Das Freudenberger Kommunikationsdesaster

Deutschland ist seit Tagen schockiert. In Freudenberg, tief im Süden von Nordrhein-Westfalen und direkt an der Grenze zu Rheinland-Pfalz, wurde am letzten Samstagabend die 12-jährige Luise vermisst. Am Sonntag die schreckliche Gewissheit: Das Kind wird in einem nahen Wald in Rheinland-Pfalz gefunden. Tot, übersät mit 32 Messerstichen.

Den Untersuchungsbehörden gelang rasch der Durchbruch, auch wenn dieser ganz Deutschland in Schockstarre versetzt. Der Tat überführt wurden zwei Mädchen, zwölf und 13 Jahre alt, «aus dem Bekanntenkreis des Opfers», wie die Ermittler sagen. Weil die Kinder noch keine 14 Jahre als sind, sind sie nach deutschem Jugendstrafrecht nicht schuldfähig und können für die Tat strafrechtlich nicht belangt werden.

Am Dienstag informieren die Untersuchungsbehörden des eigentlich schon nicht mehr zuständigen Landkreises Koblenz, wobei der leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler mehrfach die Aussagen verweigert, wenn es um Fragen nach dem konkreten Ablauf, zu den Hintergründen der Täterschaft oder um das Motiv geht. Mehrfach verweist er auch auf den Persönlichkeitsschutz der Täterinnen, der es ihm verunmögliche, diese Informationen publik zu machen. Die Öffentlichkeit erfährt deshalb nicht, warum Luise sterben musste und die Täterinnen auf ihre Kollegin eingestochen haben. Sie erfahren nicht, ob die Mädchen alle zur selben Schule gingen oder ob die Täterinnen jetzt in einem Jugendheim untergebracht wurden. Nur schon die Information, dass das Tatwerkzeug oder die Tatwerkzeuge noch nicht gefunden worden sind, muss den Behördenvertretern von den Medienschaffenden aus der Nase gezogen werden. Es ist von einem oder mehreren Messern die Rede, die lokale Siegener Zeitung berichtet dagegen, sie hätte aus Ermittlerkreisen erfahren, dass es sich beim Tatwerkzeug um eine Nagelfeile handle. Auch auf die Frage, ob beide Täterinnen gleichermassen zugestochen hätten oder eine «nur» dabei gewesen wäre, erhält die Öffentlichkeit keine Antwort.

Begründet wird die Zurückhaltung mit dem Argument, dass die Täterinnen selbst noch Kinder seien, und mit dem Respekt gegenüber den Angehörigen der Betroffenen.

Mit Verlaub: Dieser Kommunikationsansatz der deutschen Behörden ist schlicht längst überholt und komplett kontraproduktiv. Falls gesetzliche Vorgaben die Geheimniskrämerei tatsächlich gebieten sollten, dann gehören die entsprechenden Paragraphen novelliert und die Behörden endlich an die Kommunikationsrealität des 20. Jahrhunderts herangeführt. Und die besteht nun einmal darin, dass die Öffentlichkeit verstehen möchte, was da passiert ist und warum. Denn nur so kann es den Menschen gelingen, die Ereignisse für sich selbst einzuordnen. Und nur so können Gerüchte verhindert werden, wie sie in den Social Media Kanälen natürlich sofort ins Kraut schossen und auch in den Massenmedien kolportiert wurden.

Warum sich die deutschen Strafverfolgungsbehörden der Öffentlichkeit verweigern, ist schwer nachvollziehbar. Zunächst ist nicht einsichtig, warum die Bekanntgabe des Tatmotivs die Persönlichkeitsrechte der Täterinnen verletzen sollte. Zum einen verlangt keine ernsthafte Stimme, dass die Behörden Lebensläufe oder Namen der Täterinnen publizieren. Und wenn die Behörden befürchten, mit Details zum Tatgeschehen oder zu den Motiven würden die zwei Mädchen identifizierbar – diese geistern ja in solchen Fällen regelmässig nach kurzer Zeit sowieso schon durch die Social Media Kanäle. Und das erst recht in einer kleinen Stadt wie Freudenberg. Bereits am Mittwochmorgen waren mit wenig Recherchearbeit nicht nur der Familienname des Opfers in Erfahrung zu bringen, sondern auch die Insta- und Tiktok-Profile der Täterinnen. Publik gemacht hatten sie die Schulkameraden der drei Schülerinnen, die alle drei in die gleiche Klasse 7d an der lokalen Esther-Bejarano-Gesamtschule gingen.  

Gerne werden Forderungen nach mehr Transparenz von den Behörden damit abgeschmettert, dass es nicht Aufgabe der Behörden sei, die persönlichen Neugierde der Menschen zu befriedigen. Nur: Es geht hier eben nicht um Neugier, sondern darum, dass die Menschen, schockiert von dem Ereignis, versuchen wollen, den Vorgang zu verstehen. Und das können sie nur, wenn sie die Umstände einer solchen Tat auch erfahren.

Besonders bedenklich: Trotz dem so hochgehaltenen Persönlichkeitsschutz blieben die Social Media Accounts der involvierten Mädchen bis am Mittwochnachmittag offen – offenbar hatte bei den Untersuchungsbehörden niemand an das Offensichtlichste gedacht und dafür Sorge getragen, diese Accounts zu schliessen. Unter einem Tik-Tok-Video, dass die unterdessen als Haupttäterin identifizierte Luisa Z. noch am Tattag des letzten Samstags hochgeladen haben muss, sammelten sich denn auch schnell Hass-Posts mit teils sehr problematischen Inhalten. Auf Twitter wurden Screenshots des Accounts herumgereicht, die zeigten, die das Opfer die Beiträge ihrer Mörderin regelmässig geliked hatte.

Natürlich dauerte es auch nicht lange, bis die Medien nachlieferten, was die Behörden verpasst hatten. Schon vier Stunden nach der Medienkonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft wusste FOCUS.DE, dass das Motiv für die Tat wohl Rache gewesen sein dürfte: Die Mädchen hätten sich gestritten, das spätere Opfer sich über eines der anderen Mädchen lustig gemacht.  Noch einmal vier Stunden später meldet BILD.DE, bei den Täterinnen handle es sich um Klassenkameradinnen des Opfers. Die Boulevardzeitung zieht diese Geschichte zwar wenig später zurück, der Sachverhalt wird dafür dann von RTL übernommen – im TV ebenso wie im Internet. Und 24 Stunden nach der Medienkonferenz legt BILD.DE noch einen drauf. Das Online-Portal der Boulevardzeitung schreibt, die Haupttäterin, das 13-jährige Mädchen, sei die beste Freundin des Opfers gewesen – und das Mädchen, mit dem Luise den Samstag verbracht hatte. Die zweite Täterin sei dann irgendwann am Samstag dazu gekommen und von dem älteren Mädchen zur Beihilfe gezwungen worden. Einige Medien behaupten auch, die Getötete habe von Freitag auf Samstag gar bei der späteren Mörderin übernachtet – eine Information, die andere Medien aber nicht übernehmen.

In der lokalen Siegener Zeitung, die über den Fall umfassend, aber auch reflektiert berichtet, beklagt am Donnerstag ein Polizeisprecher, in den sozialen Netzwerken würden von teils anonymen Nutzern zahlreiche Spekulationen veröffentlicht. «Es gehen sehr, sehr zügig auch Falschinformationen durchs Internet – und vieles deckt sich einfach nicht mit unseren Ermittlungen», soll der Sprecher gemäss der Zeitung gesagt haben. – Nun, daran hat die Geheimniskrämerei der Behörden einen wesentlichen Anteil.

Gerüchte und Medienspekulationen füllen in jedem solchen Fall die Lücken, die durch eine übertriebene Zurückhaltung in der Behördenkommunikation offenbleiben. Medien-vertreterinnen und -vertreter machen sich von sich aus auf die Suche nach Erklärungen. Dass sie dabei bisweilen wenig zimperlich vorgehen ist notorisch, wird durch die Geheimniskrämerei der Behörden aber nachgerade provoziert. Wenn es den Behörden denn ernst wäre mit dem Postulat, die Betroffenen zu schützen, wäre es wesentlich zielführender, offener zu informieren und damit den Medienschaffenden die Recherchen im Umfeld der Betroffenen zu ersparen.

Und womöglich würde das auch den Indiskretionen «aus Justizkreisen» den Boden entziehen. Wenn nämlich an der offiziellen Medienkonferenz die meisten Fragen offengelassen werden, in den Tagen darauf aber regelmässig Details publiziert werden, bei denen die Medienschaffenden auf anonyme Quellen aus den Ermittlerkreisen verweisen, dann ist die ganze Angelegenheit, bei aller Tragik, einfach nur noch eines: Peinlich.

 

 

 

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