Der Fall Raiffeisen: 10 Fragen, 10 Antworten

Der «Fall Raiffeisen» gibt viel zu reden. Die Kommenspalten der Online-Portale quellen über, nachdem das Zürcher Obergericht das erstinstanzliche Urteil des Bezirksgerichts Zürich kassiert hat. Die Kommentare werfen verschiedene Fragen auf. Wir nehmen einige davon auf.

 

1.)
Sind Pierin Vincenz, Beat Stocker und die weiteren Mitangeklagten jetzt aus dem Schneider und werden für ihre Taten nicht bestraft?

Nein. Diese Frage ist offen. Das Zürcher Obergericht hat lediglich zu formellen Fragen einen Entscheid gefällt. Das Urteil besagt, dass wichtige Verfahrensrechte missachtet wurden und der Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich damit unfair war. Deshalb muss die Staatsanwaltschaft eine neue Anklageschrift verfassen und der ganze Prozess muss wiederholt werden. Es kann aber gut sein, dass auch der neue Prozess mit einem Schuldspruch endet.

2.)
Warum kann eine Anklageschrift zu lange sein – wenn halt der Sachverhalt so komplex ist?

Das Strafrecht kennt klare Verfahrensregeln, und die formellen Anforderungen an eine Anklageschrift sind unter Strafrechtlern ein viel diskutiertes Thema, zu dem massenweise Literatur vorliegt. Ein zentraler Grundsatz ist, dass eine Anklageschrift ein strafbares Verhalten nur behaupten, und nicht beweisen soll. Für die Anklageschrift wird verlangt, dass der Staat klipp und klar darlegt, was genau er einer Beschuldigten Person vorwirft und mit welchen Handlungen (oder Unterlassungen) welcher Straftatbestand erfüllt wurde.

Wichtig zu wissen ist in diesem Zusammenhang, dass die Anklageschrift ja als erstes beim Gericht eingeht und als erstes vom Gericht gelesen und geprüft wird (oder werden sollte) – lange bevor also die Verteidigung am Gericht ihre Argumente präsentieren kann. Auch deshalb wird verlangt, dass die Anklageschrift kurz und knapp sein soll – damit soll ausgeschlossen werden, dass das Gericht sich bereits ein Urteil bildet, ohne dass es die Verteidigung überhaupt gehört hat.

Dass die Anforderungen an die einzelnen Verfahrensschritte präzise definiert sind, ist deshalb richtig und wichtig für alle Bürgerinnen und Bürger. Das dient dem Gedanken des «Fair Trials», dass also Beschuldigte auch eine faire Chance haben, sich gegen die erhobenen Vorwürfe zu wehren.

Was viele Kommentatoren nicht verstanden haben: Die Anklageschrift ist nur ein Element der Arbeit des Staatsanwalts und nicht abschliessend. In den später zu haltenden Plädoyers kann die Staatsanwaltschaft sehr wohl noch im Detail auf einzelne Sachverhalte eingehen. Nur eben nicht in der Anklageschrift.

3.)
Ist das ein Fall von «Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen»?

Nein. Das Urteil des Zürcher Obergerichts ist für alle Bürgerinnen und Bürger ein gutes Urteil. In einem Strafverfahren tritt immer die volle Macht des Staates mit seinem ganzen Repressionsapparat gegen einen einzelnen Bürger auf. Und egal, wie prominent oder reich ein einzelner Beschuldigter auch ist: Er ist gegenüber der Macht des Staates immer unterlegen. Auch der ehemalige Raiffeisen-CEO und sein Wegbegleiter sassen beispielsweise mehrere Monate in Untersuchungshaft – das heisst: komplette Isolation, Kontakt nur mit dem Rechtsanwalt und den Ermittlungsbehörden, und das auf unbestimmte Zeit. Weil der Staat eine so grosse Macht hat, ist es von grosser Bedeutung, dass klare Regeln gelten, wie Strafverfahren ablaufen müssen.

Im vorliegenden Fall haben der Staatsanwalt und das Bezirksgericht Zürich diese Regeln missachtet. Dass die nächsthöhere Instanz nicht einfach die Kollegen schützt, die ja beim selben Kanton Zürich angestellt sind, sondern ihre Verfehlungen tadelt, ist ein gutes Zeichen für den Rechtsstaat.

4.)
Dass ein Beschuldiger eine Übersetzung der Anklageschrift ins französische verlangte, ist doch absurd. Er hat ja zwei hochdotierte deutschsprachige Verteidiger und ausreichend Geld, um selbst eine Übersetzung in Auftrag zu geben?

Das Obergericht sagt zu diesem Punkt klar und eindeutig, es handle sich um eine Bringschuld des Staates, der einen Bürger eines Deliktes beschuldige und verweist dabei auf die zwingende Vorschrift von Artikel 68 Abs. 2 StPO.

Dieser Artikel der Strafprozessordnung besagt: «Der be­schul­dig­ten Per­son wird, auch wenn sie ver­tei­digt wird, in ei­ner ihr ver­ständ­li­chen Spra­che min­des­tens der we­sent­li­che In­halt der wich­tigs­ten Ver­fah­rens­hand­lun­gen münd­lich oder schrift­lich zur Kennt­nis ge­bracht. Ein An­spruch auf voll­stän­di­ge Über­set­zung al­ler Ver­fah­rens­hand­lun­gen so­wie der Ak­ten be­steht nicht.»

Das Obergericht hält dazu fest, dass die Anklageschrift auf jeden Fall zu den «wesentlichen Inhalten der wichtigsten Verfahrenshandlungen» gehöre und deshalb zwingend hätte übersetzt werden müssen.

5.)
Warum muss das Urteil gleich vollständig aufgehoben werden wegen der fehlenden Übersetzung – man hätte das doch vor Obergericht noch korrigieren können?

Tatsächlich unterscheidet das Strafrecht zwischen «heilbaren» und «nicht heilbaren» Verfahrensfehlern im Strafprozess. Die Rechtspraxis in diesem Punkt ist allerdings der verstandesmässigen Logik nicht zugänglich. Das Zürcher Obergericht schreibt zum vorliegenden Falle – nachvollziehbar -, dass einem Beschuldigten ja quasi eine Instanz «verloren» ginge, wenn er sich nicht verteidigen könnte, weil er gar nicht verstehe, was ihm eigentlich vorgeworfen werde und er sich daher auch gar nicht richtig verteidigen könne.

Gleichzeitig beschreibt das Obergericht als Beispiel für einen «heilbaren» Verfahrensfehler eine «fehlerhafte Beweisaufnahme». Will heissen: Wurde im erstinstanzlichen Verfahren z.B. ein Zeuge, der dem Beschuldigten ein Alibi gibt, nicht gehört und der Beschuldigte deshalb verurteilt, so reicht es, wenn der Zeuge im Berufungsverfahren gehört wird. – Gegen dass Argument, dass der Beschuldigte bei der Anwendung logischer Vernunft dabei natürlich genauso eine Instanz «verliert», weil erstinstanzlich kein faires Verfahren durchgeführt wurde, wird dann vom Obergericht lediglich auf Artikel 389 Abs. 2f. StPO und weitere Literatur dazu verwiesen.

Tatsächlich erweist sich also die Systematik der Strafprozessordnung in diesem Punkt als wenig durchdacht und kaum nachvollziehbar.

6.)
Der französischsprachige Beschuldigte hatte die fehlende Übersetzung ja bereits vor Bundesgericht gerügt und war mit seiner Beschwerde gescheitert (Entscheid 1B_334/2021) Hat jetzt das Obergericht quasi das über ihm stehende Bundesgericht korrigiert?

Nein, aber dieser Punkt bildet tatsächlich eine weitere Absurdität in dem Falle. Das Bundesgericht hatte in der Beschwerde entschieden, bei dem Entscheid der Vorinstanzen im Kanton Zürich, keine Übersetzung der Anklageschrift zu veranlassen, handle es sich um eine prozessleitende Entscheidung, aus welcher dem Beschuldigten keine nicht wieder gutzumachenden Nachteile rechtlicher Natur erwüchsen. Letzteres wäre aber eine zwingende Voraussetzung gewesen, damit das Bundesgericht auf die Beschwerde eingetreten wäre.

Das Bundesgericht hielt in seinem Entscheid fest, der Beschuldigte habe ja immer noch die Möglichkeit,  die fehlende Übersetzung dann mit einer Berufung gegen den Endentscheid des Bezirksgerichts anzufechten. Was dieser natürlich prompt und wie vom Bundesgericht angeraten tat – und damit jetzt vor Obergericht durchdrang.

Der Sachverhalt ist aus zwei Gründen komplett absurd:

Zum einen führt die fehlende Übersetzung (natürlich, nebst der mangelhaften Anklageschrift) nun dazu, dass das ganze Verfahren quasi auf Feld 1 zurückgesetzt werden muss. Wäre das Bundesgericht auf die Beschwerde eingetreten und hätte schon vor Beginn der Hauptverhandlung die Übersetzung angeordnet, wäre dieser ganze Zusatzaufwand nicht nötig geworden (natürlich, falls die Anklageschrift korrekt gewesen wäre). Die Gerichte, die sich regelmässig über Arbeitsbelastung beklagen, schaffen sich auf diese Weise selbst zusätzliche Arbeit: Statt einen Verfahrensfehler früh zu korrigieren, lässt das Bundesgericht die untere Instanz quasi «in den Hammer laufen». 

Zum zweiten ist schlicht nicht nachvollziehbar, warum das Bezirksgericht, nachdem das Bundesgericht ja in dem genannten Entscheid schon mit dem Zaunpfahl gewunken hatte, nicht von sich aus die Übersetzung anordnete, die von dem Beschuldigten ja mehrfach verlangt worden war.

7.)
Hätte das Obergericht Zürich bei einem «einfachen Bürger von der Strasse» auch so entschieden oder hatten Vincenz und Co einen «Promi-Bonus»?

Zunächst: Bei einem Strafverfahren wird aus einem Promi-Bonus schnell ein Promi-Malus. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Leben der beiden Beschuldigten weitgehend zerstört sind. Jedes Detail aus ihrem Leben, auch jede Unzulänglichkeit, wurde an die Medien gezerrt. Sie bleiben für immer gezeichnet. Dazu kommt der finanzielle Schaden. Das Zürcher Obergericht hat entschieden, dass die Finanzen der Beschuldigten, die vom Staat beschlagnahmt wurden, auch weiterhin gesperrt bleiben. Das ist eine enorme Belastung, zumal die Beschuldigten für ihre Anwälte sechs- bis siebenstellige Summen aufwerfen dürften.

Zum zweiten: Dass Strafverteidiger das Anklageprinzip rügen, also die Anklageschrift kritisieren, ist fast schon Standard in einem Strafverfahren. Es kommt auch vor, dass ein Gericht eine Anklageschrift zurückweist, weil sie unzureichend ist. Dann muss der Staatsanwalt noch einmal über die Bücher, vor die Hauptverhandlung in dem Prozess überhaupt beginnen kann. Es darf also davon ausgegangen werden, dass das Obergericht zu demselben Entscheid gekommen wäre, wenn die Beschuldigten Max Müller und Moritz Schweizer geheissen hätten.

8.)
Werden die «Täter» am Ende noch mit Millionen entschädigt auf Kosten von uns Steuerzahlern?

Richtig ist, dass die Beschuldigten vom Obergericht für das obergerichtliche Verfahren eine Entschädigung erhalten, Pierin Vincenz beispielsweise CHF 35’000, Beat Stocker sogar CHF 65’000. Das Total der Prozessentschädigungen aus der Gerichtskasse an alle Prozessparteien belaufen sich auf rund CHF 400’000.– Bevor man sich darüber aufregt, muss man sich aber bewusst sein, dass die Anwälte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deutlich mehr gekostet haben und diese Entschädigung längst nicht alle Kosten der Beschuldigten decken werden. Das gilt übrigens auch, falls am Ende des Prozesses ein Freispruch erfolgt. Auch dann werden die zu Unrecht beschuldigten Personen entschädigt, weil sie für das Verfahren hohe Umtriebe hatten. Die Entschädigungen reichen praktisch nie aus, um diese Kosten zu decken.

Im Strafprozessrecht ist es tatsächlich so, dass die Entschädigungen am Ende durch den Staatsbürger bezahlt werden. Um solche Fälle möglichst zu verhindern, wäre es notwendig, dass Staatsanwälte und Gerichte korrekt und professionell arbeiten. Kommt hinzu, dass deren Arbeit ja vom Staatsbürger ebenfalls bezahlt werden muss.

Diesen Punkt kritisiert auch INSIDE-JUSTIZ regelmässig. Schlechte Arbeit von Staatsanwälten und Richtern hat praktisch nie Konsequenzen. Die Politikerinnen und Politiker wagen sich nicht, Richter abzuwählen, weil darin praktisch die gesamte Juristenkaste aufheult und einen Übergriff der Politik auf die Justiz sieht.

9.)
Am Ende werden doch einfach alle freigesprochen, weil die Verjährung eingetreten ist.

Das Obergericht Zürich schreibt auf Seite 27 in seinem Urteil, dass eine Verjährung nicht mehr eintreten könne, weil bereits innerhalb der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen sei. Das gelte auch, wenn dieses Urteil, wie jetzt geschehen, später aufgehoben würde. Es verweist dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtes, das im Entscheid 6B_834/2020 E.1.4.3 seine diesbezügliche Praxis erläutert und dabei nichts an Klarheit vermissen lässt.

10.)
Wie geht es jetzt weiter und wie lange dauert es bis zu einer Verurteilung der Täter?

Zunächst liegt der Ball nun beim Bundesgericht, nachdem die Staatsanwaltschaft Zürich am Abend erklärt hat, sie werde den Entscheid des Zürcher Obergerichts anfechten.

Mit dem Entscheid des Obergerichts liegt der Ball von Neuem bei der Staatsanwaltschaft. Diese kann eine neue Anklageschrift verfassen und den Fall dann noch einmal vor Bezirksgericht bringen. Das «Rösslispiel» beginnt quasi wieder von vorne.

Wenn man davon ausgeht, dass die neue Anklageschrift ein halbes Jahr dauert, diese dann gemäss Obergericht für den französischsprachigen Beschuldigten auf französisch übersetzt werden muss, ist davon auszugehen, dass es mindestens ein Jahr dauert, bis ein neuer Prozess überhaupt nur stattfinden kann.

Vom bisherigen Spruchkörper, also den Richtern, die das letzte Mal mitgewirkt hatten, ist einer bereits ausgeschieden. Beim Abteilungspräsidenten Aeppli könnte es knapp werden: Er ist bis 2026 gewählt, erreicht aber bereits 2024 das AHV-Alter. Er dürfte damit 2026 nicht noch einmal gewählt werden können. (Der Konjunktiv wurde deshalb gewählt, weil der Kanton Zürich aktuell die Wahlvoraussetzungen für seine Richter ändern will, eine dazu notwendige Verfassungsänderung allerdings noch nicht durch die obligatorische Volksabstimmung durch ist.) Das bedeutet, dass sich mindestens ein, evt. sogar zwei Richter komplett neu in die Akten einarbeiten müssen. Was, wenn sie es verantwortungsvoll tun, ebenfalls etliche Zeit kosten wird.

Nach einem neuen Urteil des Bezirksgerichts steht wiederum der vollständige Rechtsweg bis ans Bundesgericht offen. Bereits absehbar ist, dass die Verteidiger an einem neuen Urteil, sollte es inhaltlich wieder gleich ausfallen, auch materielle Kritik üben werden. Diese Kritik muss dann vom Obergericht beurteilt werden. Allerdings kann damit gerechnet werden, dass das Obergericht das Urteil dann nicht wieder zurück ans Bezirksgericht schicken, sondern gleich selbst korrigieren würde. Die inhaltlichen Fragen sind allerdings wesentlich komplexerer Natur. Wenn das Obergericht schon für die eher einfachen formellen Beschwerdegründe ein Jahr benötigte, dürfte also für die materielle Überprüfung ein Rahmen von weiteren mindestens zwei Jahren nicht unrealistisch sein. – Zudem ist davon auszugehen, dass auch das Obergericht noch einmal eine Hauptverhandlung durchführt und nicht alleine aufgrund der Akten entscheidet.

Das bundesgerichtliche Verfahren dürfte dann ebenfalls noch einmal ein bis zwei Jahre dauern – falls es dereinst den Urteilsspruch des Obergerichts stützen sollte. Falls eine Beschwerde ans Bundesgericht erfolgreich wäre und das Bundesgericht den Fall wieder ans Zürcher Obergericht zur Neubeurteilung zurückweist, wären wir wohl bei mindestens acht weiteren Jahren für den Fall…

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert