Der verschleppte Konkurs 1. Akt

Bisher dachten wir, nur UBS und Nestlé seien höchstens systemrelevant und dürften nicht pleite gehen. Welch ein Irrtum! Im Kanton Appenzell Ausserrhoden, und nicht nur dort, erweist sich eine Bilanzdeponierung als unmögliches Unterfangen und verhindert, dass ein Unternehmen unter Beachtung von Art. 725b OR nach Art. 192 SchKG den Konkurs über sich eröffnen lassen kann. Erster Akt:  Der verschleppte Konkurs

Die Bilanzdeponierung ist ein Massengeschäft. Ist eine Gesellschaft überschuldet (vollständiger Verzehr des Eigenkapitals), muss der Konkursrichter angerufen werden. Die Anrufung des Konkursrichters kann nur unterbleiben, wenn die Gesellschaftsgläubiger im Umfang der Unterdeckung einen Rangrücktritt erklären.

Inside Justiz hat dem Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden einen Fragenkatalog zur Bilanzdeponierung zugestellt, der von der Gerichtspräsidentin lic.iur. Caroline Nordin-Lüssi beantwortet wurde. Inside Justiz fragte auch bei der Gläubigerin Swica nach, was diese jedoch unkommentiert liess.

Dank den Antworten von Richterin Nordin-Lüssi haben wir die seltene Gelegenheit, über ein Prozessthema ausserhalb eines Gerichtsverfahrens in einen Diskurs einzutreten und beide Sichtweisen (Gericht und Beobachter) zu behandeln.

Bilanzdeponierung

Ist ein Unternehmen zahlungsunfähig oder gar überschuldet, so sind gemäss Art. 725 ff. OR unverzüglich die notwendigen Massnahmen zu treffen. Diese Bestimmung gilt auch für Gesellschaften mit beschränkter Haftung (Verweis auf Art. 820 OR).

Die Hinterlegung der Bilanz nach Art. 192 SchKG ist für die betroffene Gesellschaft kostenlos. Der Konkursentscheid ist für das Gericht eine Art «Massengeschäft» und wird redaktionell über weite Strecken im Copy-Paste-Verfahren abgewickelt, d.h. der Aufwand für das Gericht ist denkbar gering. Bleibt das Unternehmen bzw. dessen Organe untätig, droht eine strafrechtliche Sanktion wegen Misswirtschaft (Art. 165 StGB in Form der Konkursverschleppung).

Seit ca. 2015 ist es Praxis der Strafverfolgungsbehörden, jeden Konkurs auf seine strafrechtliche Relevanz zu prüfen. Die Konkursämter sind verpflichtet, im Zweifelsfall Strafanzeige zu erstatten. Die Organe sind daher gut beraten, bei drohender oder bereits eingetretener Überschuldung rasch zu handeln.  Passives Abwarten führt direkt zur Justiz, was selten zu positiven Erfahrungen führt.

Kantonsgericht Appenzell Ausserrhoden

Inside Justiz liegen nun die Akten einer Gesellschaft (GmbH) mit einem Stammkapital von CHF 20’000 vor, die eine Überschuldung von mindestens CHF 100’000 ausweist. Die liquiden Mittel betragen gerade noch +/- CHF 100.00. Allein der Jahresverlust 2023 beträgt CHF 105’00.00! Eigentlich also ein klarer Fall für den Konkurs.

Die Gesellschaft hat am 30. Januar 2024 beim Kantonsgericht Appenzell AR die Bilanzdeponierung angezeigt und die Konkurseröffnung beantragt, um weitere Gläubigerschädigungen zu vermeiden. In dieser Eingabe führt die Gesellschaft aus, dass die operative Tätigkeit bereits im Laufe des Jahres 2023 definitiv eingestellt wurde.

Als Beilagen zum Nachweis der Überschuldung wurden u.a. der Jahresabschluss 2023 (Bilanz und Erfolgsrechnung), das Protokoll der Gesellschafterversammlung, die Kreditorenliste beigelegt.  Die Gesellschaft ist nicht revisionspflichtig (Opting-out-Erklärung) und verfügt über keine ordentliche Revisionsstelle. Üblicherweise wird nach der Bilanzdeponierung innert drei Tagen der Konkurs eröffnet. Nicht so im Kanton Appenzell Ausserrhoden.  Dort passiert zunächst gar nichts.

Das Gericht erscheint, aber anders als erwartet…

Nach rund zwei Wochen fragt die Gesellschaft mit Schreiben vom 14. Februar 2024 beim Gericht an, bis wann mit der Konkurseröffnung zu rechnen sei.  Daraufhin erfolgt nicht etwa die überfällige Konkurseröffnung, sondern die zuständige Einzelrichterin (lic.iur. Caroline Nordin-Lüssi) erlässt tags darauf, am 16. Februar 2024, eine Verfügung, die es in sich hat! So verlangt Richterin Nordin-Lüssi innert 20 Tagen einen unterzeichneten, aktuellen Zwischenabschluss sowie den Bericht eines zugelassenen Revisors über die Prüfung dieses Zwischenabschlusses.

Vor dem Hintergrund der Betriebseinstellung im Jahr 2023 bringt ein provisorischer Zwischenabschluss für den Zeitraum Januar bis Februar 2024 offensichtlich keinen Informationsgewinn. Vielmehr ist davon auszugehen, dass in diesem Zeitraum keine Buchungsvorgänge vorliegen. Die kostenpflichtige Beauftragung eines Wirtschaftsprüfers bei nicht vorhandener Liquidität ist ein hoffnungsloses Unterfangen und ein Witz ohne Erkenntnisgewinn.

Selbst wenn ein Revisor mandatiert würde, wäre ein abschliessender Revisionsbericht innerhalb dieser 20 Tage ebenfalls nicht möglich, was zu weiterem Zeitverlust und einer weiteren Erhöhung der Gläubigerschädigung führen würde. Art. 725b OR schreibt zwar normativ den Beizug eines Revisors auch bei fehlender Revisionsstellenpflicht (Opting Out) vor. Nach Lehre und Rechtsprechung handelt es sich bei dieser Bestimmung jedoch um eine reine Schutzbestimmung zugunsten der Gläubiger. Sinn und Zweck ist, dass die Bilanz nicht geschönt wird.

Bei offensichtlicher Überschuldung (vollständiger Verzehr des Stammkapitals durch aufgelaufene Verluste) und vor dem Hintergrund fehlender Liquidität kann jedoch nach Lehre und Rechtsprechung auf den Revisionsbericht verzichtet werden. Der Vorgang ist nicht mehr nachvollziehbar. Unverständlich ist auch, dass die kostenpflichtigen Betreibungen weiterlaufen und das Betreibungsamt weiterhin unnütze Aktivitäten generieren muss. Unnötig deshalb, weil bei der Gesellschaft mangels Vermögen nichts zu holen ist.

Was sagt das Gericht dazu?

Inside Justiz stellte dazu zwei Fragen:

Wird bei offensichtlicher Überschuldung und fehlender Liquidität trotzdem ein kostenpflichtiges Gutachten verlangt? Welchen Informationsgewinn verspricht sich das Gericht davon? und Wer muss die Kosten des Prüfers tragen, wenn die Gesellschaft selbst illiquide ist?

Antwort von Richterin Nordin-Lüssi auf Frage 1

Bei offensichtlicher Überschuldung verlangen wir keinen Prüfungsbericht. Das Problem liegt aber darin, dass nach unserem Verständnis die Offensichtlichkeit nicht bereits gegeben ist, wenn lediglich eine vom Verwaltungsrat erstellte Zwischenbilanz eingereicht wird. In solchen Fällen verlangen wir routinemässig einen Revisionsbericht. Ob der Revisionsbericht aus Geldmangel oder schlicht aus Unkenntnis (was häufig vorkommt!) nicht eingereicht wurde, können wir bei Gesuchseingang nicht beurteilen. Wenn uns der Vorstand mitteilt, dass die finanziellen Mittel fehlen, fordern wir alternative Unterlagen an, um die Offensichtlichkeit zu prüfen. Wenn die finanziellen Mittel für einen Prüfungsbericht vorhanden sind, halten wir daran fest und verzichten nicht wegen „Unverhältnismässigkeit“ darauf, wenn wir sonst keine weiteren Unterlagen als den ungeprüften Zwischenabschluss haben.

Antwort von Frau Nordin-Lüssi auf Frage 2

Die Aktionäre oder der Verwaltungsrat haben die Möglichkeit, der Gesellschaft die Kosten für die Erstellung eines Revisionsberichtes aus privaten Mitteln vorzuschiessen, wenn ihnen die Gläubigerinteressen wichtig genug sind.

Was sagt Inside Justiz dazu?

Die Einholung eines Revisionsberichts ist bei offensichtlicher Überschuldung nicht erforderlich. Es ist nicht ersichtlich, welchen zusätzlichen Informationsgewinn dieser Revisionsbericht bringen soll. Auch der Prüfer wird lediglich die Überschuldung feststellen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass vom Revisionsbericht nicht zu viel erwartet werden kann, insbesondere gehört die Suche nach allfälligen deliktischen Handlungen nicht zum Prüfungsumfang des Revisors. Bei einem Verzicht auf die eingeschränkte Revision (Opting-out) die Möglichkeit ins Spiel zu bringen, dass die Aktionäre oder die Geschäftsleitung die Kosten der Revisionsstelle übernehmen können, geht an der Sache vorbei.  Dafür fehlt die gesetzliche Grundlage.

Lesen Sie hier Teil zwei unseres Konkurskrimis

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