Das sagt der ehemalige Polizeiausbilder zum Fall Ben Mike Peter

Im Fall des verstorbenen Mike Ben-Peter wurde in den Medien heftig darüber gestritten, ob die Lausanner Polizisten übermässige Gewalt ausübten oder so lange auf den Rücken des Mannes gekniet waren, bis er einen Herzstillstand erlitt – und ob es sich um einen Fall von Racial Profiling handelt. Peter-Martin Meier war von 2005 bis 2013 Direktor des Schweizerischen Polizeiinstituts in Neuchâtel, der nationalen Kaderschmiede der Schweizer Polizei. Er sagt im Interview: Tritte in die Genitalien gehen gar nicht.

Peter-Martin Meier, wie soll eine Polizei-Patrouille gemäss Lehrbuch vorgehen, wenn sie auf eine Person trifft, die sie des Drogenhandels verdächtigt?

Das kommt auf die Umstände an – ob zum Beispiel ein Verkauf oder ein Verstecken von Ware in flagranti beobachtet wurde, oder ob der Verdacht bloss auf einem ungewöhnlichen Verhalten beruht. Grundsätzlich wird die Person aber erst einmal angesprochen und aufgefordert, ihre Identität bekannt zu geben.

Wenn ein Polizist alleine auf einen Verdächtigen trifft, den er als körperlich übermächtig wahrnimmt: Was sollte der Polizeibeamte gemäss Lehrbuch tun?

Auch hier kommt es – wie oben – auf die Umstände an. Die Person im Auge zu behalten und Verstärkung anzufordern, bevor Kontakt aufgenommen wird, ist sicher nicht falsch.

In dem Lausanner Fall war ein Polizeibeamter gemäss Akten bei der Konfrontation mit dem Verdächtigen zunächst alleine – was uns erstaunt. Wir dachten, Polizisten und Polizistinnen sollten – auch zu deren Sicherheit – immer zu zweit sein?

Das ist im Alltag nicht immer möglich, aber natürlich anzustreben – insbesondere nachts in einer Stadt.

Der Verdächtige wurde als gross und übergewichtig geschildert, aber nicht als sportlich. Müsste ein Polizeibeamter nicht in der Lage sein, einen solchen Verdächtigen zu neutralisieren, ohne ihn an Leib und Leben zu gefährden?

Es geht nicht darum, eine Person zu neutralisieren, sondern sie anzuhalten oder sogar in Gewahrsam zu nehmen. Letzteres wird in der Regel mindestens zu zweit unternommen, um den Verdächtigen festhalten zu können, ohne im Schaden zuzufügen.

Am Prozess wurde klar, dass der Verdächtige zwar renitent war, aber nicht gewalttätig gegenüber den Polizeibeamten. Er habe die Polizisten auch nicht bedroht, aber sich geweigert, zu kooperieren. Wie soll man da als Polizist – gemäss Lehrbuch – vorgehen?

Wenn Festhalten nicht genügt, kommt ein spezieller Griff zu Einsatz, um dem Verdächtigen auf dem Rücken Handfesseln anzulegen. Allenfalls muss die Person dazu zu Boden gebracht werden. Dabei ist darauf zu achten, dass sie nur kurze Zeit auf dem Bauch liegen bleibt.

Die Polizisten bestreiten, dass sie auf den Rücken des Verdächtigen gekniet seien, um ihn zu fixieren, als er auf dem Bauch lag. – Einer der Polizisten soll gemäss Anklageschrift die anderen sogar noch darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie das nicht tun dürfen, um den Mann nicht zu gefährden. Was hat es mit dieser Bauchlage zu tun? Darf sie angewendet werden oder nicht?

Wie gesagt, soll die gefesselte Person nur kurze Zeit auf dem Bauch liegen bleiben.

Hat sich die Praxis in Bezug auf diese Bauchlage über die Zeit geändert?

Nach einem Todesfall in den USA, der offenbar auf eine Bauchlage unter Belastung zurückzuführen war, wird die Schweizer Polizei seit vielen Jahren so ausgebildet, dass sie Bauchlagen möglichst vermeidet.

Es ist offenbar unbestritten, dass einer oder mehrere der Polizisten den Verdächtigen mit Tritten in die Genitalien überwältigen wollten. Ist das eine Polizeitaktik, die das Lehrbuch vorsieht?

Nein!

Weiter heisst es, die Polizisten hätten auch noch auf den Mann eingeschlagen, als er bereits mit Handschellen auf dem Boden lag – er habe sich auch zu diesem Zeitpunkt noch gewehrt. Können Schläge unter solchen Umständen gerechtfertigt sein?

Sicher nicht.

Private Sicherheitsfirmen bilden ihr Personal heute häufig in «Krav Maga» aus, einem israelischen Selbstverteidigungssystem, bei dem gelehrt wird, wie ein Angreifer neutralisiert werden kann. Werden solche Kampfsporttechniken in den Polizeikorps nicht angewendet?

In der Polizeiausbildung werden Selbstverteidigungstechniken geschult, die von verschiedenen Sportarten abgeleitet sind.

Der Fall geschah schon 2018 – man fragt sich auch: Wäre das nicht ein Fall für den Taser gewesen? Oder hatte die Lausanner Polizei diese Geräte noch gar nicht?

Ohne eine Aggression von Seiten des Verdächtigten soll der Taser nicht eingesetzt werden.

Bei einem solchen Einsatz ist wohl immer viel Adrenalin im Spiel. Kann man Polizisten in der Ausbildung schulen, dass sie bei solchen Einsätzen die Ruhe bewahren – oder ist das eine Persönlichkeits- oder Charaktersache, die man bei der Auswahl der Polizistinnen und Polizisten berücksichtigen muss?

Alle Schweizer Polizeikorps schulen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter psychologisch so, dass sie lernen, deeskalierend zu handeln und Ruhe zu bewahren, was je nach Situation aber dennoch schwierig werden kann.

Wenn Polizistinnen und Polizisten, die in einer lokalen Drogenszene immer wieder mit Verdächtigen einer bestimmten Nationalität oder Farbe zu tun haben, besteht wohl ein Risiko, dass sich Vorurteile bilden, die zu einem «Racial Profiling» führen. Wie begegnet man dieser Thematik bei der Polizei?

Auch in dieser Beziehung sind die Schweizer Polizeikorps seit einiger Zeit gut sensibilisiert und es wurden auch Massnahmen ergriffen, damit Vorwürfe in dieser Richtung grundlos sind.

Wo liegt die Grenze zwischen einem gezielten polizeilichen Vorgehen und Racial Profiling?

In der Romandie sind innerhalb recht kurzer Zeit vier schwarze Personen in Auseinandersetzungen mit der Polizei gestorben. Das führt zu teilweise heftigen politischen Protesten – und auch bei einer differenzierten Betrachtungsweise irritieren diese Zahlen schon. Ist die Westschweizer Polizei rassistisch?

«Racial Profiling» bezieht sich auf die Selektion von zu kontrollierenden Personen, nicht aber auf die Art von deren Behandlung. Der Romandie oder deren Polizei Rassismus vorzuwerfen, ginge zu weit. Gewisse Bevölkerungskreise sind nun einmal stärker in den Drogenhandel oder in andere Delikte involviert. Diese werden im Sinne der öffentlichen Sicherheit gezielt kontrolliert.

Gibt es Unterschiede in der Ausbildung der verschiedenen kantonalen Polizeikorps bei diesem Thema? Oder werden überall in der Schweiz dieselben Inhalte ausgebildet?

Wie gesagt: die Schweizer Polizeikorps sind seit einiger Zeit gut sensibilisiert und es wurden auch Massnahmen ergriffen, damit Vorwürfe in dieser Richtung grundlos sind.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert