Der Bundesrat will kein drittes Geschlecht einführen. Das hat er nach seiner Mittwochsitzung in einer Medienmitteilung bekanntgegeben. «Das binäre Geschlechtermodell ist in der schweizerischen Gesellschaft nach wie vor stark verankert», schreibt die Regierung darin. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Einführung eines dritten Geschlechts oder für einen generellen Verzichts auf den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister seien derzeit nicht gegeben. Basis des Entscheids ist ein Postulationsbericht, der gestern ebenfalls veröffentlicht wurde.
Die Postulate aus dem Parlament stammen von der Basler Grünen-Nationalrätin Sibil Arslan und der damaligen Waadtländer SP-Nationalrätin Rebecca Ruiz (die unterdessen in der Waadt Regierungsrätin ist). Sie wurden 2017 eingereicht und standen unter dem Eindruck einer Gesetzesnovelle in Deutschland. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass eine rein binäre Geschlechterregelung gegen das Grundgesetz verstosse, was dazu führte, dass sich in Deutschland heute Menschen neben den Geschlechtern «männlich» und «weiblich» auch als «divers» eintragen lassen können. Österreich ist diesem Modell unterdessen gefolgt.
Erstritten hatte diese Möglichkeit eine Frau in Deutschland mit dem Turner-Syndrom. Den Betroffenen fehlt das zweite X-Chromosom, was zu einer Vielzahl von Symptomen in unterschiedlicher Ausprägung führen kann, aber nicht muss. Die äusseren Geschlechtsmerkmale einer Frau sind ausgebildet, die Eierstöcke aber unterentwickelt, was dazu führt, dass Frauen mit Turner-Syndrom oft keine Kinder bekommen können.
Rechtsfälle auch in der Schweiz hängig
Wie der Postulatsbericht festhält, sind aktuell zumindest zwei ähnlich gelagerte Fälle hängig. Das Aargauer Obergericht war im März 2021 der Beschwerde einer Person aus Deutschland gefolgt, welche verlangte, dass ihr Geschlechtseintrag im schweizerischen Personenregister (analog der Streichung in Deutschland) gelöscht werde. Das Bundesamt für Justiz zog den Fall ans Bundesgericht weiter, wo er aktuell hängig ist. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind zudem verschiedene Fälle aus mehreren Ländern aktuell hängig.
Bei der aktuellen Debatte stehen zudem verschiedene Modelle zur Auswahl: In dem Postulatsbericht diskutiert werden zum einen die Schaffung eines dritten Geschlechtes wie «divers», aber auch die Möglichkeit, auf einen Eintrag «männlich» oder «weiblich» – auf Wunsch – einfach zu verzichten. Nicht detailliert diskutiert wird die Lösung, gänzlich und für alle Menschen auf die Erfassung eines Geschlechts zu verzichten und damit generell keinerlei Rechtsfolgen mehr an das Geschlecht zu knüpfen.
Schweizerische Rechtsordnung beruht auf dem binären Geschlechtsmodell
Der Postulationsbericht des Bundesrates hält zunächst fest, dass die schweizerische Rechtsordnung auf dem binären Geschlechtermodell beruhe. «Zahlreiche Bestimmungen aller Normstufen – von der Bundesverfassung bis zum Verordnungsrecht – knüpfen unmittelbar an das Geschlecht an und sehen teilweise unterschiedliche Rechtsfolgen für die beiden Geschlechter Frau und Mann vor», schreibt der Bundesrat. «Das binäre Geschlechtermodell beruht auf einer langen und ununterbrochenen gesellschaftrlichen Tradition, die sich in den Rechtsnormen widerspiegelt.» Sollte dieses Modell verändert werden, hätte das eine Vielzahl von Folgen. Dabei unterscheidet der Bericht verschiedene Fallgruppen.
Keine Auswirkungen sieht der Bericht bei der Fallgruppe 1, zu denen Normen gezählt werden, bei denen weibliche und männliche Personen explizit genannt werden im Sinne des sprachlichen «Genderns». Neuere Erlasse führen regelmässig z.B. «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer» explizit an – zumindest in der deutschen Sprache. Hier seien keine zwingenden Revisionen nötig, findet der Bundesrat. (Auch wenn sicherlich schnell die Forderung aufkäme, die heutige Regelung zu ersetzen durch inkludierende Sprachformen wie den Gender-Doppelpunkt oder -Stern).
Eine Mutter bleibt auch als Mann eine Mutter
Keinen Handlungsbedarf sieht der Bericht auch dort, wo eine Rechtsnorm an «eine bestimmte Rolle, Funktion oder biologische Eigenschaft˚ anknüpft. So könne beispielsweise auch eine als Mann eingetragene Mutter die Rechte aus der Schwangerschaft geltend machen. Einigermassen absurd würde es beispielsweise beim Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien nach Art. 124 StGB. Der Bundesrat scheint aber keine Probleme darin zu erkennen, dass auch ein eingetragener Mann Opfer einer Verstümmelung weiblicher Genitalien sein kann, zumal das heute bereits möglich ist aufgrund der einfach möglichen Geschlechtsanpassung im Personenregister durch eine einfache Meldung bei der Einwohnerkontrolle.
Keine Schutzrechte für als divers oder gar nicht eingetragene «Frauen»
Als interessanterweise ebenfalls unproblematisch sieht der Bericht diejenigen Rechtsnormen an, welche Frauen einen expliziten Sonderstatus zubilligen. Als Beispiel nennt der Bericht Art. 5 des Behindertengleichstellungsgesetzes, wo den Bedürfnissen behinderter Frauen besonders Rechnung zu tragen ist. Der Schutzzweck würde in solchen Fällen einfach ausschliesslich auf Personen angewendet werden, die auch als Frauen eingetragen sind. Personen, die biologisch als Frauen zur Welt kamen, sich aber als divers oder ohne Geschlecht eintragen lassen, würden auch vom Schutzzweck nicht erfasst, so der Bundesrat. Bei der Frage der speziellen Haftanstalten für Frauen räumt der Bericht dann allerdings doch ein, dass Änderungen «zu heiklen Fragen» führen würden, ohne diese dann konkret zu benennen: Müssten für diverse Menschen dann zusätzliche Gefängnisse gebaut werden? Würden diverse oder nicht eingetragene Personen quasi «automatisch» mit Männern in der selben Haftanstalt einsitzen müssen?
Fallgruppe 2: Gesetzesrevisionen zwingend erforderlich
Eine weitere Gruppe von Gesetzesnormen müsste bei einer Änderung der Geschlechterregistrierung zwingend geändert werden, hält der Bundesrat fest. In diese Kategorie fallen Fragen wie diejenige des Militärdienstes, die auf Verfassungsebene geregelt ist. Sollten diverse oder nicht eingetragene Personen also Militärdienst leisten müssen oder nicht? Laut Bundesrat liesse sich diese Frage auch nicht durch Auslegung gerichtlich klären. Gleichermassen stellt sich die Frage auch beispielsweise beim unterschiedlichen Pensionsalter.
«Faktische Auswirkungen»
Schliesslich nennt der Postulatsbericht nebst den konkreten rechtlichen Problemstellungen auch weitere «faktische Auswirkungen», wenn die Anknüpfung an das biologische Geschlecht aufgelöst würde. Bereits durch die Presse gingen Reklamationen, wenn sich Frauen in Frauenbadis oder einer Sauna plötzlich nackt einer Person mit männlichen Genitalien gegenübersehen, die sich als Frau identifizert. Oder im Sport, wo biologische Männer sich als Frauen identifizieren und dann in Frauenwettkämpfen biologischen Frauen keine Chance mehr lassen, wie das Beispiel von Lia Thomas gezeigt hat. Der Weltverband FINA hat unterdessen reagiert und festgelegt, dass Transgender-Personen nur an Wettbewerben des anderen Geschlechts teilnehmen dürfen, wenn sie ihre Geschlechtsanpassung bis zum Alter von 12 Jahren oder vor einem definierten Stadium der Pubertät abgeschlossen haben.
Debatte nötig
Der Bundesrat folgert aus all‘ den beschriebenen offenen Fragen, dass eine vertiefte Debatte Not tut, bevor er Änderungen in der Verfassung oder in den Gesetzen angeht. Zu diesem Schluss kommt er insbesondere auch deshalb, weil die Regelungen anderer Länder, anders als häufig behauptet, nicht nach einer Anpassung der Schweizerischen Regelung rufen. Deutschland ist bislang das einzige Land, das es offenlässt, welches Geschlecht eingetragen werden kann. In Österreich haben einige Gerichtsurteile dazu geführt, dass nun auch weitere Geschlechteridentitäten wie «inter» oder «divers» eingetragen werden können. In Italien und Frankreich existieren nach wie vor ausschliesslich binäre Geschlechtseintragungen. In den Niederlanden ist es möglich, dass in Geburtsurkunden festgehalten werden kann, dass das Geschlecht nicht festgestellt werden kann, ab 2024 soll auf die Nennung des Geschlechts in Personalausweisen verzichtet werden. In Belgien schliesslich arbeitet die Regierung daran, dass in Ausweispapieren neu nebst m und f auch x eingetragen werden kann. Darüber, welche weiterreichenden Anpassungen diese Länder in ihren Rechtssystemen planen, sagt der Bericht des Bundesrates nichts.