Erneuter Prozess gegen Erwin Sperisen

Der bereits wegen Beihilfe zum Mord verurteilte ehemalige Polizeichef von Guatemala, Erwin Sperisen, muss sich im kommenden Herbst erneut vor Gericht verantworten. Das Justizdrama, in dem die Schweizer Justiz bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde, geht weiter. Die Genfer Justizbehörden versuchen weiterhin, ihre Niederlage abzuwenden.

Erwin Johann Sperisen Vernon (54) wurde im April 2018 in der Schweiz wegen Beihilfe zum siebenfachen Mord zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, und zwar für Taten, die 2006 in Guatemala begangen wurden. Das Urteil wurde 2019 vom Bundesgericht bestätigt. Das Bundesgericht hatte seine Verurteilung wegen einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Juni 2023 aufgehoben.

Der Wikinger

2003 wurde Sperisen, wegen seines Aussehens „El Vikingo“ genannt, in den Stadtrat von Guatemala-Stadt gewählt. Vom damaligen Innenminister Vielmann protegiert, wurde er zum Chef der Policía Nacional Civil ernannt, obwohl er nur Erfahrung aus der Feuerwehr hatte. Nach der Ermordung salvadorianischer Abgeordneter des Zentralamerikanischen Parlaments und eines Fahrers in Guatemala-Stadt 2007 trat Sperisen zurück, nachdem Gerüchte aufkamen, die Tat sei „von oben“ angeordnet worden. Sperisen wurde kein Fehlverhalten vorgeworfen, vielmehr hatte er massgeblich zur Überführung der Täter beigetragen. Sperisen zog 2007 in die Schweiz, wo seine Eltern, seine Frau und seine drei Kinder bereits lebten.

Nach dem Rücktritt von Präsident Berger 2008 weitete die im Auftrag der UNO tätige Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala, CICIG die Ermittlungen im „Fall Pavón“ aus. Dabei geht es um die Erstürmung des Gefängnisses Pavón am 25. September 2006, an der über 3.000 Beamte beteiligt waren, um die staatliche Kontrolle über das von den Gefangenen selbstverwaltete Gefängnis wiederherzustellen, wobei sieben Gefangene ums Leben kamen. In den Jahren 2008 und 2009 erstatteten verschiedene Nichtregierungsorganisationen Anzeige gegen Sperisen wegen eines Vorfalls, der sich kurz nach seiner Amtseinführung ereignet hatte und Finca Nueva Linda genannt wurde. Die Vorwürfe erwiesen sich als falsch und wurden nicht weiter verfolgt.

Alle freigesprochen

Im August 2010 erhob die CICIG Anklage gegen Sperisen wegen der Anordnung aussergerichtlicher Hinrichtungen von mindestens sieben Gefangenen im Fall Pavón“ und nun von drei weiteren Gefangenen im Fall El Infiernito“. Die Anzeige enthielt auch den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Guatemala stellte einen internationalen Haftbefehl gegen Sperisen aus. Als Erwin Sperisen aus den Medien von der Anklage der CICIG gegen ihn erfuhr, meldete er sich umgehend beim damaligen Genfer Staatsanwalt Daniel Zapelli und erklärte sich zur Zusammenarbeit bereit. Am 31. August 2012 wurde er im Rahmen eines Rechtshilfeverfahrens von Ende 2011 in Genf verhaftet und ins Gefängnis Champ-Dollon überführt. Die übrigen hochrangigen Beschuldigten wurden bereits 2010/2011 aus der Haft entlassen und später freigesprochen.

Im Juni 2014 befand das Genfer Kantonsgericht, Sperisen habe bei der Erstürmung des Gefängnisses „El Pavón“ an der Ermordung von sechs Gefangenen mitgewirkt und einen weiteren eigenhändig erschossen. Man glaubte dabei einem französischen Zeugen, der damals in Pavón inhaftiert war und den Mord durch Sperisen gesehen haben will. Von der Beteiligung an der Ermordung der drei Häftlinge, die 2005 aus dem Gefängnis „El Infiernito“ geflohen waren, wurde er freigesprochen. Das Kantonsgericht verurteilte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Sowohl Sperisen, der die Vorwürfe stets bestritt und die Morde als Folge einer bewaffneten Auseinandersetzung darstellte, als auch die Staatsanwaltschaft legten Berufung ein.

Am 12. Mai 2015 bestätigte die Berufungskammer des Kantonsgerichts das erstinstanzliche Urteil. Zudem wurde Sperisen nun doch der Beteiligung an der Ermordung der drei 2005 aus dem Gefängnis „El Infiernito“ geflohenen Häftlinge für schuldig befunden und erneut zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sperisen legte beim Bundesgericht Beschwerde ein.

Schwerwiegende Verfahrensmängel

Im Juni 2017 hob das Bundesgericht das Urteil wegen schwerwiegender Verfahrensmängel auf und wies es zur Neubeurteilung an das Genfer Kantonsgericht zurück. Die kantonalen Instanzen hätten bei der entscheidenden Frage, ob Sperisen tatsächlich für die Ereignisse verantwortlich sei, die ihm gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zustehenden Garantien nicht ausreichend gewährt und die Beweise seien teilweise ungenügend begründet und willkürlich gewürdigt worden. In der Anklage betreffend den Vorfall im Gefängnis „El Infiernito“ sei der Tatvorwurf zu wenig präzise umschrieben worden. Das Bundesgericht rügte zudem eine „Verletzung der Unschuldsvermutung“, insbesondere in Bezug auf die freigesprochenen angeblichen Mitverschwörer Vielmann, Figueroa und Giammattei.

Im Vorfeld des Wiederaufnahmeverfahrens hatte Staatsanwalt Yves Bertossa (Bild unten) versucht, die Anklage hilfsweise um den Tatbestand der Unterlassung zu ergänzen. Sein Antrag wurde von der Berufungskammer des Genfer Kantonsgerichts abgelehnt, die Verteidiger Sperisens zeigten sich empört. Der ehemalige guatemaltekische Präsident Óscar Berger reiste nach Genf, um wie schon im Prozess gegen Figueroa zugunsten Sperisens auszusagen, wurde aber nicht als Zeuge zugelassen.

Am 27. April 2018 verurteilte die Berufungskammer des Genfer Kantonsgerichts Sperisen wegen Beihilfe zum Mord an sieben Gefangenen zu 15 Jahren Haft. Die Anklage wegen der Ermordung eines Gefangenen im Gefängnis „El Pavón“ im Jahr 2006 wurde fallengelassen, von der Beihilfe zur Ermordung von drei Gefangenen im Gefängnis „El Infiernito“ im Jahr 2005 wurde er freigesprochen. Sperisen zog das Urteil erneut ans Bundesgericht weiter.

Bundesgericht bestätigt Urteil – EMGR korrigiert

2019 bestätigte das Bundesgericht die Freiheitsstrafe; das Urteil sei rechtskräftig. Sperisens Anwälte kündigten an, das Urteil nicht zu akzeptieren und es an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen. Die Anwälte kritisierten, dass die Schweizer Justizbehörden die elementarsten Anforderungen an ein faires Verfahren, insbesondere das Recht auf ein unparteiisches Gericht, missachtet hätten.

Im Jahr 2023 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einer Beschwerde von Sperisen gegen das Urteil des Genfer Kantonsgerichts statt; er erhielt von der Schweiz eine Entschädigung von rund 15’000 Franken, weil sein Recht auf ein unparteiisches Gericht verletzt worden sei.

Weitere von Sperisen vorgebrachte Rügen, insbesondere bezüglich seiner Inhaftierung, wurden als unzulässig abgewiesen. Staatsanwalt Bertossa verstieg sich danach in die Behauptung, der EGMR-Entscheid sei falsch und für die Schweiz nicht verbindlich. Doch das Bundesamt für Justiz liess die Frist für eine Anfechtung ungenutzt verstreichen. Sperisen wurde im Oktober 2023 nach elf Jahren aus der Haft entlassen.

Erneute Anklage

Der vierte Prozess gegen den ehemaligen Chef der guatemaltekischen Nationalpolizei findet vom 2. bis 13. September vor dem Appellationsgericht in Genf statt. Sperisen wird erneut vorgeworfen, 2006 an der Ermordung von sieben Gefangenen in Guatemala beteiligt gewesen zu sein.  Über einen Befangenheitsantrag gegen die leitende Richterin in diesem vierten Prozess hat das Bundesgericht noch nicht entschieden. Die Anwälte von Sperisen bemängeln eine zu grosse Nähe zwischen der Richterin und dem anklagenden Staatsanwalt.

Das wahre Motiv für Bertossas Kampf gegen Sperisens Freilassung liegt für Experten auf der Hand. Mit der überlangen Untersuchungshaft von fünf Jahren habe sich die Genfer Justiz selbst unter Erfolgszwang gesetzt. Laut „Weltwoche“ macht der Strassburger Entscheid „die Jäger nun endgültig zu Gejagten“. Denn die Freilassung Sperisens schaffe ein Präjudiz, das in einem allfälligen neuen Prozess gegen einen erneuten Schuldspruch spreche. Dies umso mehr, als alle bisher an dem unfairen Verfahren beteiligten Richter wegen Befangenheit in den Ausstand treten müssten. Nicht nur Experten sind gespannt, wie die Genfer Justiz dieses Problem lösen wird.

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