Im sogenannten Kobane-Prozess, einem der grössten politischen Prozesse der türkischen Geschichte, sind die ersten Urteile gesprochen worden. Sie zerschmettern die Hoffnung der Kurd:innen auf mehr politische Partizipation. Die Richter Erdoğans übergehen dafür auch ein Urteil des EGMR.
Gültan Kışanak, die ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Diyarbakır, wurde am 18. Mai aus dem Gefängnis entlassen. Als sie vor die Kameras trat, sagte sie: „Was wir eigentlich wollen, ist nicht die Haftenlassung, sondern Freiheit und Frieden.“ Von allen drei Dingen ist die kurdische Bevölkerung der Region weit entfernt. Kışanak, die mit sechzehn anderen Angeklagten bereits acht Jahre im Gefängnis sass, ist eine der wenigen Entlassenen. Im sogenannten Kobane-Prozess, der seit über drei Jahren dauert, haben am Donnerstag vergangene Woche die ersten Urteilsverkündungen stattgefunden. Im Kobane-Prozess sind insgesamt 108 Personen, die meisten von ihnen führende Politiker:innen der prokurdischen Partei HDP, mittlerweile in DEM-Partei umbenannt, angeklagt. Darunter befinden sich auch die ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Es handelt sich dabei um einen der grössten politischen Prozesse in der Geschichte der Türkei.
„Aufwiegelung der Öffentlichkeit“
Am Anfang der Geschehnisse steht die Belagerung der Stadt Kobane durch den Islamischen Staat. Im September 2014 startete der IS einen Grossangriff auf die kurdische Stadt, die im Nordwesten Syriens, nur 15 Kilometer von der türkischen Grenzstadt Suruç entfernt liegt und von der kurdisch-syrischen Partei PYD regiert wird. Im Zuge des Angriffs durch die Terrormiliz kam es zu grossen Fluchtbewegungen aus der Stadt. Kobane wurde damals von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ, mit Unterstützung des US-Militärs verteidigt. Die türkischen Streitkräfte rückten zwar bis zur türkisch-syrischen Grenze vor, griffen aber nicht in die Kampfhandlungen ein. Die HDP-Spitze forderte damals einen Korridor an der Grenze, um Hilfe leisten zu können, doch das Militär unterband die kurdische Hilfe nach Kobane aktiv.
Daraufhin rief die HDP im Oktober 2014 zum Protest gegen die Blockade durch das türkische Militär auf. In der kurdischen Region des Südostens der Türkei kam es dann zu gewaltsamen Zusammenstössen mit der Polizei und Anhängern der islamistischen Partei Hüda Par. 37 Menschen werden dabei getötet und Hunderte verletzt. Präsident Erdoğan machte dafür umgehend die HDP verantwortlich. Die Vorfälle wurden danach jedoch nie untersucht. Zuletzt wurde 2021 ein Antrag der HDP zur Untersuchung der Geschehnisse und Todesfälle mit den Stimmen von Erdoğans AKP und der ultranationalistischen MHP abgelehnt.
Harte Urteile
Nun wurden am Donnerstag vergangener Woche die ersten 36 Urteile verkündet. Die Anklage lautete dabei unter anderem auf „Aufwiegelung der Öffentlichkeit“ und „Spaltung der Einheit und Integrität des Landes“. Das Gericht spricht in seinem Urteil 24 Haftstrafen, deren Gesamtlänge 407 Jahre und fünf Monaten betragen. Selahattin Demirtaş erhält eine Haftstrafe von 42 Jahren, Figen Yüksekdağ muss eine Strafe von 30 Jahren und drei Monaten antreten. Als Beweise werden beinah ausschliesslich öffentliche Reden der Poliker:innen und und Social-Media-Posts beigezogen. Während der Urteilsverkündung verlassen die Verteidiger frühzeitig den Gerichtssaal, bezeichnen das Urteil als unfair und fehlerhaft.
Erwähnenswert ist dabei auch, dass sich die türkische Justiz im Falle von Selahattin Demirtaş über einen Entscheid des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR stellt. Dieser verlangte bereits im November 2018 die sofortige Freilassung des Politikers. Für die Opposition sind die Urteile klar politisch motiviert sind. Die Beweislage für das hohe Strafmass und die drastischen Anklagen sei unzureichend und der politische Einfluss der rechtsnationalistischen MHP auf die Justiz deutlich zu erkennen. Auch Baerbel Kofler, Menschenrechtsbeauftragte des deutschen Auswärtigen Amts, kritisierte 2021 zu Beginn des Prozesses die türkischen Behörden und forderte die Umsetzung des EGMR-Urteils. Eine Stellungnahme nach Verkündigung der Urteile ist noch ausstehend.
Keine Anzeichen für Normalisierung
In den vergangenen Wochen, nach der der Schlappe der Regierungspartei AKP bei den Kommunalwahlen gab es Anzeichen für eine „Aufweichung“ im Land. Erdoğan traf sich mit dem Oppositionsführer zum Gespräch und sprach davon, dass die „Zeit einer Normalisierung“ des politischen Lebens gekommen sei, nachdem seine Partei jahrelang einen autoritären und repressiven Kurs gefahren hat. Die Hoffnung der Kurd:innen auf mehr Raum, nachdem sie in den vergangenen Jahren in ihren Gebieten in Syrien und Irak immer wieder Bombenangriffe durch das türkische Militär erlitten und in der Türkei massive Repression erfuhren, ist mit diesen Urteilen zerschlagen.
Auch Ahmed Türk, der gerade wieder ins Amt gewählte Bürgermeister der Stadt Mardin, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Tritt er diese an, würde schon wieder ein demokratisch gewählter Bürgermeister abgesetzt werden, wie es seit 2015 in fast allen von der HDP regierten Städten der Fall war. Das letzte Mal im April wollte die Regierungspartei den neu gewählten Bürgermeister von Van absetzen und an seiner Stelle den Kandidaten der AKP einsetzen. Nur dank grosser Proteste der Linken wurde dies verhindert.
Mehr als Spekulationen über eine Aufweichung der Politik gibt es im Moment nicht, wie das eindeutig politisch motivierte Urteil verdeutlicht. Die Befürworter einer repressiven Politik sitzen immer noch auf ihren mächtigen Posten und üben entscheidenden Einfluss auf die Justiz aus. Dabei verurteilen sie die Opposition, führen unfaire Verfahren und übergehen sogar ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nichts, woran man sich ein Beispiel nehmen sollte. (Bilder ANF)
Die Verurteilten
Ahmet Türk: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuss
Ali Ürküt: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde zunächst auf 16 Jahre und anschließend auf 13 Jahre und vier Monate reduziert; bleibt im Gefängnis
Alp Altınörs: 18 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Altan Tan: Freispruch nach CMK 223
Ayhan Bilgen: Freispruch in allen Anklagepunkten
Ayla Akat Ata: Neun Jahre und neun Monate Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; U-Haft wird angerechnet bzw. Aussetzung der Reststrafe, kommt frei
Aynur Aşan: Neun Jahre Haft Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt wegen „Fluchtgefahr“ im Gefängnis
Aysel Tuğluk: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; ist wegen Demenz-Erkrankung seit 2022 auf freiem Fuß
Ayşe Yağcı: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aussetzung der Reststrafe
Beyza Üstün: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen
Bircan Yorulmaz: Freispruch in allen Anklagepunkten
Bülent Parmaksız: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“, bleibt im Gefängnis
Can Memiş: Freispruch in allen Anklagepunkten
Dilek Yağlı: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Emine Ayna: Zehn Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; befindet sich auf freiem Fuss
Figen Yüksekdağ: 30 Jahre und drei Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, Terrorpropaganda; bleibt im Gefängnis
Gülfer Akkaya: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“; Aufhebung der Meldeauflagen
Gülser Yıldırım: Freispruch in allen Anklagepunkten
Gültan Kışanak: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmasserhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen
Günay Kubilay: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und weitere viereinhalb Jahre wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“
İsmail Şengül: 16 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; bleibt im Gefängnis
Meryem Adıbelli: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Haftentlassung angeordnet
Mesut Bağcık: Neun Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; Aufhebung der Meldeauflagen angeordnet
Nazmi Gür: Erschwerte lebenslange Haft wurde auf 18 Jahre reduziert; viereinhalb Jahre Haft wegen „Provokation zur Begehung einer Straftat“; bleibt im Gefängnis
Pervin Oduncu: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ wurde auf 18 Jahre reduziert; bleibt im Gefängnis
Sebahat Tuncel: Freispruch vom Vorwurf „Zerstörung der Einheit des Staates“, acht Jahre Haft wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, Strafmaßerhöhung auf insgesamt zwölf Jahre; wird entlassen
Selahattin Demirtaş: 20 Jahre Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“, viereinhalb Jahre Haft wegen „Straftaten gegen den öffentlichen Frieden“, zweieinhalb Jahre Haft wegen „Öffentlicher Aufforderung zu Straftaten“ im Zusammenhang mit einer Rede an Newroz 2016, sowie vier weitere Jahre wegen „Terrorpropaganda“ in sieben Fällen. Die Gesamtstrafe gegen den früheren HDP-Vorsitzenden beläuft sich auf 42 Jahre Haft. Er bleibt im Gefängnis.
Sibel Akdeniz: Freispruch in allen Anklagepunkten
Sırrı Süreyya Önder: Freispruch in allen Anklagepunkten
Zeki Çelik: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“; wird per Haftbefehl gesucht
Zeynep Karaman: Erschwerte lebenslange Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“; wurde auf 18 Jahre reduziert, sowie viereinhalb Jahre für „Provokation zur Begehung einer Straftat“
Zeynep Ölbeci: Zwölf Jahre und neun Monate Haft wegen „Zerstörung der Einheit des Staates“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“; bleibt im Gefängnis
Hintergrund des Kobanê-Verfahrens