der Diskussion fast ausschliesslich auf die Missbrauchsgefahr, sagt Hohl. „Ein Problem, das man mit Regulierungen leicht minimieren könnte.“ Die Angst vor Missbrauch. Weil sich Arbeitgeber selbst kündigen können, befürchtete der Gesetzgeber einen Missbrauch der Arbeitslosenversicherung und schloss Personen mit Einfluss auf Unternehmensentscheide von den Leistungen aus, auch deren Ehepartner. Dies betrifft Tausende von Personen, vom Gewerbetreibenden und seiner Partnerin, die entweder voll mitarbeitet oder auch nur ans Telefon geht, bis hin zu Start-ups, deren Angestellte gleichzeitig Eigentümer und Verwaltungsräte sind. Sie nehmen Einfluss auf Firmenentscheide und erhalten deshalb keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Die wenigsten wissen, dass sie für die Versicherung zahlen, aber nichts davon haben.

Der Bundesrat verschleppt die ALV-Problematik seit Jahren. „Das ist ein Schlag ins Gesicht der Schweizer KMU, die 91 Prozent der Schweizer Wirtschaft ausmachen und über 4 Millionen Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen haben“, erklärt Hohl. „Allein die Vermutung, dass es möglich sein könnte, dass eine Person in einer arbeitgeberähnlichen Stellung Leistungen der ALV missbrauchen könnte, reicht aus, um sie von Versicherungsleistungen auszuschliessen„, ärgert sich Cochard über das Seco. „Das ist das Credo des Seco, das durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts bestätigt wird. Umso erstaunlicher ist es, dass sowohl das Seco als auch der Bundesrat behaupten, ein Rückgriff sei möglich“. Cochard ärgert sich: „Wir werden alle für eine unverständliche Haltung bestraft. Das Seco und der Bunderat scheuen in diesen Zeiten wohl auch die Ausgaben, die derzeit nicht ausbezahlt werden müssen, weil die Bundesgerichtspraxis die Anforderungen an die Auszahlungen so in die Höhe geschraubt hat. Es wird also am Rückgrat der Schweizer Wirtschaft gespart.

Diskriminierende Rechtslage

„Die KMU brauchen in der aktuell schwierigen Wirtschaftslage keine diskriminierende Rechtslage wie heute“, erklärt Cochard. Bundesrat und Parlament müssten eine gangbare Lösung finden. „ArbeitgeberInnen wie auch Personen in geschäftsführenden Positionen haben immer ALV-Abgaben bezahlt und müssen in einer Notlage wie der Corona-Krise auch Leistungen der Versicherung beziehen können“, fordert Markus Hohl. „In einer GmbH mit vier Mitarbeitenden, die alle zu einem Viertel am Unternehmen beteiligt sind, kann nach heutiger Rechtslage niemand Kurzarbeitsentschädigung beziehen. Muss eine Person entlassen werden, erhält sie keine ALV-Unterstützung. Das ist eine Katastrophe und ein massives Hindernis für KMU, um in einer Krise den Personalbestand anzupassen und zu überleben“, sagt Cochard.

Das SECO und das Bundesgericht beharren aber auch in der aktuellen Diskussion auf der «KMU-Abzocke». Aber keine grosse Partei, kein Gewerbeverband, keine Lobbyorganisation hat sich für die rund eine Million Betroffenen eingesetzt. Ein dramatisches Versagen all dieser sich meist sehr «wirtschaftsnah» gebenden Institutionen.Wenigstens eine kleine Schar von Politikern hat den Hilfeschrei gehört. Nationalrat Andri Silberschmidt, FDP Zürich, lancierte zusammen mit NR Jürg Grossen, NR Jacqueline Badran und anderen eine parlamentarische Initiative. Unterstützt wurden sie dabei von Mitgliedern des Vereins OFKS.

Trotz Gewinn keine Leistungen

Wie in jeder Geschichte gibt es neben den Guten auch die Opfer und die Bösen. Die Rolle der Bösen können wir in dieser Geschichte mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO und seinem Leiter «Direktion für Arbeit» Boris Zürcher besetzen. Seit rund 20 Jahren bestens unterstützt von den Richtern des Bundesgerichts, die sich in ihren Urteilen immer restriktiver gegen die KMU und ihre Inhaber aussprechen. Rechtlich fragwürdig, wie die anhaltende Diskussion unter Juristen zeigt und wie es nun auch das Rechtsgutachten (Download) der advokatur rechtsanker darlegt (siehe Artikel Rechtsgutachten).

Rechtsgutachten zum Ausschluss vom Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (ALE) wegen arbeitgeberähnlicher Stellung; insbesondere im Zusammenhang mit Mehrheitsbeteiligungen; unter besonderer Berücksichtigung von BGer v. 19.09.2012, 8C_143/2012

Nachdem sich das Parlament auf Druck des OFKS und seines Präsidenten François Cochard mit diesem Staatsskandal befasst hat, hat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats nun einen Kompromiss gefunden, der diese Ungerechtigkeit des Staates weitgehend korrigieren könnte. Die Debatte findet am Donnerstagmorgen, 13. Juni, im Parlament in Bern statt. Doch das Seco unter Bundesrat Parmelin versucht einmal mehr, an diesem staatlichen Raubrittertum festzuhalten. Das wirft wichtige Fragen nach Fairness und Gerechtigkeit im sozialen Netz der Schweiz auf. Und wo sind all die Interessengruppen, die eigentlich ein Interesse daran haben müssten, dass 600’000 Unternehmen nicht noch mehr belastet werden?

Boris Zürcher

Ein Staatsdiener in der Arbeitsmarktpolitik

Boris Zürcher ist seit August 2013 Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Geboren 1964, promovierte er in Volkswirtschaftslehre und war vor seiner aktuellen Position Chefökonom und Direktor der BAK Basel Economics AG. Seine Karriere im öffentlichen Dienst hat ihm eine zentrale Rolle in der Schweizer Arbeitsmarktpolitik verschafft, doch sein Ruf ist nicht unumstritten.

Widerstand gegen Neuerungen

Zürcher wird oft kritisiert, weil er sich gegen zahlreiche Reformen und Neuerungen stellt, insbesondere im Bereich der Arbeitslosenversicherung. Während seiner Amtszeit hat er mehrfach Maßnahmen blockiert, die darauf abzielten, die Arbeitslosenversicherung zugänglicher und gerechter zu gestalten. Kritiker werfen ihm vor, mehr im Interesse des Staates als im Interesse der Bürger zu handeln. Diese Haltung wird besonders deutlich im Umgang mit selbstständigen Unternehmern und arbeitgeberähnlichen Personen, die trotz Beitragszahlungen keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung beanspruchen können.

Die Kontroverse um die Arbeitslosenversicherung

Während der Covid-19-Pandemie zeigte sich die Schwäche des aktuellen Systems besonders deutlich. Selbstständige und Unternehmer, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, wurden in der Krise weitgehend sich selbst überlassen. Trotz des offensichtlichen Bedarfs an Unterstützung verweigerte das SECO unter Zürchers Führung weitreichende Reformen, die diesen Personen geholfen hätten. Dies führte zu massiver Kritik von betroffenen Unternehmern und Verbänden, die sich im Stich gelassen fühlten.

Staatsdiener oder Bürgervertreter?

Boris Zürcher wird oft als typischer Staatsdiener beschrieben, der den Status quo bewahren will. Seine Entscheidungen spiegeln häufig eine starke Orientierung an den Interessen des Staates wider, auch wenn dies bedeutet, die Bedürfnisse der Bürger hintanzustellen. Dieser Ansatz wird als hinderlich für die Anpassungsfähigkeit und Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik angesehen. Statt flexibler und bürgerorientierter Lösungen scheint Zürcher rigide und konservative Wege zu bevorzugen.

Arbeitslosenversicherung 2023

Stabile Arbeitsmarktsituation führt zu positivem Jahresabschluss

Die stabile Arbeitsmarktentwicklung setzte sich 2023 fort und führte zu tiefen Arbeitslosenzahlen. Für die Arbeitslosenversicherung resultierte ein Einnahmenüberschuss von 2.76 Milliarden Franken.

Der Ausgleichsfonds der Arbeitslosenversicherung (ALV) schloss das Rechnungsjahr 2023 mit einem Gesamtertrag von 9.14 Milliarden Franken (2022: 9.64) und Gesamtaufwendungen von insgesamt 6.38 Milliarden Franken (2022: 7.33) ab. Der Einnahmenüberschuss betrug 2.76 Milliarden Franken (2022: 2.31). Im Jahresdurchschnitt waren 93’536 Arbeitslose bei der ALV registriert.

Einnahmen der ALV in Mio. Fr.

1990                        609
2000                     5’967
2010                     5’210
2015                     6’796
2019                     7’382
2020                     7’461
2021                     7’616

Die Beträge (in Mio. Franken)

 2023

2022

Einnahmen

 

 

Lohnbeiträge

7’855.7

7’944.1

Bundesbeitrag

568.6

618.0

Bundesbeitrag COVID-19

529.7

897.0

Kantonsbeiträge

189.5

182.8

Total Einnahmen

9’143.5

9’641.9

Ausgaben

 

 

Arbeitslosenentschädigungen

4’276.6

4’792.70

Kurzarbeitsentschädigungen

  581.0

897.30

Schlechtwetterentschädigungen

14.6

10.9

Insolvenzentschädigungen

31.2

21.1

Arbeitsmarktliche Massnahmen

551.5

610.2

Abgeltungen Bilaterale

203.0

201.8

Verwaltungskosten

784.9

832.7

Total Ausgaben

6’442.80

7’366.7

GEWINN

2’700.70

2’275.2

Eigenkapital per 31.12.

6’780.80

4’020.6

 

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