Wenn es an internationaler Gerechtigkeit mangelt, erscheinen Bürgertribunale als ein Mittel, um die Justiz in Gang zu bringen, wenn der Wille der Staaten nicht vorhanden ist. Nach dem historischen Vorbild des Russell-Tribunals von 1967 wurde festgestellt, dass die Amerikaner während des Vietnamkriegs verbotene Waffen eingesetzt hatten, wie der französische Historiker Guillaume Mouralis betont. Er erkennt in den heutigen Nachahmern eine ähnliche Mischung aus juristischer Strenge und Kreativität.
VON CLÉMENTINE MÉTÉNIER (FÜR JUSTICE INFO)
Warum schreiben Sie jetzt über das Russell-Tribunal von 1967?
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Massenverbrecherprozessen, die nach einem Konflikt oder einem politischen Regimewechsel stattfinden. Meine Dissertation befasste sich mit den Prozessen gegen ehemalige DDR-Beamte und Agenten nach der deutschen Wiedervereinigung. Anschliessend habe ich ein Buch über die Nürnberger Prozesse veröffentlicht, in dem ich die Grenzen untersuche, die den amerikanischen Gestaltern der Prozesse bei der Definition der wichtigsten Kategorien des internationalen Strafrechts auferlegt wurden – insbesondere des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das für diese Prozesse geschaffen wurde. Anschliessend wende ich mich der Frage zu, wie Aktivisten und Künstler sich diese Prozesse nach 1946 aneigneten und auf sie zurückgriffen, insbesondere auf das Russell-Tribunal, das 1967 versuchte, die Amerikaner mit den Prinzipien zu konfrontieren, die sie selbst für Nürnberg aufgestellt hatten. Der Vietnamkrieg bedeutete eine grosse Abweichung von diesen Grundsätzen.
Anhand des Russell-Tribunals möchte ich zeigen, dass das Völkerrecht auch von inoffiziellen Akteuren konstruiert, interpretiert und praktiziert wird und nicht nur in den Händen von anerkannten Spezialisten liegt. Recht und Gerechtigkeit können mächtige Instrumente der Emanzipation und Befreiung sein. Es war daher interessant, dieses originelle Experiment der Subjektivierung des internationalen Strafrechts im Detail zu studieren, zu einer Zeit, als es noch kein ständiges Tribunal gab, das über internationale Verbrechen urteilen konnte. Darüber hinaus war dieses juristische Experiment der Ausgangspunkt für eine reiche Tradition der Bürgerjustiz, die bis heute andauert.
Was sind die Ursprünge des Russell-Tribunals?
Nach den Nürnberger Prozessen im Jahr 1946 erwogen die Vereinten Nationen die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Doch aufgrund des Kalten Krieges und der Weigerung der Grossmächte UdSSR und USA wurde das Projekt begraben und erst in den 1990er Jahren wieder aufgegriffen, was zur Gründung des IStGH führte. Die Idee des britischen Mathematikers und Philosophen Bertrand Russell war es, ein Tribunal nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals zu schaffen. Er war der Ansicht, dass es in Ermangelung einer ständigen internationalen Gerichtsbarkeit, die in der Lage wäre, das internationale Strafrecht anzuwenden, an den Bürgern läge, dieses Recht wahrzunehmen und durchzusetzen.
Wie unterscheidet sich dieses Tribunal von „offiziellen“ Tribunalen?
Es handelte sich um ein selbsternanntes Tribunal, nicht um ein offizielles. Dies ist das Prinzip der Bürgertribunale, die sich in den folgenden Jahren immer mehr ausbreiten sollten. Sie werden ausserhalb internationaler Organisationen und Gremien von normalen Bürgern eingerichtet, auch wenn ihnen oft Juristen angehören. Die Mitglieder von Bürgertribunalen nehmen die internationale Justiz im Allgemeinen ernst: Sie führen gründliche Untersuchungen durch, sammeln Beweise und befolgen präzise Verfahren. Ziel ist es, erst nach gründlichen Ermittlungen ein Urteil zu fällen, wobei nach Möglichkeit Expertenmeinungen und zuverlässige Zeugenaussagen herangezogen werden. Nach der Durchführung dieser Gegenuntersuchungen werden öffentliche Sitzungen organisiert, in denen die Beweise vor einer Jury präsentiert werden.
Diese Gerichte behaupten zwar, die internationale Justiz zu imitieren, verfügen aber offensichtlich nicht über dieselben Mittel. In der Praxis unterscheiden sie sich von offiziellen Tribunalen: Zum einen sind nicht alle Parteien, die traditionell in einem Prozess vertreten sind, anwesend, und es gibt im Allgemeinen keine Verteidigung. Meistens weigern sich die angeklagten Staaten, das Spiel mitzuspielen, schicken keinen Anwalt und bringen keine Argumente vor. Andererseits gibt es eine Art Verwirrung zwischen den Funktionen des Richters und des Anklägers, zwischen dem Richter und dem Staatsanwalt, wobei die Geschworenen abwechselnd diese beiden normalerweise getrennten Funktionen übernehmen. Der andere grosse Unterschied besteht darin, dass ein Bürgergericht keine Zwangsbefugnisse hat: Es kann keine Verhaftungen oder Durchsuchungen vornehmen, keine Zeugen zum Erscheinen zwingen usw. Es sind schwache Gerichte, die sich ihrer Schwäche bewusst sind, aus der sie paradoxerweise versuchen, ihre Stärke zu beziehen.
Erzählen Sie uns etwas über das Russell-Tribunal…
Bertrand Russell wurde im Jahr 1872 geboren. Damit war er 1967 95 Jahre alt! Er war ein Intellektueller, der für seinen Pazifismus bekannt wurde, da er sich weigerte, im Ersten Weltkrieg zu dienen. Anfang der 1960er Jahre gründete er die Bertrand Russell Peace Foundation, die sich der Unterstützung aller Länder widmete, die unter imperialistischer Aggression litten. Unterstützt wurde er von einem Team junger, radikaler Dritte-Welt-Aktivisten mit engen Verbindungen zu Che Guevara und Kuba. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Russell-Tribunal von Anfang an hochgradig politisiert war und sich dies zu eigen machte, um zu zeigen, dass es mit einem juristischen Ansatz nicht unvereinbar ist. Diese angenommene Politisierung hat all jenen Argumente geliefert, die das Tribunal kritisiert haben und es von Anfang an als parteiisch anprangerten.
1966 setzte Russell eine internationale Jury aus 24 Intellektuellen, Schriftstellern, Politikern und Gewerkschaftsführern ein, die 18 Nationalitäten vertraten, zur Hälfte aus der westlichen Welt und zur Hälfte aus dem „globalen Süden“ (Japan, Kuba, Pakistan, Philippinen, Türkei und andere). Zu der ersten Gruppe gehörten drei afroamerikanische Führer. Russell wandte sich in Frankreich an Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, der zum Vorsitzenden des Tribunals ernannt wurde. Nach der Konstituierung der Jury richteten die Organisatoren kollektive Erkundungsmissionen nach Vietnam ein, die sich aus Experten – Ärzten, Chemikern, Agrarwissenschaftlern, Historikern und Juristen – zusammensetzten. Sie waren Vertreter der radikalen „Neuen Linken“ und Revolutionäre der Dritten Welt, die nicht mit der Sowjetunion verbündet waren.
Die UdSSR, die osteuropäischen Länder und China unterstützten das Russell-Tribunal nicht. Es überrascht nicht, dass eine solche „Bürgerinitiative“ von diesen autoritären Ländern mit Misstrauen betrachtet wurde. Die amerikanische Regierung zeigte sich im Sommer 1966 besorgt über das Tribunal und organisierte eine Gegenpropagandakampagne, an der das Aussenministerium, das FBI, die CIA und der militärische Geheimdienst beteiligt waren. In den Vereinigten Staaten war diese Operation erfolgreich, wenn man die sehr negative Medienberichterstattung über die Aktivitäten des Tribunals und die persönlichen Angriffe gegen Russell betrachtet.
Wie liefen die Ermittlungen und die öffentlichen Sitzungen ab?
Bertrand Russell und sein Sekretär Ralph Schoenman, Dreh- und Angelpunkt des Tribunals, standen in Kontakt mit den nordvietnamesischen Behörden und der Front für die Befreiung Südvietnams (FNL), die die Ermittlungsarbeit des Tribunals unterstützten. Die vietnamesischen Behörden waren Gastgeber von fünf kollektiven Erkundungsmissionen auf ihrem Territorium, so dass sich die Ermittler mit eigenen Augen von den Kriegsverbrechen der US-Armee überzeugen konnten. Vor Ort zeigten sie den Ermittlern die von der amerikanischen Luftwaffe bombardierten zivilen Einrichtungen, die eindeutig keine militärischen Ziele waren (Dämme und Deiche, Schulen, Krankenhäuser usw.).
Die Ermittler befragten, fotografierten und nahmen Bombenproben. Das Russell-Tribunal lieferte den Beweis dafür, dass die US-Armee in grossem Umfang Waffen einsetzte, die nach dem Kriegsrecht verboten sind: chemische Waffen und Streubomben, die keinen direkten militärischen Zweck verfolgten und Zivilisten unnötig verstümmelten. Der Physiker Jean-Pierre Vigier erstellte einen sehr detaillierten Bericht über die letztgenannte Waffenkategorie und zwang die amerikanischen Behörden, den „begrenzten“ Einsatz von „Streubombeneinheiten“ einzuräumen. Die Ermittlungsarbeit des Tribunals war also seriös und detailliert und ist in den in mehreren Sprachen veröffentlichten Prozessprotokollen (zwei Bände mit fast 800 Seiten, auf Französisch bei Gallimard erschienen) ausführlich dokumentiert.
Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung waren sowohl in Nord- als auch in Südvietnam massiv. Im Norden kam es zu wahllosen Bombardierungen, im Süden zu gross angelegten Zwangsumsiedlungen: Hunderttausende Vietnamesen wurden in „strategische Weiler“ umgesiedelt, wie die Amerikaner es nannten, die vom Russell-Tribunal als „Konzentrationslager“ bezeichnet wurden. Auch Folterungen durch den amerikanischen Militärgeheimdienst waren weit verbreitet.
Das Russell-Tribunal veranstaltete anschliessend zwei öffentliche Sitzungen. Die erste – vom 2. bis 10. Mai 1967 in Stockholm, Schweden – befasste sich mit zwei rechtlichen Fragen: Hatte die US-Regierung Angriffshandlungen gegen Vietnam begangen und sich damit jenes schweren Verbrechens nach internationalem Strafrecht schuldig gemacht, für das die Nazis in Nürnberg und die Japaner in Tokio angeklagt wurden? Wurden auch rein zivile Ziele bombardiert, die nicht den militärischen Erfordernissen entsprachen? Die zweite Sitzung fand vom 20. November bis 1. Dezember 1967 in Roskilde, einem Vorort von Kopenhagen, statt. Sie untersuchte die folgenden drei Fragen: Hatten die US-Streitkräfte Waffen eingesetzt, die nach dem Kriegsrecht verboten sind? Wurden Kriegsgefangene und Zivilisten einer nach dem Kriegsrecht verbotenen unmenschlichen Behandlung unterzogen? Hat sich die US-Regierung des Verbrechens des Völkermordes an der vietnamesischen Bevölkerung schuldig gemacht?
Wer nahm an diesen Sitzungen teil?
In diesen beiden öffentlichen Sitzungen wurden über hundert Zeugen und Sachverständige von den Geschworenen angehört: Experten, die an den Untersuchungsausschüssen teilgenommen hatten, aber auch Journalisten, Fotografen und berühmte Filmemacher. Zahlreiche Bilder wurden projiziert: Die Leinwand nahm einen zentralen Platz im Rahmen des Prozesses ein. Ein grosses, kämpferisches und partizipatives Publikum nahm an den Sitzungen teil. Auf diese Weise hoben sich die Sitzungen von der Feierlichkeit offizieller Gerichtsprozesse ab.
Unter den Zeugen befanden sich auch acht Vietnamesen. In Stockholm zeigten sie den Geschworenen auf recht demonstrative Weise ihre Wunden. Unter ihnen befand sich Do Van Ngoc, ein 9-jähriges Kind, das durch Napalm verbrannt wurde und sich bereit erklärte, sich nackt auszuziehen. Die Aussage der Lehrerin Ngo Thi Nga, die durch eine Streubombe verletzt wurde, war ein weiterer Höhepunkt des Prozesses. Diese Zeugenaussagen, über die die Presse berichtete, hinterliessen einen bleibenden Eindruck. Das Russell-Tribunal widmete den Arten von Gewalt, die damals kaum erwähnt wurden, grosse Aufmerksamkeit: Gewalt gegen Kinder, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen. Erst viel später wurden diese Arten von Gewalt in internationalen Texten präzisiert und definiert. Darüber hinaus wurde die spezifisch rassistische Dimension der amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam von den Sachverständigen und schliesslich auch von den Geschworenen deutlich hervorgehoben, die auch die prekäre Situation der Afroamerikaner in der amerikanischen Armee aufzeigten. Das Russell-Tribunal erwies sich somit als Vorreiter bei der Aufarbeitung von Verbrechen, die noch relativ unbestimmt sind.
Während der zweiten Sitzung in Roskilde sagten drei demobilisierte amerikanische Soldaten vor den Geschworenen aus. Nach einer Informationsreise in die USA gelang es der antikolonialen Anwältin Gisèle Halimi, drei Soldaten, darunter den schwarzen Soldaten David Tuck, für den Zeugenstand zu gewinnen. Sie alle sprachen über die weit verbreitete Praxis der Folterung von Kriegsgefangenen und betonten, dass Hinrichtungen im Schnellverfahren an der Tagesordnung waren. Dies war das erste Mal, dass sich amerikanische Soldaten öffentlich zu diesem Thema äußerten. Man darf nicht vergessen, dass 1967 der Beginn des amerikanischen Krieges in Vietnam war; die Anti-Kriegs-Protestbewegung sollte erst 1968 an Schwung gewinnen.
Was waren die Schlussfolgerungen?
Am Ende der ersten Sitzung erklärte das Russell-Tribunal, dass die US-Regierung das Verbrechen der Aggression im Sinne der Definition von 1945 begangen hatte. Es kam auch zu dem Schluss, dass die Bombardierungen massiv gegen zivile Ziele gerichtet waren und damit gegen das Kriegsrecht verstiessen. Am Ende der zweiten Sitzung stellten die Geschworenen fest, dass verbotene Waffen eingesetzt worden waren, insbesondere chemische Waffen wie Entlaubungsmittel, Napalm und weisser Phosphor, wobei die beiden letzteren irreversible Schäden verursachten und die Körper von innen heraus verbrannten. Es erklärte die amerikanische Regierung für die unmenschliche Behandlung von Gefangenen und Zivilisten verantwortlich, einschliesslich der massenhaften Zwangsumsiedlung von Bevölkerungsgruppen, der organisierten Prostitution von Frauen und Sexualverbrechen in grossem Massstab. Sie kam zu dem Schluss, dass sich diese Regierung des Verbrechens des Völkermords am vietnamesischen Volk schuldig gemacht hat. In einem dichten, detaillierten und besonders bemerkenswerten Text hat Jean-Paul Sartre die Argumentation des Tribunals zu diesem entscheidenden Teil des Urteils ausführlich dargelegt.
Welchen Wert und welche Tragweite haben diese Schlussfolgerungen?
Der juristische und juristische Ansatz des Russell-Tribunals ist nicht frei von Zweideutigkeiten. Ursprünglich kündigte Russell der Presse an, dass US-Präsident Lyndon Johnson, sein Aussenminister Dean Rusk und andere führende amerikanische Politiker vor das Tribunal gestellt würden. Dies erwies sich jedoch bald als unrealistisch und politisch kontraproduktiv. Die beiden skandinavischen Länder, die sich – im Gegensatz zu Frankreich und dem Vereinigten Königreich – bereit erklärten, die öffentlichen Sitzungen auszurichten, taten dies unter der Bedingung, dass keine individuellen Anklagen gegen einen offiziellen Vertreter eines ausländischen Staates und Verbündeten erhoben würden.
Das Tribunal zog es daher vor, sich darauf zu beschränken, die allgemeine Verantwortung der amerikanischen Regierung festzustellen, ohne die Verantwortlichen einzeln zu benennen. Dies ist bei den Urteilen von Bürgertribunalen fast immer der Fall. Sie verzichten in der Regel auf eine individuelle Schuldzuweisung innerhalb der Logik des Völkerstrafrechts und wählen einen eher hybriden, rechtlich unbestimmten Ansatz, der das Völkerstrafrecht anwendet, aber keine individuelle Verantwortung feststellt.
Wurden diese Verbrechen jemals von offiziellen Gerichten untersucht?
Was Vietnam betrifft, so wurden amerikanische Kriegsverbrechen fast nie von nationalen oder internationalen Gerichten untersucht und verurteilt. Es gab zwar einige wenige Prozesse gegen amerikanische Soldaten vor einem Kriegsgericht, aber diese waren sehr begrenzt. Das Russell-Tribunal ist das einzige mehr oder weniger gerichtliche Gremium, das sich mit diesen Verbrechen befasst hat. In der Folgezeit wurden in den Vereinigten Staaten weitere Untersuchungskommissionen für Bürger eingerichtet. So führte eine Gruppe ehemaliger Soldaten in den frühen 1970er Jahren eine eingehende Untersuchung der amerikanischen Kriegsverbrechen durch. Die Aufklärung dieser Verbrechen war in erster Linie eine „Bürgerinitiative“.
Sie bevorzugen den Begriff „Bürgergericht“ gegenüber den oft verwendeten Begriffen „Meinungsgericht“, „Volksgerichtshof“ oder „Volkstribunal“? Warum eigentlich?
Das Vokabular ist nicht sehr zufriedenstellend. In Frankreich wurde zuerst der Begriff „Meinungstribunal“ verwendet, weil es darum geht, die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen, indem Beweise dafür erbracht werden, dass massive Verbrechen unter Missachtung der internationalen Regeln begangen wurden. Diese Tribunale erneuern das Repertoire kollektiver Aktionen: Sie ersetzen die klassischen Massnahmen der politischen Mobilisierung – Petitionen, Demonstrationen und Versammlungen – durch ein gerichtliches oder parajuristisches Vorgehen, ohne die anderen auszuschliessen. Sie sind ein neues Instrument zur Durchsetzung militanter Anliegen.
In der angelsächsischen Welt wird häufig der Begriff „Volksgerichtshof“ verwendet – ein problematischer Begriff angesichts der historischen Konnotation der von autoritären oder totalitären Regimen eingerichteten Tribunale. Man denke nur an Nazi-Deutschland mit seinem Volksgerichtshof oder die stalinistische UdSSR. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks ziehe ich es daher vor, von einem „Bürgergericht“ zu sprechen, auch wenn der Begriff „Bürger“ ein wenig überstrapaziert ist. Man könnte es auch besser als „nichtstaatliches Gericht“ bezeichnen, denn genau das ist es.
Was hat das Russell-Tribunal mit den heutigen Bürgergerichtshöfen gemeinsam?
Das Russell-Tribunal ist ein Sonderfall, der sich teilweise von den späteren Bürger-Tribunalen unterscheidet. Es gab fünf weitere „Russell“-Tribunale (unterstützt von der Russell-Stiftung), zuletzt das Russell-Tribunal zu Palästina von 2009 bis 2014, an dem auch Gisèle Halimi beteiligt war. Während das Russell-Tribunal zu Vietnam von einer kontrollierten Politisierung des Völkerrechts ausging, achten die neueren Bürgertribunale mehr auf die Einhaltung einer gewissen richterlichen Neutralität. Meiner Meinung nach liegt die Stärke der interessantesten Bürgertribunale, wie das von 1967, in der eingehenden Gegenuntersuchung.
Sie haben das Uiguren-Tribunal verfolgt, das von Juni bis Dezember 2021 in London stattfand und zu dem Schluss kam, dass Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden waren. Wie haben Sie es erlebt, mit Blick auf das Russell-Tribunal?
Das Londoner Tribunal tritt ausdrücklich in die Fussstapfen des Russell-Tribunals und führt dessen Erbe fort. Aber die Arbeitsweise war anders. Internationale Juristen hatten einen prominenteren Platz in der Jury; der Gerichtspräsident Geoffrey Nice war Hauptankläger im Prozess gegen [den ehemaligen serbischen Präsidenten] Slobodan Milosevic. Die juristische Arbeit war zweifellos gründlicher: Das Uiguren-Tribunal in London versuchte nachzuweisen, dass die chinesische Regierung für den Völkermord am uigurischen Volk verantwortlich ist. Dabei stützte es sich auf eine genaue Lektüre und eine sehr präzise Auslegung der Völkermordkonvention von 1948. Im Gegensatz dazu war die Kategorie des Völkermordes im Jahr 1967 eine terra incognita: Zu diesem Zeitpunkt war sie praktisch noch nie von einem Gericht angewandt oder interpretiert worden.
Das Uiguren-Tribunal war wahrscheinlich nicht in der Lage, eine so gründliche Untersuchung vor Ort durchzuführen wie das Vietnam-Tribunal, da der Zugang in China per definitionem unmöglich ist. Die chinesischen Behörden untersagten jegliche Untersuchung. Die Ermittlungen stützten sich beispielsweise auf „undichte Stellen“, d. h. auf offizielle Dokumente, die von Informanten an die Öffentlichkeit gelangten und kriminelle Praktiken aufdeckten. Diese Dokumente mussten analysiert und interpretiert werden, eine mühsame und weitreichende Aufgabe…
Im Jahr 2021 wie 1967 waren die Ermittlungen dennoch rigoros und die juristische Kreativität unbestreitbar; die beiden Tribunale schlugen daher, jedes auf seine Weise, eine etwas heterodoxe Interpretation des Völkermords vor. Einerseits, wie Sartre sagt, geht in Vietnam „die Absicht aus den Tatsachen hervor“. Andererseits ging es in Xinjiang um Völkermord durch Bevölkerungsreduzierung durch brutales demographisches Engineering.
Was ist mit dem ständigen Volkstribunal?
Das PPT (Permanent People’s Tribunal) wurde 1979 eingerichtet. Es war ein Projekt, das von einer der führenden Persönlichkeiten des Russell-Tribunals, dem italienischen sozialistischen Abgeordneten Lelio Basso, vorangetrieben wurde, der eine sehr wichtige Rolle bei der Entwicklung von Bürgergerichtshöfen spielte. Nachdem er von 1973 bis 1975 an der Einrichtung eines zweiten Russell-Tribunals zu Menschenrechtsverletzungen durch lateinamerikanische Diktaturen mitgewirkt hatte, schlug Basso das Projekt eines Ständigen Volkstribunals vor, das nach seinem Tod das Licht der Welt erblicken sollte: eine dauerhafte Struktur, die in der Lage ist, weltweit Bürgerprozesse zu massiven Menschenrechtsverletzungen zu organisieren.
In seiner Charta vereint das TPP verschiedene Rechtsquellen: natürlich das klassische internationale Strafrecht von Nürnberg, zu dem die 1948 definierte Kategorie des Völkermords hinzukommt, aber auch auf internationaler Ebene weniger legitime Quellen wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Darin liegt die Originalität dieser Bürgertribunale, die etablierte Rechtslehren mit weniger etablierten Elementen kombinieren. Generell lassen sie sich in rechtlichen und verfahrenstechnischen Fragen viel Freiheit. Heute ist das TPP eine kleine Vereinigung mit Sitz in Rom, die seit ihrer Gründung Menschenrechtsaktivisten die Organisation von mehr als 30 Prozessen über vergangene und aktuelle Verbrechen ermöglicht hat. Sie ist ein wichtiger Akteur in dem oft übersehenen Bereich der Bürgerjustiz.
Die Artikel ist eine übersetzte Wiederveröffentlich unter der Creative Commons license. Der Orginaltext ist verlinkt. Die Autorin des Beitrages ist Clémentine Méténier, freiberufliche Journalistin und lebt in der Nähe von Grenoble. Sie kombiniert schriftliche oder gezeichnete Recherchen (JusticeInfo.net, Le Monde Diplomatique, La Revue Dessinée) mit Radiobeiträgen im Ausland (RFI, RTS, RTBF, Radio France) zu gesellschaftlichen Themen mit internationaler Ausrichtung, in denen es um Gerechtigkeit und Gedenken geht.
Guillaume Mouralis
Guillaume Mouralis ist Historiker und Soziologe mit Schwerpunkt Aufarbeitung autoritärer Vergangenheiten auf nationaler und internationaler Ebene, sowie Forschungsprofessor am Centre national de la recherche scientifique, Mitglied des Institut des sciences sociales du politique (Nanterre) und des Centre Marc Bloch (Berlin).
Am Schnittpunkt der sozialen, politischen und Ideen-Geschichte erforscht er den justiziellen Umgang mit autoritären Vergangenheiten auf nationaler sowie internationaler Ebene. Nach einer Doktorarbeit über den vierzigjährigen Umgang mit DDR-Verbrechen in Deutschland, widmete er sich einer Sozialgeschichte des internationalen Nürnberger Prozesses. Diese Arbeit führte zu einer im Dezember 2017 verteidigten Habilitation (HDR). Eine überarbeitete Version dieser Arbeit ist bei Presses de Sciences Po in März 2019 unter dem Titel Le moment Nuremberg. Le procès international, les lawyers et la question raciale [Der Nürnberger Moment. Der internationale Prozess, die lawyers und die Rassenfrage] veröffentlicht.
Das Russell-Tribunal (1967)
Das Russell-Tribunal von 1967 ist eine originelle Möglichkeit für Laien, das Recht zu mobilisieren und in gerichtliche Formen zu investieren. Diese kollektive Erfahrung war geprägt von anfänglichem Zögern, den Begriff „Tribunal“ für sich zu beanspruchen und damit einen symbolischen Coup zu wagen, der wahrscheinlich als skandalöse Usurpation durch die staatlichen Behörden angeprangert werden würde. Das Russell-Tribunal war zudem von internen Unstimmigkeiten und strukturellen Spannungen zwischen juristischen, politischen und intellektuellen Argumenten durchdrungen. Letzten Endes hat das Tribunal jedoch funktioniert, indem es die beachtlichen Aufgaben der Sammlung umfangreicher und qualitativ hochwertiger Unterlagen, der Vorlage umfangreicher und konsistenter Beweise und der Erarbeitung sorgfältig begründeter rechtlicher Schlussfolgerungen bewältigt hat. Die Mitglieder des Tribunals waren weit davon entfernt, eine schlechte Nachahmung der Justiz zu betreiben, sondern haben vielmehr auf kreative Weise Rechtsnormen und Rechtsformen miteinander kombiniert. In der Tat förderte das Tribunal die Entstehung einer neuen Form von aktivistischem und subversivem Rechtsbewusstsein. Ausgehend von der Idee, dass das Recht allen gehört und dass jeder Bürger ein Geschworener sein kann, indem er sein Recht wahrnimmt, Fakten mit Gesetzen zu konfrontieren, stellte diese Ermächtigung von Laien eine neue, utopische Vorstellung von Gerechtigkeit dar.