Fall Wilson A. – Warum kann ein Fall so lange dauern? Erneuter Freispruch – Endstation Bundesgericht?

Vor fast 15 Jahren, im Oktober 2009 geriet Wilson A. in Zürich in eine Polizeikontrolle, bei der er durch die Polizei so stark verletzt wurde, dass er beinahe daran starb. Noch im gleichen Jahr erhob er Anklage gegen die drei Beamt:innen Anklage. Es folgte ein jahrelanger Gang durch die Institutionen, der auch 15 Jahre danach noch nicht beendet ist. Bei Prozessbeginn sassen fünfzig Wilson-Unterstützer im Saal – sehr zum Unwillen des vorsitzenden Richters.

Am 19. Oktober 2009, kurz nach ein Uhr, fährt Wilson A. mit einem Freund im Tram nach Hause. Bei der Haltestelle Werd steigen ein Polizist und eine Polizistin zu. Sie fragen A. und seinen Begleiter nach ihren Ausweisen. Wilson A. fragt nach dem Grund der Kontrolle und ob seine dunkle Hautfarbe etwas damit zu tun habe. A. weist die Polizisten darauf hin, dass er nicht angefasst werden möchte, da er vor kurzem eine Herzoperation hatte. Sie erklären sich bereit auszusteigen.

Beim Bahnhof Wiedikon kommt ein weiterer Polizist dazu. Kurz darauf eskaliert die Situation. Laut Anklageschrift wurde Wilson A. Pfefferspray ins Gesicht gespritzt, er wurde rassistisch beschimpft, mit Fäusten und Schlagstöcken traktiert und gewürgt. Übereinstimmend sagten die drei Angeklagten (eine 46-jährige Polizistin I., einen heute 37-jährigen Polizisten B. sowie den 48-jährigen Patrouillenführer Z.) vor Gericht, Pfefferspray, «rohe Körperkraft» und Schlagstöcke eingesetzt zu haben. Wilson A. sei durch Z. gewürgt worden, als er bereits mit Handschellen gefesselt auf dem Bauch am Boden lag. Das wurde dementiert.

Wilson A. sagte der «Wochenzeitung»“ 2018: «Ich konnte kaum atmen, wegen des Pfeffersprays und des Würgegriffs. Ich konnte nicht mehr laufen.» Die Ärzte im Krankenhaus stellten später Quetschungen und Prellungen an Hals, Nacken und Kiefer, einen Wirbelsäulenbruch, eine Leistenzerrung und eine Augenentzündung fest. Das Gewebe um Wilson A.s Herzschrittmacher war stark angeschwollen und mit Blutergüssen übersät. Im Polizeibericht hiess es, Wilson A. habe keine Verletzungen. A. erstattete gegen die drei BeamtInnen Anzeige. Alle drei gelten als unschuldig.

Eine Staatsanwältin ohne Klagewille – drei Mal wird eingestellt

Zweieinhalb Monate nach dem Vorfall erstattet der Anwalt von Wilson A., Bruno Steiner, Anzeige. Da es sich um ein Verfahren gegen Beamte handelt, wird die Staatsanwaltschaft „Besondere Untersuchungen“ aktiv. Eine besondere Staatsanwältin wird beauftragt die Voruntersuchungen zu führen. Zu prüfen sind die Anklagepunkte: versuchte schwere Körperverletzung und Gefährdung des Lebens; Amtsmissbrauch und Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot (Racial-Profiling-Personenkontrolle); falsche Anschuldigung (Strafanzeige gegen Wilson A. wegen Gewalt und Drohung)

In den folgenden Monaten führt die Staatsanwältin zuerst die Befragungen mit den Beamt:innen durch, später diejenigen mit den Klägern. Im Dezember 2010 will sie das Verfahren darauf einstellen. Die Kläger legen daraufhin eine Beschwerde ein, die vom Obergericht gutgeheissen wird. Bemerkenswert dabei: Kläger Wilson A. wäre beinahe im Krankenhaus an den Folgen der ihm von der Polizei zugefügten Verletzungen gestorben. Die Polizist:innen dementieren nicht ihn kontrolliert zu haben, eine ärztliche Attestierung und Dokumentation der Verletzungen liegt vor. Insgesamt drei Mal möchte die Staatsanwältin das Verfahren einstellen, wogegen die Kläger jeweils Beschwerde einlegen. Das Obergericht entscheidet fast immer zu Gunsten der Staatsanwältin.

Erst 2014 urteilt das Bundesgericht, dass der Fall zur Anklage gebracht werden muss. Aufgrund der Weigerung der Staatsanwältin, den Fall vor Gericht zu bringen, stellen die Kläger ein Ausstandsbegehren gegen sie. Dieser wird in allen Instanzen abgelehnt, sodass die erste Gerichtsverhandlung erst im November 2016, sieben Jahre nach dem Vorfall stattfinden kann. Bei der Verhandlung am Bezirksgericht taucht sie nicht auf. Der verhandelnde Einzelrichter stellt während dieses Prozesses fest, dass aufgrund des Arztberichts durchaus Lebensgefahr bestanden haben könnte. Deshalb weist er die Anklageschrift an die Staatsanwältin zurück und beauftragt sie, die Klage um den Punkt „Gefährdung des Lebens“ zu ergänzen, so dass der Fall vor dem Kollegialgericht verhandelt werden muss.

Wieder gibt es ein Ausstandsgesuch für die Staatsanwältin, das erneut abgelehnt wird. Im April 2018 kommt es dann zur Hauptverhandlung, also zur ersten Verhandlung, gegen die drei Beamt:innen. Die Staatsanwältin, also die Klägerin, plädiert auf Freispruch. Daraufhin werden die Polizist:innen freigesprochen.

Plötzlich ohne Anwalt

Wegen gesundheitlicher Probleme muss der bisher tätige Rechtsanwalt Bruno Steiner kurz darauf den Fall niederlegen. Walder übernimmt das Mandat und legt gegen das Urteil des Bezirksgerichts Beschwerde ein. Kurz darauf widerruft er diese für zwei Polizist:innen, so dass nur noch der Gruppenleiter angeklagt ist und die anderen als Zeugen einvernommen werden könnten. Da der neue verfahrensleitende Oberrichter dies nicht tut, stellen sie einen Ausstandsbegehren gegen den Oberrichter ein. Dieser wird von einer anderen Strafkammer abgelehnt.

Hinzu kommt eine neue Wendung in dieser Geschichte, die dem Kläger das Leben schwer macht. RA Steiner gab sein Mandat an RA Walder ab, war aber weiterhin unentgeltlich beratend tätig. Der Oberrichter stellte den Anwälten trotzdem die Frage, wer die Pflichtverteidigung übernehme. Beide Anwälte stellten klar, dass RA Walder die Pflichtverteidigung übernehme. Trotzdem wird RA Walder vom Oberrichter ein halbes Jahr später entlassen. Wilson A. muss innerhalb von fünf Tagen (inkl. Wochenende) einen neuen Verteidiger finden. Wilson A. steht auf einmal ohne Verteidiger da. Ob dies mit dem auf den Oberrichter angesetzten Ausstandsbegehren zusammenhängt, kann nicht geprüft werden.

RA Steiner als beratender Anwalt bittet den Vorsitzenden Richter erneut in den Ausstand zu treten. Zudem wird die Berufungsverhandlung abgesagt, da RA Steiner schwer erkrankt ist. Der Befangenheitsantrag gegen den zuständigen Oberrichter wird über mehrere Instanzen verhandelt. Im März 2023 verstirbt RA Steiner, im August wird RA Walder wieder als amtlicher Verteidiger eingesetzt, nachdem das Bundesgericht den Oberrichter für befangen erklärt hat. Die Berufungsverhandlung ist auf den 15. Februar 2024 angesetzt.

Das Verfahren hat somit bis heute fast 15 Jahre gedauert. Verschiedene Anklagepunkte sind bereits verjährt. Dass sich dieses Verfahren bis zum heutigen Tag hinzieht, liegt daran, dass die Staatsanwältin dieses Verfahren nie zur Anklage bringen wollte und dass ein Oberrichter den Pflichtverteidiger des Klägers plötzlich aus dem Amt entlassen hat. Alles mussten der Kläger und seine Anwälte mit Berufungen und Ausstandsbegehren anfechten, um heute überhaupt wieder in einer Verhandlung sitzen zu können.

Racial Profiling in der Schweiz

In der Schweiz ist Racial Profiling verboten. Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus EKR hält auf ihrer Homepage fest, dass Racial Profiling eine Persönlichkeitsverletzung darstellt und gegen die Rassismusstrafnorm verstösst. In der Schweiz kam es bisher noch zu keiner Verurteilung von Polizeibeamt:innen unter diesem Anklagepunkt. Es gibt kaum offizielle Zahlen oder Studien zu diesem Thema.

Die Ombudsstelle der Stadt Zürich weist in mehreren Jahresberichten (2010 und 2014) auf das Problem des Racial Profilings hin und schildert Fälle, die mit der Stadtpolizei besprochen werden mussten. Zahlen zur Annäherung an das Thema kommen vor allem von NGO’s.

Das „Beratungsnetz für Rassismusopfer“ zählte zuletzt im Jahr 2022 schweizweit 45 Diskriminierungsbeschwerden gegen die Polizei. Eine umfangreichere Studie eines neunköpfigen Forschungsteams, die sich mit Erfahrungsberichten zu Racial Profiling auseinandersetzte, wurde 2019 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung publiziert. Verschiedenste Stellen prangern das Problem in der Schweiz an. Dagegen vorzugehen, so zeigt auch der Fall von Wilson A., stösst auf grossen Widerstand von Seiten der Justiz.

Zuonline, das den Fall direkt aus dem Gerichtssaal kommentiert beschreibt, dass 50 Wilson-Unterstützer bei Prozessbeginn im Saal sassen – sehr zum Unwillen des Richters, der zur Ruhe mahnte. Es gehe vor Obergericht allein um eine Rechtsfrage. «Politische Äusserungen dulde ich hier nicht.»

Dennoch raunte das Publikum, als Polizist Z. in der Befragung sagte, das lange Verfahren belaste ihn privat. Worauf der Richter erneut mahnte: «Ich sage es nicht noch einmal.» Wenn keine Ruhe einkehre, schliesse er die Öffentlichkeit aus. Schon zuvor hatten die Anwesenden mit spürbarer Unruhe reagiert: Als der Richter erklärte, es gehe nicht um die Frage, ob Wilson A. zu Unrecht kontrolliert worden sei. «Die Anklagebehörden gehen davon aus, dass die Kontrolle zu Recht erfolgte. Racial Profiling ist nicht eingeklagt», sagte der Richter. Damit kann das Gericht auch nicht über diese Frage befinden: Was nicht eingeklagt wird, darf nicht beurteilt werden. Das Urteil zu den eingeklagten Vorwürfen wird von allen gespannt erwartet.

UPDATE:

Das Zürcher Obergericht bestätigte  den Freispruch des Bezirksgerichts Zürich vom April 2018. Wie schon das Bezirksgericht sprach das Obergericht den Polizisten vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens frei. Gemäss Urteil habe der Polizist den damals 36-jährigen Privatkläger Wilson A. nicht gewürgt und auch sonst keine unangemessene Gewalt angewendet. Viel mehr habe der Privatkläger die Eskalation durch sein Verhalten verursacht. Der Richter wies die Vorwürfe von Racial Profiling, die der Anwalt des Privatklägers erhob, zurück. Das Urteil des Obergerichts wird wohl ans Bundesgericht weitergezogen werden.

 

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