Ein neuer Justizskandal erschüttert Graubünden

Der Skandal um das Unterengadiner Baukartell ist noch nicht richtig aufgearbeitet, erschüttert ein weiterer Justizskandal das Vertrauen in die Bündner Justiz in ihren Grundfesten. Mehrere Medien, allen voran SRF und die REPUBLIK, werfen Norbert Brunner, dem Präsidenten des Bündner Kantonsgerichts vor, eigenmächtig ein Urteil abgeändert zu haben.

Gegen ihn sind Strafanzeigen hängig wegen Amtsmissbrauch und Urkundenfälschung. Aber nicht nur: Gegen Kantonsrichter Peter Schnyder, welcher den Vorgang zur Anzeige gebracht hat, soll nun die Bündner Justizkommission ein Amtsenthebungsverfahren durchführen. Das verlangt der Rest des Kantonsgerichts. Aber liegt der Justizskandal tatsächlich in der ungerechtfertigten Abänderung eines Urteils durch einen Gerichtspräsidenten? Oder vielleicht wo ganz anders?

REPUBLIK und SRF suggerieren grosses Kino

Aber beginnen wir die Geschichte so, wie sie uns nach übereinstimmend von der REPUBLIK und von SRF erzählt wird.

Am 15. Mai 2018 entscheidet die 1. Zivilkammer des Bündner Kantonsgerichts in der Besetzung Norbert Brunner (Präsident), Peter Schnyder, Davide Pedrotti und Linard Guetg (als Aktuar) über eine Erbschaftssache. In der ersten Fassung des Urteils wird einem Patrick Schmit aus der Erbschaft seines Vaters ein Betrag von CHF 535’044.25 zugesprochen. Gemäss Aussagen von Kantonsrichter Schnyder entsprach dieser Entscheid dem Ergebnis aus der Beratung des Richtergremiums.

In dem Urteil, das den Parteien am 20. August 2018 eröffnet wird, wird dann im selben Punkt des Urteilsdispositivs die Summe von CHF 537’539.75 nicht mehr an Patrick Schmit, sondern an die Erbin seines ehemaligen und unterdessen verstorbenen Rechtsanwalts Christian Clopath ausbezahlt. Das soll „gestützt auf die Abtretungserklärung vom 1. Juli 2013“ erfolgen. Hat also einfach ein Gerichtspräsident Patrick Schmit enterbt?

So einfach ist es nicht

Hintergrund: Schmit und sein damaliger Vertragen hatten gemäss den Gerichtsakten am 1. Januar 2013 einen Vertrag nach Art. 635 Abs. 2 ZGB unterzeichnet, in dem das folgende festgehalten worden war: „Sobald die beim Bezirksgericht Maloja seit 1. Juli 2013 hängige Klage betreffend Teilung des Nachlasses von Pierre Schmit sel. rechtskräftig ist, ist der Erbanteil von Patrick Schmit direkt an Rechtsanwalt Christian Clopath auszubezahlen. Dieser Vertrag wird in drei Exemplaren ausgefertigt, ej ein Exemplar für die Parteien und als Ausweis für die Ausbezahlung des Erbanteils.“ Dieser Abtretungsvertrag wurde dem Bezirksgericht Maloja am 23. Juli 2016 durch Anwalt Clopath zu den Akten gegeben. Weil das Bezirksgericht Maloja aber erstinstanzlich bereits am 15. Januar 2016 entschieden hatte und Patrick Schmit das Urteil an das Kantonsgericht weitergezogen hatte, leitete das Bezirksgericht den Abtretungsvertrag usanzgemäss am 29. Juli 2016 zu den Akten ans Kantonsgericht weiter.

Dies alles geht aus dem Urteil ZK1 19 6 des Kantonsgerichts Graubünden vom 29. Mai 2019 unzweifelhaft hervor. Unklar ist der Hintergrund dieser Abtretung: Hätte Anwalt Clopath einfach treuhänderisch über das Geld wachen sollen, während Schmit auf Weltreise war? Hatte Schmit den Anwalt aus dem Erbe bezahlen und sich einfach nur noch die Differenz zu den aufgelaufenen Anwaltskosten auszahlen lassen wollen? Wir wissen es nicht, die Medien berichten zu dieser Frage nichts.

Richter Schnyder wittert eine Verschwörung – und hat wohl selbst die Akten nicht richtig studiert

Mit dieser Abtretungserklärung geht der Sturm nun allerdings los. Einer der beteiligten Richter, Peter Schnyder, stösst der Punkt nämlich in die Nase. Er realisiert im März 2019, dass es offenbar zwei unterschiedliche Urteilsversionen gibt. Der quasi „geprellte“ Erbe Schmit hat nämlich über seinen Anwalt am 14. Januar 2019 ein Revisionsgesuch an das Gericht in Chur gestellt. Als Kantonsrichter Schnyder dieses Revisionsgesuch auf den Tisch bekommt, realisiert er, dass das Urteil in einem Punkt von dem abwich, was er damals mitentschieden hatte.

So zitiert die REPUBLIK-Reporterin Anita Conzett beispielsweise aus dem Schreiben von Kantonsrichter Peter Schnyder ans eigene Gericht im Zusammenhang mit dem Revisionsbegehren. Schnyder hatte in diesem Schreiben festgehalten, «Dass (sic!) (das Urteil) nach der Beratung (…) in einem wesentlichen Punkt geändert wurde, ohne dass eine weitere Beratung oder eine Zirkulation stattgefunden hätte». Und weiter schreibe Schnyder – so die REPUBLIK – , dass die Abtretungs­erklärung, die zur Änderung des Urteils führte, erst nach der Beratung des Richter­gremiums auftauchte – also für den Prozess nicht relevant sei. Zitat REPUBLIK: „Und er klagt an, dass das Dokument vom Aktuar nach Rücksprache mit Gerichts-präsident Brunner dennoch «ohne weitere Umstände» nachträglich ins Protokoll und Urteil aufgenommen wurde.“

Das wäre in der Tat starker Tobak. Nur: Wusste Schnyder wirklich nichts von dieser Abtretenserklärung und dem abgeänderten Urteil? Die Storyline der REPUBLIK insinuiert das, steht aber in verschiedenen Punkten einem direkten Widerspruch zur eigenen Darstellung und zu den Akten.

Die fragwürdige Rolle der Journalisten

So behauptet die REPUBLIK beispielsweise, diese Abtretungserklärung sei von den Parteien gar nie zu den Akten gegeben worden und hätte demzufolge gar nie berücksichtigt werden dürfen. Wörtlich: „Nur wurde die Abtretungs­erklärung von keiner der Prozess­parteien eingereicht – sie war also nicht offiziell Teil des Verfahrens. Schmit hatte folglich nie die Möglichkeit, sich dazu zu äussern, was an sich schon unzulässig ist.“

Diese Darstellung der REPUBLIK ist schlicht Fake News. Wie oben bereits mit Bezug auf die Gerichtsakten dargestellt, hatte das Kantonsgericht Graubünden diese Eingabe am 29. Juli 2016 erhalten und zu den Akten genommen. Auch die Behauptung von Conzett, keine der Prozessparteien hätte sie eingereicht, ist schlicht falsch, wie das Gerichtsurteil vom Mai 2019 beweist. Es war sogar Schmits Anwalt selbst, der das Dokument eingereicht hatte. Und dass bei einem Weiterzug an die nächsthöhere Instanz alle Akten weitergehen, liesse sich mit einer einfach Recherche erstellen.

Noch absurder ist die Behauptung, Schmit habe gar nie Stellung nehmen können zu dem Dokument. Nachdem er (bzw. sein Anwalt, was prozessual aber auf dasselbe herauskommt) es selbst eingereicht hatten.

Brunners Argumente wirken schlüssig

Der Artikel der REPUBLIK verlinkt aber immerhin zu einem Dokument, in dem Kantonsgerichtspräsident Brunner auf verschiedende Vorhalte Stellung nimmt. In einer Frage, welche Brunner offenbar von den Medienschaffenden gestellt worden war, heisst es explizit: „Warum kannten Sie als Vorsitzender im Verfahren das seit langem in den Akten liegende Dokument nicht?“

Brunner antwortet darauf: „Ich gehe davon aus, dass Sie die oben erwähnte Abtretungserklärung meinen. Das Verfahren mit mehrfachem Rechtsschriftenwechsel etc. dauerte relativ lange. Das Dokument wurde unter die Prozesskorrespondenz abgelegt, welche in der Regel für die Entscheidfindung nicht massgebend ist. Die vollständigen Akten werden bei einem Referat vorgängig allen Richtern zum Studium zugestellt. Vor der Beratung wurde das Dokument offenbar von keinem wahrgenommen.“

Brunners Darstellung korrespondiert mit den Aussagen im Urteil, womit sich gleich eine ganze Reihe von Vorwürfen der Medien in Luft auflösen. Hingegen stellen sich einige kritische Fragen an die Medienschaffende: Oder warum kann die REPUBLIK einerseits behaupten, die Abtretungserklärung sei gar nie Teil des Verfahrens gewesen und dem Gerichtspräsidenten Brunner gleichzeitig vorwerfen, warum er sich bei der Beratung der Erklärung, die schon lange bei den Akten gelegen habe, nicht bewusst gewesen sei?

Während die Darstellung von Schnyder ausführlich Eingang in den Artikel der REPUBLIK findet, um der Skandalisierung Vorschub zu leisten, wird die Replik von Brunner unterschlagen. Conzett gibt einzig weiter, dass Brunner den Vorwurf bestreitet, dass das revidierte Urteil nicht noch einmal in Zirkulation ging. Dazu schreibt Brunner in dem verlinkten Dokument wörtlich: „Mit der Mitteilung des Hauptentscheides ging ein Exemplar dieses Entscheids bei allen Richtern in Zirkulation zur Kenntnisnahme, auch bei Richter Schnyder. Es erfolgten keine Einwände.

Auch das wirft kein gutes Licht auf Kantonsrichter Schnyder. Offenbar sind ihm mehrfach Akten durch die Latten gegangen. Seine Behauptung, die Abtretenserklärung sei erst nach der Beratung zu den Akten gekommen, ist falsch: sie lag schon zwei Jahre da. Und offenbar hat er auch den Zirkularversand des redigierten Urteils übersehen.

Aus dem heldenhaften Whisteblower würde so ganz plötzlich ein gewöhnlicher Kantonsrichter, der am Ende einfach die Akten selbst nicht so ganz genau studiert hatte und wie offenbar alle involvierten Richter und auch der Schreiber den Überblick über die Akten zum Zeitpunkt der Urteilsberatung schlicht nicht hatte.

Gleichwohl: Wie seriöse Arbeit wirkt das nicht

Deshalb lässt sich aus dem Disput eines sehr wohl herauslesen: Offenbar erfolgen die Urteilsberatungen am Kantonsgericht Graubünden eher freihändig als gestützt auf die Faktenlage. Das bestätigt Brunner indirekt in seiner Stellungnahme an die Redaktion von 10VOR10:

„Die Kammer erteilte nach der Beratung der Hauptpunkte des Verfahrens dem Vorsitzenden und dem Aktuar den Auftrag, das Urteil zu bereinigen und das Urteilsdispositiv zu formulieren. Dies geschah in der Vergangenheit in hunderten von Fällen.“ Und während die REPUBLIK höhnt, Brunner prahle noch, damit zur erfolgreichen Rechtsprechung beigetragen zu haben, liegt der Gerichtspräsident damit vielleicht noch gar nicht so falsch. Er sagt ja nichts weiter aus, als dass wenigstens einer des erlauchten Gremiums die Akten dann doch noch einmal genau(er) anschaut, bevor ein Urteil verschickt wird.

Der Skandal ist damit nicht vom Tisch. Im Zentrum steht aber nicht ein eigenmächtiger Gerichtspräsident, der sein Amt missbraucht und Urteile eines Spruchkörpers eigenmächtig umstösst. Das hat Brunner nicht getan. Er hat lediglich die Zahlstelle für die Erbschaft angepasst. Darauf verweist auch das Urteil im Revisionsbegehren, das übrigens abgewiesen wurde: Das Kantonsgericht hält darin noch einmal fest, dass unbestritten sei, dass Patrick Schmit ein Erbe erhalte über eine halbe Million. Dass aufgrund der Akten die Zahlstelle aber der Anwalt respektive dessen Erbin sei, und Schmit dort vorstellig werden müsse.

Der Skandal liegt an einem anderen Ort: Dort nämlich, dass Richter ganz offensichtlich zum Zeitpunkt einer Urteilsbegründung die Akten nicht studiert haben und keine Übersicht darüber haben, was dort alles steht. Brunner argumentiert, die Prozesskorrespondenz sei nicht der Schlüssel für das Urteil. Wie bitte?

Das ehrenwerte Gericht entscheidet, ohne den Schriftwechsel studiert zu haben? Und dafür wollen sie dann unser Vertrauen?