«Bundesgericht will sich nicht mit fehlender Unabhängigkeit der ASU befassen» – Schweiz kommt unter EGMR-Druck – Teil 1 – Willkür des Bundesgerichts

Das Schweizer Steuerstrafrecht steht im Visier des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Erstmals ist der Gerichtshof auf die Beschwerde eines Steuerpflichtigen eingetreten. Sollte die Beschwerde gutgeheissen werden, müsste die Schweiz ihr Steuerstrafrecht grundlegend überarbeiten bzw. neu kodifizieren. Die Folgen für den Rechtsstaat Schweiz wären massiv.

Das Bundesgericht schützte 2023 ein Strafurteil gestützt auf einen Bericht der ASU, machte aber die Rechnung ohne den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Am 21. Juni 2023 hat das Bundesgericht in Dreierbesetzung ein vermeintliches 08/15-Urteil gefällt, das in der Fachwelt bisher kaum für Aufsehen gesorgt hat. Das Interesse der Fachwelt wird mit dem Weiterzug an den EGMR absehbar deutlich zunehmen und droht die bisherige Kodifikation des Steuerstrafrechts zu Makulatur werden zu lassen.

In BGE 9C_650/2022 geht es um ein Steuerstrafverfahren gegen eine Gesellschaft, dessen Grundlagen einmal mehr von der ASU («Abteilung Strafsachen und Untersuchungen», eine Unterabteilung der Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV) geschaffen wurden. Das Bundesgericht hält wie bisher unkritisch seine schützende Hand über die ASU und geht auf die EMRK-Rügen der Steuerpflichtigen bezüglich der offensichtlich fehlenden Unabhängigkeit der ASU nicht ein.

Neu ist jedoch, und darin liegt die eigentliche Brisanz des Falles, dass der EGMR erstmals auf die Beschwerde eines Steuerpflichtigen eingetreten ist und ein Verfahren gegen die Schweiz eröffnet hat. Sollte die Beschwerde gutgeheissen werden, müsste die Schweiz ihr Steuerstrafrecht wohl grundlegend überarbeiten bzw. neu kodifizieren. Die Folgen für den Rechtsstaat Schweiz sind noch nicht absehbar.

Wir von Inside Justiz, dem die Gerichtsakten exklusiv vorliegen, werden den Fall aufmerksam verfolgen und den Fortgang des Verfahrens vor dem EGMR sowie die Auswirkungen auf die Kodifikation des Steuerstrafrechts in der Schweiz laufend begleiten und kommentieren. Für das Urteil 9C_650/2022 in gewöhnlicher Dreierbesetzung verantwortlich waren Präsident Bundesrichter Francesco Parrino (SP), Bundesrichterin Margit Moser-Szeless (SVP) und Michael Beusch (SP). Die Dreierbesetzung steht im Unterschied zu einer Fünferbesetzung für einen 08/15-Rechtsfall ohne Schwierigkeiten, bzw. ohne grundlegende Bedeutung der Rechtsfragen. Gerichtsschreiber war in diesem Fall Andreas Matter.

ASU und das «Schwarze Peter»-Spiel

Inside-Justiz hat bereits mehrfach über die im Geheimen operierende und öffentlichkeitsscheue ASU berichtet. Wenn es um die ASU geht, will das Bundesgericht keine Kritik hören und sich auch nicht mit völkerrechtlichen Rügen befassen. Die Rügen der anwaltlich vertretenen Gesellschaft zur mangelnden Unabhängigkeit der ASU gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK werden vom Bundesgericht wie üblich mit kurzen, schroffen Sätzen abgetan. So halten die Höchstrichter in E. 2.3.12 fest: «Geltend gemacht sind zahlreiche Vorwürfe gegenüber der ASU und den unterinstanzlichen kantonalen Behörden. Die meisten dieser Vorwürfe, die an verschiedenen Stellen der Beschwerdeschrift und in mehreren Einzel-Zusammenhängen immer wieder neu aufgeführt werden, gehen aber nicht über jeweils unsubstanziiert gebliebene Behauptungen hinaus. Ebenso wenig genügt es mit Blick auf Art. 106 Abs. 2 BGG, gegen die verwaltungsgerichtliche Bestätigung der Verfahrensführung durch die ASU und den Beschwerdegegner als BV- und EMRK-konform vorzubringen, durch diese Bestätigung erweise sich das angefochtene Urteil als krass willkürlich. 

Art. 106 Abs. 2 BGG entpuppt sich immer mehr als eigentliches Willkürinstrument des Bundesgerichts, um unliebsame Rügen von Rechtsuchenden einfach pauschal mit dem Hinweis auf angeblich fehlende Substantiierung abzuschmettern. «Lustig» ist in diesem Zusammenhang E. 2.3.2 des Urteils, wo der steuerpflichtigen Gesellschaft sogar vorgeworfen wird, sich nicht mit anderen Bundesgerichtsentscheiden zur ASU auseinandergesetzt zu haben. Dabei geht es um den einen Fall der Beschwerdeführerin und nicht um beliebig viele andere Rechtsfälle. Das Bundesgericht schützt die ASU wider besseres Wissen, obwohl die fehlende Unabhängigkeit der ASU als integrierte Abteilung der ESTV auf der Hand liegt. Wer in einem Strafverfahren aktiv mitwirken will, muss gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK unabhängig sein. Diese leicht nachvollziehbare Forderung ist grundlegend für ein rechtsstaatlich korrekt geführtes Strafverfahren, das auch den Anforderungen eines «Fair Trial» genügen muss.

Aufhorchen lässt sodann E.2.3.3.: «Gesamthaft ist nicht ersichtlich, inwiefern das Verwaltungsgericht gegen die Bundesverfassung oder die EMRK verstossen haben sollte, wenn es das Vorgehen der ASU und der unterinstanzlichen kantonalen Behörden in Verfahrensbelangen geschützt hat.» Die Begründung des Bundesgerichts lässt nur den Schluss zu, dass die Höchstrichter keinen Bock haben sich mit den beschwerdeseits vorgetragenen Argumenten, insbesondere zur offenkundigen fehlenden Unabhängigkeit der ASU nach Art. 6. Ziff. 1 EMRK auseinanderzusetzen.

Steuerbehörden ohne EMRK-Kenntnisse?

Aus den Fallakten, welche Inside Justiz vorliegen, ist ersichtlich, dass keine Gerichtsinstanz (Verwaltungsrekurskommission, Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen, Bundesgericht), auch nicht die ESTV oder das Kantonale Steueramt St. Gallen zur Frage der fehlenden Unabhängigkeit jemals Stellung bezogen haben. Dem Steueramt St. Gallen und der ESTV ist die Bedeutung der EMRK im Steuerstrafverfahren offensichtlich völlig unbekannt. Anders ist es nicht zu erklären, dass keine der genannten Behörden jemals zur Frage der fehlenden Unabhängigkeit der ASU Stellung genommen hat.

Die beschuldigte Gesellschaft weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Schweizer Behörden in dieser offensichtlich heiklen Frage ein unwürdiges «Schwarzer-Peter-Spiel» betreiben. Niemand, weder die Steuerbehörden noch die Justizbehörden, haben den Mut, zur Frage der Unabhängigkeit der ASU Stellung zu beziehen. Es wird Zeit, dass sich diese Verweigerungshaltung als rechtlichen Diskurs verändert. Was an der Rüge der fehlenden Unabhängigkeit der ASU unsubstantiiert (Art. 106 Abs. 2 BGG) sein soll, erschliesst sich dem Leser nicht.

Strafurteil ohne Einvernahme der beschuldigten Gesellschaft

Die Gesellschaft rügte, es gehe nicht an, anstelle der beschuldigten Gesellschaft einfach eine andere Person einzuvernehmen und gestützt darauf die Gesellschaft strafrechtlich zu sanktionieren. Das Bundesgericht weist diese Kritik kurz und bündig zurück und stützt die Auffassung der Vorinstanz (Verwaltungsgericht St. Gallen).  In E. 2.1.4: „Zum Vorbringen der Beschwerdeführerin, es gehe nicht an, anstelle der beschuldigten Person (Beschwerdeführerin) einfach eine andere Person (B.________) zu befragen, hat das Verwaltungsgericht erwogen, dass B.________ gemäss Handelsregister seit 1998 einziger Verwaltungsrat (mit Einzelunterschrift) der Beschwerdeführerin gewesen sei.“

Dies mag zutreffen, doch ist zu bedenken, dass die Interessenlage des Organmitglieds als natürliche Person durchaus eine andere sein kann als die der Gesellschaft, deren Organ es zugleich ist. Rechtsstaatlich bedenklich erscheint, dass die beschuldigte Gesellschaft nie zur Sache gehört wurde.  Dazu hätte die natürliche Person in ihrer Eigenschaft als Organ ohne weiteres befragt werden können. Weshalb eine solche Einvernahme unmöglich oder gar sinnlos sein soll, lässt das Bundesgericht offen.

Das letzte Wort der Beschuldigten nach Art. 347 StPO

Im Strafprozess ist es heute eine Selbstverständlichkeit und entspricht auch der gesetzlichen Vorgabe, dass der Beschuldigte im Strafprozess immer das letzte Wort hat. In E. 2.1.5 weist das Bundesgericht die Rüge der Gesellschaft wegen Verweigerung des letzten Wortes kühl ab, indem es den unbestrittenen Sachverhalt allein in die Verantwortung der anwaltlich vertretenen Gesellschaft stellt.

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„Auf die daran anschliessende Feststellung des Präsidenten, wonach es weder seitens des Gerichts noch der Parteien Fragen oder Anmerkungen gebe und die Verhandlung geschlossen werde, hätte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin angesichts des geschilderten Hergangs gegebenenfalls von sich aus unmittelbar reagieren und weitere mündliche Ausführungen beantragen müssen. Wenn er dies nicht getan habe, so könne das nicht im verwaltungsgerichtlichen Verfahren als unheilbarer Verfahrensmangel gerügt werden, zumal das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin bezüglich der Vorbringen des Beschwerdegegners offensichtlich gewahrt worden sei.“ 

Dabei übersehen die Höchstrichter, dass die Verfahrensleitung stets beim Gericht und nicht beim Anwalt der Beschwerdeführerin liegt. Die Verfahrensleitung hat allein im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht dafür zu sorgen, dass die strafprozessualen Spielregeln eingehalten werden, wozu auch das letzte Wort gehört.

Wird das letzte Wort nicht gewährt, leidet das gesamte Verfahren an einem unheilbaren Mangel und entspricht nicht den Anforderungen an ein rechtsstaatlich korrekt geführtes Verfahren. Ein so geführter Strafprozess macht den Angeklagten vom Subjekt zum blossen Objekt. Dies wird in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu Recht abgelehnt.

Sanktion, Erfolgsstrafrecht vs. Schuldstrafrecht

Steuerstrafrecht ist Erfolgsstrafrecht. Es geht nicht um das Verschulden und um eine schuldangemessene Strafe, sondern als Massstab wird allein der mutmassliche Erfolg der Steuerhinterziehung als Grundlage genommen. Wenn der Staat Steuerpflichtige schröpfen kann, kennt er offenbar keine Grenzen. Die Strafe von CHF 12‘000.00 als Betrag der hypothetischen Nachsteuer muss vor dem Hintergrund von nulla poene sine lege nicht näher kommentiert werden. Erfolgsstrafrecht ist nicht mehr zeitgemäss und führt zu völlig unhaltbaren Strafbeträgen! Die erwähnten CHF 12‘000 mögen nicht als hoher Betrag erscheinen. Zu bedenken ist hierzu aber, dass es bei grossen Steuerhinterziehungsfällen auch rasch einmal um Millionenbeträge geht. Es ist erstaunlich, dass ein Rechtsstaat wie die Schweiz das Erfolgsstrafrecht noch immer nicht zu Gunsten eines Schuldstrafrecht aufzugeben bereit ist.

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