«Bundesgericht will sich nicht mit fehlender Unabhängigkeit der ASU befassen» – Schweiz kommt unter EGMR-Druck – Teil 2 – Gerechtigkeit findet nicht mehr statt

Das Schweizer Steuerstrafrecht steht im Visier des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Erstmals ist der Gerichtshof auf die Beschwerde eines Steuerpflichtigen eingetreten. Sollte die Beschwerde gutgeheissen werden, müsste die Schweiz ihr Steuerstrafrecht grundlegend überarbeiten bzw. neu kodifizieren. Die Folgen für den Rechtsstaat Schweiz wären massiv. Teil 2

In BGE 9C_650/2022 geht es um ein Steuerstrafverfahren gegen eine Gesellschaft, dessen Grundlagen einmal mehr von der ASU («Abteilung Strafsachen und Untersuchungen», eine Unterabteilung der Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV) geschaffen wurden. Das Bundesgericht hält wie bisher unkritisch seine schützende Hand über die ASU und geht auf die EMRK-Rügen der Steuerpflichtigen bezüglich der offensichtlich fehlenden Unabhängigkeit der ASU nicht ein. Neu ist, dass der EGMR erstmals auf die Beschwerde eines Steuerpflichtigen eingetreten ist und ein Verfahren gegen die Schweiz eröffnet hat. Sollte die Beschwerde gutgeheissen werden, müsste die Schweiz ihr Steuerstrafrecht wohl grundlegend überarbeiten bzw. neu kodifizieren.

Wir von Inside Justiz, dem die Gerichtsakten exklusiv vorliegen, werden den Fall aufmerksam verfolgen und den Fortgang des Verfahrens vor dem EGMR sowie die Auswirkungen auf die Kodifikation des Steuerstrafrechts in der Schweiz laufend begleiten und kommentieren. Für das Urteil 9C_650/2022 in gewöhnlicher Dreierbesetzung verantwortlich waren Präsident Bundesrichter Francesco Parrino (SP), Bundesrichterin Margit Moser-Szeless (SVP) und Michael Beusch (SP). Die Dreierbesetzung steht im Unterschied zu einer Fünferbesetzung für einen 08/15-Rechtsfall ohne Schwierigkeiten, bzw. ohne grundlegende Bedeutung der Rechtsfragen. Gerichtsschreiber war in diesem Fall Andreas Matter.

Zweite Runde oder eine Reise nach Strassburg

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – Beschwerde 41338/23 i.S. P. AG gegen die Schweiz

Nach Zustellung des Urteils des Bundesgerichts besteht die Möglichkeit, eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der Menschenrechte (EMRK) an den EGMR zu richten. Die Frist beträgt vier Monate ab Erhalt des Urteils. Die beklagte Gesellschaft (P. AG) hat eine solche Beschwerde wegen Verletzung der EMRK eingereicht. Soweit ersichtlich ist es das erste Mal, dass der EGMR auf eine Beschwerde in Steuerstrafsachen betreffend die Tätigkeit der ASU/ESTV eingetreten ist und ein Verfahren eröffnet hat.

Bisher ist der EGMR noch nie auf eine Beschwerde in Steuersachen mit ASU-Thematik eingetreten, da der Eingriff in die EMRK zu gering erschien. Ohnehin gibt es nur sehr wenige aktenkundige Steuerstrafverfahren, die vom EGMR angenommen und behandelt wurden. Reine Veranlagungsfälle hingegen werden vom EGMR nicht angenommen, und bis heute gilt in der Schweiz die Praxis, dass in reinen Verwaltungsverfahren die EMRK-Schutzrechte auf ein faires Verfahren keine Anwendung finden. Bleibt die Frage: Warum nicht? Warum spielen das faire Verfahren und die EMRK-Schutzrechte nicht auch im Verwaltungsverfahren eine Rolle?

Das Verfahren 41338/23 P.AG gegen die Schweiz führt erfreulicherweise dazu, dass die Schweiz erstmals zur Frage der Unabhängigkeit der ASU Stellung nehmen muss. Die Annahme der Beschwerde durch den EGMR ist ein Meilenstein im Kampf für Gerechtigkeit und ein faires Verfahren und ein Jubeltag für alle, denen die EMRK am Herzen liegt!

Fazit

Das Bundesgericht hat im Juni 2023 in dreiköpfiger Besetzung ein bemerkenswertes Urteil gefällt, dessen Tragweite und Sprengkraft nicht abschliessend gewürdigt werden kann.

Das Urteil reiht sich ein in eine Serie von fragwürdigen Entscheiden und als Beobachter kann man nur feststellen, dass Steuergerechtigkeit nicht mehr stattfindet. Die Rechtsmittel der Steuerpflichtigen werden mit coolen, weil äusserst knappen Begründungen einfach abgeschmettert. Erstmals befasst sich nun der Gerichtshof für Menschenrechte mit einem Steuerrechtsfall unter Einbeziehung der ASU-Problematik. Nicht nur Experten sind gespannt, wie es weitergeht.

Inside Justiz wird dazu auch die weitere Rechtsentwicklung in der Schweiz beobachten. Spannend wird vor allem sein, inwieweit das Verfahren Auswirkungen auf die Tätigkeit der ASU nach Art. 190 ff. DBG haben wird, bzw. ob BR Karin Keller-Sutter als Exekutivorgan aus Respekt vor dem EGMR und für die Dauer bis zum Abschluss des Verfahrens vorläufig davon absehen wird, Verfahren unter Durchbrechung der Gewaltentrennung nach Art. 190 Abs. 1 DBG zu bewilligen.

Der Rechtsstaat Schweiz wird sich daran messen lassen müssen, wie er die EMRK nicht nur mit leeren Worten, sondern auch mit konkreten Taten respektiert.

Dauer und Kosten

Das Steuerstrafverfahren dauerte bis zum Bundesgericht insgesamt 5 1/2 Jahre und beschäftigte mehrere Gerichte und Richterinnen und Richter. Die vor Bundesgericht unterlegene Steuerpflichtige musste einen enormen Zeitaufwand für die Rechtsmittel aufwenden und hatte erhebliche Gerichtskosten zu tragen. Die beiden kantonalen Gerichtsinstanzen in St. Gallen haben CHF 7’500.00 in Rechnung gestellt. Das Bundesgericht verrechnet seine «Leistung» mit CHF 2’000.00. Hinzu kommen die Parteikosten für die Rechtsverteidigung des Steuerpflichtigen von geschätzten CHF 12’000.00 (pro Instanz CHF 6’000.00). Der mühsame und letztlich verlorene Kampf durch alle Instanzen dürfte die Steuerpflichtige somit rund CHF 21’500 gekostet haben.

Es zeigt sich einmal mehr, dass der Steuerpflichtige im Kampf um Gerechtigkeit und ein faires Verfahren oft den Kürzeren zieht. Die unkritische Haltung des Bundesgerichts gegenüber der ASU zeigt, dass sich der Rechtsuchende die Rügen gegen die ASU sparen kann. Der Rechtssuchende hat keine Chance auf eine objektive Behandlung seiner Rügen. Mit anderen Worten: Gerechtigkeit findet nicht mehr statt. Wer in die Mühlen der Steuerstrafjustiz gerät, braucht nicht nur gute Nerven und einen dicken Geldbeutel, sondern auch eine hohe Frustrationstoleranz angesichts der zahlreichen Niederlagen vor den Gerichten.

Im Ergebnis sind dies bedenkliche Entwicklungen an der Steuerfront, die bei den Betroffenen auf wenig Verständnis stossen.

Infos zu den beteiligten Richterinnen und Richter

Das Bundesgericht erwähnt die urteilenden Richter und die Gerichtsschreiber immer nur mit dem Familiennamen. Inside Justiz ist der Ansicht, dass die Richter und Gerichtsschreiber mit vollem Namen aufgeführt werden sollten. Während die hauptamtlichen Richter auf der Homepage des Bundesgerichts mit einem kurzen Lebenslauf vorgestellt werden, findet man bei den nebenamtlichen Bundesrichtern und vor allem bei den Gerichtsschreibern nur die Namen, aber keine Hintergrundinformationen. Dabei sind es vor allem die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber, die in vielfältiger Weise die Urteilsfindung massgeblich beeinflussen und die Urteile prägen.

Steuerrechtsfälle haben vor Bundesgericht traditionell einen schweren Stand, wenn die Beschwerdeführer die Steuerpflichtigen sind.  Nur ein verschwindend kleiner Teil der Beschwerden wird gutgeheissen, wobei viele Beschwerdeführer bereits an den strengen Formvorschriften des Bundesgerichts scheitern. Solche Fälle werden vom Gerichtspräsidenten zusammen mit einem Gerichtsschreiber oder einer Gerichtsschreiberin durch Nichteintreten erledigt.

Ist hingegen ein kantonales Steueramt oder die ESTV-Beschwerdeführerin, so fällt die wohlwollende Haltung des Bundesgerichts auf. Die Erfolgsquote von Beschwerden mit einer Steuerbehörde als Beschwerdeführerin ist signifikant höher. Inside Justiz wird die Steuerrechtsfälle statistisch auswerten und in einem eigenen Artikel behandeln.

Francesco Parrino (SP) wurde 2013  als SP-Kandidat gewählt. Der 1967 geborene war zuvor Präsident der sozialversicherungs- und gesundheitsrechtlichen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts. Er setzte sich in einer Kampfwahl gegen den FDP-Kandidaten Luca Grisanti durch. (Bild Mitte)

Margit Moser-Szeless (SVP)

Geboren am 31. Oktober 1971. Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Genf. 1993 Lizenziat der Rechtswissenschaften. 1996 Erwerb des Genfer Anwaltspatents. 1998-2001 Juristische Mitarbeiterin im Bundesamt für Justiz in Bern. Seit 2001 Gerichtsschreiberin am Bundesgericht. Wahl zur Bundesrichterin am 10. Dezember 2014.(Bild Rechts)

Michael Beusch (SP)

Der Richter aus Buchs SG sorgte 2019 mit einem Etappensieg für den Milliardär Urs Schwarzenbach vor Bundesverwaltungsgericht für Aufsehen. Das Bundesverwaltungsgericht stoppte in letzter Minute die Zwangsversteigerung von 114 Kunstwerken von Urs Schwarzenbach. Die Zollverwaltung wollte 11 Millionen eintreiben, die der Besitzer des Hotels Dolder schuldete. Schwarzenbach hatte jahrelang Bilder, Skulpturen und Nippes am Zoll vorbeigeschmuggelt.(Bild Links)

Andreas Matter – Gerichtsschreiber

lic.iur., Gerichtsschreiber am Bundesgericht, Lausanne

LESEN SIE HIER TEIL 1- Willkür des Bundesgerichts

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