Ist Brian Keller das Justizopfer, als das er sich selbst und seine Anwälte ihn sehen? Hat «das System» in seinem Fall versagt und die Schweiz gar schwere Menschenrechtsverletzungen begangen? Eine Einordnung der Redaktion von «Inside Justiz».
Am Dienstag hiess es, Keller komme frei, am Donnerstag dann wieder das Gegenteil. Der Justiz-Apparat erscheint ausser Rand und Band!?
Dieser Eindruck ist wohl falsch und zeigt eher, dass die Instanzen, die hier involviert sind, unabhängig voneinander arbeiten, wie es auch sein muss: Am Dienstag hatte das Obergericht kommuniziert, dass es die Sicherheitshaft beende werde. Am Donnerstag sickerte durch, dass die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft in derjenigen Untersuchung anordnen wolle, die noch nicht vor Gericht war. Hätten die Institutionen sich vorab abgesprochen und gemeinsam kommuniziert, hätte das eine Befangheit und Justiz-Küngelei bedeutet: Staatsanwaltschaft und Gericht haben andere Aufgaben und dürfen sich nicht absprechen, sondern müssen je unabhängig arbeiten (können).
Ist die Untersuchungshaft durch die Staatsanwaltschaft Zürich gerechtfertigt?
Das wird das Zürcher Zwangsmassnahmengericht nächste Woche zu prüfen haben, wobei man ärgerlicherweise nicht davon ausgehen darf, dass es eine seriöse Prüfung durchführen wird. Die Zwangsmassnahmengerichte der Schweiz und insbesondere in Zürich stehen im Ruf, praktisch jeden Haftantrag durchzuwinken und ihrer gesetzlichen Aufgabe überhaupt nicht nachzukommen. Der Zustand ist seit Jahren bekannt und wird nicht angepackt.
Dieser Punkt zeigt auf, dass das Justizsystem noch immer nicht verstanden hat, dass seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht. Das gilt im Übrigen auch für die Staatsanwaltschaft, die gemäss Aussagen von Kellers Anwalt Philip Stolkin seit einem Jahr eine Strafanzeige von Stolkin wegen Foltervorwürfen gegen Keller einfach liegengelassen hat. Dass die Strafverfolgungsbehörden nach wie vor einen solchen Schlendrian an den Tag legen und nicht zu verstehen scheinen, was für sie auf dem Spiel steht, ist eigentlich erschreckend.
Die Anwälte von Keller und einige Medien stellen ihn als Justiz- und Folteropfer dar. Ist er das wirklich?
Halten wir uns an die Fakten: Die aktuelle Inhaftierung Kellers geht zunächst zurück auf einen Vorfall im März 2016: Keller hatte dort im Tram einem Bekannten mit einem Faustschlag den Kiefer gebrochen. Aufgrund der vielen Vorstrafen erhält er dafür vor Bezirksgericht Zürich 18 Monate unbedingt. Keller kommt in den Strafvollzug, in mehreren Gefängnissen, vom Gefängnis Limmattal über Zürich, Winterthur und schliesslich ins Bezirksgefängnis Päffikon kommt es immer wieder zu Schwierigkeiten, weil Keller sich auflehnt. 2017 wird er schliesslich im Bezirksgefägnis Pfäffikon in die Sicherheitsabteilung verbracht, muss zwei Wochen fast nackt am Boden schlafen. Das wurde später untersucht und als menschenunwürdig erachtet, der Gefängnisdirektor verlor seine Stelle.
Will heissen: Ausgangspunkt war klar und eindeutig eine Körperverletzung durch Keller. Dafür musste er zurecht ins Gefängnis. Dort hat er sich nicht an die Regeln gehalten und «das System» herausgefordert, das ihm zeigen wollte, wer der stärkere ist. Dass dabei staatliche Akteure sich stets korrekt verhalten müssen und das offensichtlich nicht immer getan haben, ist allerdings genau ein Teil dieser Causa.
Die Anwälte Kellers argumentieren, man hätte ihren Mandanten mit drei Jahren Isolationshaft und Folter in den Wahnsinn getrieben und er hätte sich in einer Notstandslage befunden. Deshalb habe er rechtmässig gehandelt.
Die Anwälte haben natürlich die Aufgabe, ihren Mandanten zu gut wie möglich zu vertreten. Seit Jahren verfolgen sie die Strategie, ihn als Opfer hinzustellen – und verrichten gute Arbeit dabei, in dem sie viele glauben machen, Keller habe in einer Notstandlage gehandlet. Aber schauen wir uns die Notstand-Tatbestände an. In Art. 17 StGB heisst es: «Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.» In Art. 18 heisst es in Absatz 1: «Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen oder andere hochwertige Güter zu retten, wird milder bestraft, wenn ihm zuzumuten war, das gefährdete Gut preiszugeben.» Und in Absatz 2: «War dem Täter nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, so handelt er nicht schuldhaft.»
Selbstredend wollen wir der gerichtlichen Würdigung nicht vorgreifen. In beiden Artikeln ist aber die Rede davon, dass eines der Tatbestandsmerkmale ist, dass die Gefahr für das Rechtsgut «nicht anders abwehrbar» war. Ob mehrere gezielte Faustschläge gegen einen Aufseher, der dann über mehrere Monate arbeitsunfähig blieb und bis heute unter dem Vorfall leidet, von einem Gericht tatsächlich als Notwehr-Tat, um eine drohende Isolationshaft abzuwenden, anerkannt werden wird, muss man sehen.
Kellers Anwälte argumentieren, es gebe viele Gutachter, welche die Haftbedingungen als Folter taxierten.
Das Problem dieser Organisationen ist, dass sie alle nicht selbst in der Verantwortung stehen. Von aussen zu kritisieren ist einfach. Das gilt gerade z.B. für den unterdessen zurückgetretenen UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer. Dieser hatte die Haftbedingungen kritisiert und den Angestellten in aller Öffentlichkeit Foltervorwürfe gemacht, ohne je mit ihnen gesprochen zu haben oder die Situation persönlich abgeklärt zu haben. Justiz-Direktorin Jaqueline Fehr (SP) hatte Melzers Kritik dann ja auch in den Medien entsprechend scharf zurückgewiesen (vgl. z.B. Interview in der NZZ vom 18. Januar 2022.) Zudem müssen diejenigen, die kritisieren, keine Lösungen bringen. – Und diejenigen, die Lösungen vorschlagen, stehen anschliessend nicht in der Verantwortung, wenn sie schiefgehen.
Konkret: Es ist einfach zu fordern, das Haftregime müsse gelockert werden. Die Institutionen, die in der Verantwortung sind, haben aber auch eine Verpflichtung gegenüber beispielsweise den Angestellten oder anderen Gefangenen in einer Haftanstalt. Keller soll in der Pöschwies beispielsweise einen Mithälftling angegriffen haben. Man stelle sich jetzt vor, das Haftregime würde gelockert, anschliessend käme ein anderer Gefangener oder auch ein Aufseher durch eine weitere Straftat von Keller zu Schaden, im schlimmsten Falle: zu Tode. Das politische und mediale Gepoltere wäre enorm.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass sich auch viele Behörden bewusst sind, dass das Haftregime gegenüber Keller sich hart an der Grenze befindet – oder darüber. Allein, es fehlt an Alternativen.
Welche Rolle spielt das Bundesgericht?
Bundesgericht und das Zürcher Obergericht sind sich über der Causa Keller regelmässig in die Haare geraten. Fakt ist, dass das Bundesgericht die Zürcher Oberrichter regelmässig korrigiert und diesen vorwirft, sie würden es sich zu einfach machen. Klar ist, dass auch das Bundesgericht unter Druck steht: Wenn die nationale Antifolter-Kommission oder der UNO-Sonderdelegierte für Folter die Schweizer Haftbedingungen rügen, dann kann das dem Bundesgericht nicht einfach egal sein.
In mehreren Urteilen laviert das Bundesgericht und vermag sich nicht richtig festzulegen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass das Bundesgericht die Haftbedingungen immer wieder bezogen auf den aktuellen Moment beurteilt und dann beispielsweise findet, aktuell sei das Haftregime noch akzeptabel – und damit insinuiert, es könnte später zu einem anderen Ergebnis kommen. Ganz offensichtlich will man sich in Lausanne nicht festlegen. Das ist schwach und wirkt, als ob das oberste Gericht laviere und seine Meinung darauf ausrichte, woher der Wind grad‘ bläst. Verantwortung übernommen hat es zudem nie, sondern die Entscheide einfach wieder an das Zürcher Obergericht zur Überarbeitung zurückgespielt.
Stichwort Medien: Welche Rolle spielen sie?
Sie haben fast immer eine heikle Rolle gespielt. Das begann damit, dass der Fall in einem Dokumentarfilm des SCHWEIZER FERNSEHEN überhaupt erst publik wurde – Brian Keller war damals in einem «Sondersetting», das pro Monat CHF 29’000 kostete. Der BLICK und viele andere Medien skandalisierten den Fall. Der damalige Justizdirektor des Kantons Zürich, Martin Graf (Grüne) schritt ein und wollte den grossen Macher geben, der aufräumt. Ein typischer Fall dafür, wie Politiker unter dem Druck der Medien populistische Entscheide fällen, die ihnen kurzfristig Applaus bringen und mittelfristig riesige Probleme schaffen. Die Medien haben es in dieser Phase der Causa nicht verschafft, das zu tun, was sie sich immer gerne auf die Fahne schreiben: Den Sachverhalt gehörig einzuordnen.
Später gelang es den Anwälten Kellers, verschiedene Medienschaffende für ihren Zweck einzuspannen und vom Narrativ zu überzeugen, Keller wäre kein Täter, sondern das eigentliche Opfer. Die Skandalisierung lief jetzt in die andere Richtung – aber genau so einseitig. Tatsache ist wohl, dass sich ein komplexer Fall wie dieser für keinerlei Skandalisierung eignet. Um ihm gerecht zu werden, wäre eine vielleicht weniger schreierische, sondern vielmehr abwägende Berichterstattung angezeigt. Das entpricht indes nicht dem medialen Zeitgeist.
Besonders heikel wird es immer dann, wenn Medienschaffende sich berufen fühlen, sich für die Freilassung eines Straftäters zu verwenden, wie das aktuell wieder verschiedene Medien tun, nicht einmal die NZZ AM SONNTAG ist sich zu schade dafür. Das ist schon häufig schiefgegangen, in der Schweiz zuletzt so richtig im Fall Wenger: Der Sexualstraftäter war von einem Journalisten als geläutert und bestes Beispiel für eine gelungene Resozialisierung dargestellt worden. Kurze Zeit, nachdem er in ein Wohnexternat entlassen wurde, delinquierte er erneut mehrfach. Heute wird er verwahrt.
Welche Fehler haben die Behörden gemacht?
Zunächst gilt es bei dieser Frage, den Rückblickfehler zu vermeiden. Der besteht darin, dass sich Situationen im Nachhinein immer einfacher darstellen – wenn man weiss, welche weiteren Folgen ein bestimmter Entscheid hatte. Nur: Zum Entscheidzeitpunkt wusste man das eben noch nicht. Einige Fehler werden allerdings sogar von den Verantwortlichen selbst eingeräumt. Der Kardinalsfehler in der Sache war wohl der seinerzeitige Dokumentarfilm, in dem die Geschichte von Brian im SCHWEIZER FERNSEHEN breitgetreten wurde. Verantwortlich dafür war der unterdessen verstorbene Jugendstaatsanwalt Gürber, aber auch dessen Vorgesetzte. Sie hatten schlicht die Sprengkraft nicht vorausgesehen. Eine Mitverantwortung trifft aber auch SRF, deren Chefredaktion nicht erkannt hatte, dass die Summe von CHF 29’000 für das «Sondersetting» von Keller nicht einfach ohne Kontext und Einordnung publiziert werden sollte. Falsch war aus heutiger Sicht auch die Reaktion von Justizdirektor Graf, der sich in die Materie einmischte, von der er nichts verstand, was am Ende zum Abbruch des Sondersettings und zu der Inhaftierung führte, die später vom Bundesgericht als widerrechtlich taxiert wurde.
Und falsch waren sicherlich auch die Situationen, bei denen sich Behörden und staatliche Akteure dazu provozieren liessen, die Ebene der Rechtstaatlichkeit zu verlassen und/oder zu Mitteln zu greifen, die einem Rechtsstaat und einer humanen Rechtstradition unwürdig sind – und sei das Gegenüber noch so kriminell, provokant oder uneinsichtig.