Jugendschutz führt zu Schweizer Ausweispflicht für Youtube und Co. – Referendumsfrist läuft am 19. Januar ab

Spät, aber immerhin: Wenige Tage vor Ablauf der Referendumsfrist kommt Bewegung in die Debatte um das vom Schweizer Parlament beschlossene Internet-Überwachungsgesetz. Fachleute wie der auf Internetrecht spezialisierte Rechtsanwalt Martin Steiger warnen vor einem Ausweiszwang im Internet. Politiker und das Bundesamt, das den Gesetzestext aufgesetzt hat, wiegeln ab.

Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut gemacht. Das gilt insbesondere im vorliegenden Fall.  «Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele» heisst das Werk, (oder kurz JSFVG) das von den eidgenössischen Räten am 30. September 2022 in der Schlussabstimmung verabschiedet worden war.

Das Ziel des Gesetzes mag ein hehres sein: Minderjährige sollen mit dem neuen Gesetz «vor Inhalten in Filmen und Videospielen geschützt werden, die ihre körperliche, geistige, psychische, sittliche oder soziale Entwicklung gefährden können», heisst es im Zweckartikel wörtlich. Etwas unverblümter bedeutet das, dass Kinder und Jugendliche keinen so leichten Zugang mehr zu Pornofilmen oder Gewaltdarstellungen im Internet haben sollen.

Alterskontrolle bereits vor der ersten Nutzung eines Dienstes

In zwei Artikeln  – Artikel 8 und Artikel 20 – verlangt das neue Gesetz, dass Plattformdienste (dazu zählen z.B. Youtube, Telegram, Facebook, Instagram, Twitter, Tiktok, u.ä.) sowie Abrufdienste (dazu zählen alle digitalen Filmanbieter – Netflix, Disney+, Prime Video und natürlich ebenso auch einschlägige Plattformen wie Pornhub, etc.) vor der erstmaligen Nutzung des Dienstes ein System zur Alterskontrolle einrichten und betreiben müssen. Wörtlich heisst es dort:

1 Die Anbieterinnen von Plattformdiensten müssen geeignete Massnahmen treffen, damit Minderjährige vor für sie ungeeigneten Inhalten geschützt werden.

2 Solche Massnahmen müssen mindestens beinhalten:

a.
die Einrichtung und den Betrieb eines Systems zur Alterskontrolle vor der erstmaligen Nutzung des Dienstes;
b.
die Einrichtung und den Betrieb eines Systems, mit dem die Nutzerinnen und Nutzer dem Plattformdienst Inhalte melden können, die für Minderjährige nicht geeignet sind.

3 Erheben die Anbieterinnen von Plattformdiensten im Rahmen der Massnahmen nach den Absätzen 1 und 2 Daten von Minderjährigen, so dürfen sie diese ausschliesslich für die Alterskontrolle verwenden.

 

Schweizer TV-Betreiber ausgenommen, ausländische nicht

Eine weitere Kuriosität: Nach Art. 3 des JSFVG fallen die Programme der Schweizer TV-Sender und Werbefilme nicht unter das Gesetz, die Inhalte der SRG sind ebenso ausgenommen wie «von einer Redaktion gestaltete Beiträge». Da darf sich die Juristenkaste über eine Reihe von Abgrenzungsfragen freuen, über die sie sich wird streiten können: Sind Trash-TV-Formate wie Love Island, Bachelor oder Dschungelcamp nun «von einer Redaktion gestaltete Beiträge»? Falls ja, werden solche vom Jugendschutz also nicht erfasst, obwohl es darin zum Teil heftig und deftig zur Sache geht. Ein Softerotik-Film wie Bilitis allerdings schon? Aktenzeichen XY wird vom Jugendschutz nicht erfasst, da redaktionell gestaltet. «Ein Fall für zwei» hingegen schon. Und der «Tatort»? Simpler Krimi oder redaktionell gestaltet, da immer zu zeitkritisch und zu gesellschaftspolitischen Themen?  Falls die Welt des Trash-TV nicht unter «redaktionell gestaltet» fällt, hiesse das, dass der Schweizer Bachelor also für Jugendliche zugänglich bleiben soll, das deutsche Pendant hingegen nicht. Und ob das Ganze mit dem europäischen Wettbewerbsrecht vereinbar ist? Wohl kaum.

Aber auch der Begriff des «Abrufdienstes» wirft Fragen auf. Das Gesetz versteht darunter «einen Dienst oder abtrennbaren Teil eines Dienstes, dessen Hauptzweck darin besteht, von der Anbieterin ausgewählte Filme oder Videospiele zum Abruf für die Allgemeinheit bereitzustellen, wobei die Konsumentinnen und Konsumenten den Zeitpunkt des Abrufs selbst wählen können.» Und was ist jetzt mit den TV-Anbietern, die Kabel-TV anbieten, das noch sieben Tage lang im Replay betrachtet werden kann? Innerhalb dieser Zeitperiode können die Konsumentinnen und Konsumenten den Zeitpunkt des Abrufs ja sehr wohl selbst wählen. Und was ist mit «Teleboy», dem Schweizer TV-Dienst, der es erlaubt, jede TV-Sendung für beliebig lange aufzuzeichnen und abzurufen?

Lausig formulierter Gesetzestext

Verschiedene Kritiker des Gesetzes bemängeln, dass der Gesetzestext mehrdeutig formuliert sei. So käme nicht deutlich zum Ausdruck, ob die in Absatz 2 erwähnten Massnahmen ausschliesslich bei Inhalten zum tragen kommen sollen, die für Minderjähige ungeeignet sind. Der Artikel könne nämlich auch so gelesen werden, dass die Massnahmen nach Absatz 2 lit. a immer gelten würden, weil dort ja schliesslich klar und deutlich stehe, dass die Altersprüfung vor der erstmaligen Nutzung des Dienstes zu erfolgen habe – und nicht vor der erstmaligen Nutzung eines für Jugendliche nicht geeigneten Inhalts. Für Martin Steiger, einen auf Internetrecht spezialisierten Schweizer Anwalt, ist deshalb klar: «Wenn das Gesetz in Kraft tritt, könnten Video-Plattformen wie Instagram, TikTok, Twitch und YouTube nur noch nach einer Alterskontrolle genutzt werden.»

Von dieser Interpretation des Textes geht auch das Referendumskomitee aus, und den unklar formulierten Punkt einfach einem Richtergremium zu überlassen, erscheint tatsächlich problematisch, wenn man sich vor Augen führt, wie freihändig das Bundesgericht hierzulange Gesetzestexte gelegentlich zu interpretieren pflegt. Für die Auslegung von Steiger und Co. sprechen im Übrigen auch die Strafbestimmungen. In Art. 34 des Jugenschutzgesetzes heisst es nämlich, es werde mit Busse bis zu CHF 40’000 bestraft, wer einen Film zugänglich mache und es dabei vorsätzlich unterlasse, eine Alterskontrolle durchzuführen oder ein System zur Alterskontrolle einzurichten oder zu betreiben. Davon, dass unter «Filmen» ausschliesslich solche mit jugendgefährdenden Inhalten gemeint sein sollen, steht da nichts.

Auf jeden Fall aber hiesse die Formulierung, dass alle Inhalte, die für Minderjährige möglicherweise als ungeeignet eingestuft würden, von Erwachsenen erst nach einer Altersprüfung betrachtet werden könnten.

Wie soll die Alterskontrolle funktionieren?

Wie würde eine solche Alterskontrolle aber konkret vonstatten gehen? Die Gegnerschaft des Gesetzes geht davon aus, dass die betroffenen Anbieter den Zugang wohl über eine Kontobeziehung regeln würden. Das Betrachten solcher Filme wäre also erst möglich, nachdem man sich mit Benutzerkonto und Passwort eingeloggt hat. Für die Einrichtung des Kontos könnte dann eine einmalige Alterskontrolle durchgeführt werden. – Andere Möglichkeiten sind kaum denkbar – welcher Anbieter würde schon für jedes einzelne Video eine solch aufwändige Kontrolle durchführen wollen?

Wie aber kann das Alter über das Internet verifiziert werden? In der Parlamentsdebatte war naiverweise davon die Rede, dass eine solche Verifikation über eine Kreditkarte oder SMS erfolgen könnte. – Was in der Praxis natürlich nicht funktionieren wird: Zum einen bieten gewisse Kreditkartenherausgeber – zum Beispiel Revolut – Kreditkarten unterdessen auch schon für Sechsjährige an. Und ebenso haben heutzutage oft auch Kinder bereits ein eigenes Smartphone oder eine Smartwatch, die es beispielsweise ermöglicht, im Notfall mit dem Nachwuchs kommunizieren oder auch deren Standort bestimmen zu können.

Bleibt am Ende nur noch die eine Variante, die auch in der Botschaft des Bundesrates genannt wird: Das Alter wird verifiziert, indem die Anbieter verlangen, dass ein Kontoinhaber oder eine -inhaberin einen Pass- oder ID-Scan einsenden müssen. Für praktisch alle Experten ist klar, dass ein anderer Weg aktuell nicht möglich wäre. Internet-Anwalt Martin Steiger: «Plattform-Betreiberinnen wie Google und Meta müssten sich von den Nutzerinnen und Nutzer einen Ausweis zeigen lassen.» Diese Altersverifikation findet heute im Übrigen auch bei den Online-Casinos so statt.

Datenschutz? Ausgehebelt

Und damit schafft das Gesetz eine nächste Problematik. Zum einen macht das Gesetz damit Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Medienkonsums zum gläsernen Konsumenten: Aufgrund der Pflicht zur Alterskontrolle mittels ID wüssten Anbieter wie Netflix oder Disney+ dank des neuen Gesetzes beispielsweise genau, welchen Horror- oder Erotikfilm Frau Schweizer sich spät in der Nacht noch angeschaut hat – inklusive aller Daten, die sich auf einem Ausweisdokument befinden. Noch brisanter wird die Angelegenheit bei Erotik-Portalen – man stelle sich nur einmal vor, die gesammelten Personen-Daten einer solchen Seite würden von Hackern gestohlen.

Dabei bleibt unklar, wie ausländische Anbieter auf das neue Schweizer Gesetz reagieren würden. Das Referendumskomitee befürchtet, dass die Strafandrohung von maximal CHF 40’000 bei Widerhandlungen des Gesetzes die Grossen nicht abschrecken dürfte: «Der Anbieter im Ausland wird sich gar nicht um eine Umsetzung des Gesetzes bemühen. Dafür ist der Schweizer Markt mit der Anzahl von Nutzer/innen nicht lukrativ.» Fraglich auch, ob ausländische Betreiberinnen ohne Sitz in der Schweiz überhaupt belangt werden könnten. Das Schweizer Parlament hätte dann entweder einen Papiertiger geschaffen, der für ausländische Konzerne nicht gilt, oder müsste aber zum Zensurstock greifen: «In der Konsequenz des Gesetzestextes müssten zur Durchsetzung des Gesetzes Netzsperren eingesetzt werden. Dies ist ein tiefgehender Eingriff in die Architektur des Internets, welches mit Zensur belegt würde», befürchten die Mitglieder des Referendumskomitees auf ihrer Plattform «ausweiszwang-nein».

Amtliche Daten für ausländische Behörden

Aber auch wenn die ausländischen Anbieter wie die US-amerikanischen Facebook, Youtube oder Pornhub die gesetzlichen Regelungen umsetzen sollten: Durch den Zwang zur Altersidentifikation mittels Ausweis würden Benützerkonten, die heute im schlimmsten Falle mit Telefonnummern oder Kreditkartendaten verbunden sind, plötzlich mit Daten aus einem amtlichen Ausweis verknüpft sein. Dass die amerikanischen Konzerne von den US-Behörden verpflichtet werden, ihnen sämtliche Daten vollumfänglich zur Verfügung zu stellen und sogenannte «Backdoors» einzurichten, ist seit den Enthüllungen von Weakileaks hinlänglich bekannt. Dass die Grenzbeamten am Flughafen bei der Ankunft in New York damit nachschauen könnten, welche Pornofilme sich ein Schweizer Nationalrat oder eine Schweizer Nationalrätin vor seiner Abreise zuletzt angesehen hatte, hätte die Damen und Herren in Bern eigentlich aufschrecken lassen müssen.

Hat es aber nicht. Die Journalistin Adrienne Fichter, die das neue Gesetz einer ausführlichen und lesenswerten Analyse unterzogen hat, kommt deshalb zu einem ernüchternden Schluss: «Man muss sich das mal einmal vergegenwärtigen: Eine Mehrheit des National- und Ständerats sowie des Bundesrats, die mit Schweizer Konsortien SwissSign erst vor Kurzem gegen die Vorherrschaft von bösen amerikanischen Datenkonzernen wie Google, Twitter, Facebook ankämpfen wollten, möchten FREIWILLIG DENSELBEN Konzernen staatlich verifizierte Personendaten von über 8.5 Millionen Personen – also der Bevölkerung der Schweiz- schenken. Einfach so. Gratis, ohne Gegenleistung. Und ohne Schutzmechanismus.»

Kommerzielle Nutzung attraktiv

Mit dem Letzteren spricht sie einen weiteren Kritikpunkt an, nämlich Absatz 3 der Artikel 8 und 20. Dieser hält fest, dass die Daten von Minderjährigen ausschliesslich für die Alterskontrolle verwendet werden dürfen. Namhafte Juristen erachten auch diese Formulierung als hochgradig problematisch, denn in contrario (also im Umkehrschluss) bedeutet der Satz nichts weniger, als dass die Daten von Nicht-Minderjährigen auch für alle anderen denkbaren Zwecke verwendet werden dürften und beispielsweise an Dritte verkauft werden könnten.

Gewisse Anbieter könnten Schweizerinnen und Schweizer gänzlich aussperren

Denkbar ist aber auch, dass gewisse Plattformen den Zugang für Schweizerinnen und Schweizer schlicht gänzlich sperren werden, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen und um die komplizierten und teuren Alterschecks zu umgehen. Die Mediatheken von ARD, ZDF oder ORF beispielsweise spielen heute schon verschiedene Beiträge, Sportanlässe oder Filme für Personen in der Schweiz nicht ab, weil die Anstalten ausschliesslich die Senderechte für ihre eigenen Länder Deutschland oder Österreich erworben haben. Anders als die Schweizer TV-Anbieter sind sie von dem Gesetz aber sehr wohl erfasst, solange es nicht um redaktionelle Beiträge geht. Gut möglich, dass sie IP-Adressen aus der Schweiz dann einfach gänzlich aus ihren Mediatheken aussperren würden, um dem Gesetz zu genügen. – Ein enormer Verlust für hiesige Medienkonsumentinnen und -konsumenten, bieten diese Plattformen aktuell doch hochwertigen Content.

Mit einfachem technischen Kniff zu umgehen

Dagegen kann man sich natürlich mit einem simplen technischen Kniff wehren. – Es ist derselbe, der auch schon die Internetsperren gegen ausländische Online-Casinos zur reinen Makulator hat werden lassen: Man loggt sich über ein VPN (Virtual Private Network) einfach zunächst auf einem Server im unregulierten Ausland ein und lässt den Internet-Traffic dann über diesen Server laufen.

Wer nicht weiss, wie das funktioniert, verschafft sich den Zugang am schnellsten, in dem er oder sie einen Jugendlichen um Hilfe bittet, die sich dank ihrer Technikaffinität die Inhalte, die sie sehen wollen, genau auf diesem Wege auch in Zukunft auf ihre Bildschirme holen werden – Jugendschutzgesetz hin oder her. Was dieses Gesetz gänzlich zum Schildbürgerstreich macht.

Politiker und Bundesamt lassen Kritik nicht gelten

In der heutigen Ausgabe des TAGES-ANZEIGER weisen Politiker und Beamte die Kritik der Experten an dem Gesetz zurück. Harald Sohns vom Bundesamt für Sozialversicherungen, das den Entwurf ausgearbeitet hat und auch für die Umsetzung zuständig sein soll, lässt sich mit dem Satz zitieren: «Nur dann, wenn man zusätzlich auch Inhalte sehen will, die ausschliesslich für Erwachsene sind, muss man sich anmelden.» Und SP-Nationalrat Matthias Aebischer: «Die Behauptung ist eine Ente, eine offensichtliche Verzweiflungstat, um die notwendigen 50’000 Unterschriften vor Ablauf der Frist zusammenzubekommen.» Der Zuger FDP-Ständerat Matthias Michel findet die kritischen Argumente «an den Haaren herbeigezogen.» Die technische Umsetzung sei ja noch nicht einmal beschlossen, findet Michel. – Was grundsätzlich richtig ist: Der Bundesrat soll die Details in einer Verordnung regeln, die dann allerdings dem Referendum nicht mehr untersteht.

Während das Referendumskomitee darauf verweist, dass die Aussagen Sohns und Aebischers schlicht nicht mit dem Gesetzestext übereinstimmten, listet Adrienne Fichter in ihrem Artikel auch mögliche Alternativen zu einer Ausweispflicht auf.  Mit der elektronischen Identität liessen sich beispielsweise nur einzelne Attribute der eigenen Identität freischalten – hier z.B. konkret das Alter. Nur: Die Abstimmung über die Einführung der e-ID ging vor Monaten bachab, eine neue Lösung ist noch genau so weit entfernt wie der Vorschlag, dass eine Drittpartei die Alterskontrolle vornehmen könnte und dann an die Anbieter selbst keinen Klarnamen und auch keinen Geburtstag erfahren würden. – Fiechter zitiert dabei einen Vorschlag der französischen Datenschutzbehörde CNIL. Allerdings: Das Schweizer Jugendschutzgesetz sieht eine Abstufung der Alters- und Schutzkategorien in fünf Stufen vor, was eine solche Lösung wiederum erheblich verkomplizieren würde, müssten doch die Daten bei den Anbietern dadurch immer wieder aktualisiert werden.

Bei den Leserinnen und Lesern des «Tagi» scheint das Gesetz im Übrigen komplett durchzufallen. In den ersten 80 Kommentaren liess sich kaum eine Handvoll Texte finden, die das Gesetz unterstützten.