Neuer Datenskandal bei der Zürcher Justiz

Dass in der Zürcher Justiz bisweilen schlampig bis schludrig mit besonders schützenswerten Personendaten umgegangen wird, ist seit dem Entsorgungsskandal um alte Festplatten bekannt. Jetzt erschüttert ein neuer Datenskandal die Zürcher Strafverfolgungsbehörden.

Wie dem am Montag publizierten Bundesgerichtsurteil 1B_231/2022 zu entnehmen ist, hat die Zürcher Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte in einem Strafverfahren geschützte Daten an die Privatklägerschaft herausgegeben – widerrechtlich. Darunter insbesondere gesetzlich besonders geschützte Anwaltskorrespondenz. Gemerkt hatte sie das erst knapp drei Monate später und dann verfügt, dass die Partei, welche die Daten erhalten hatte, diese wieder löschen bzw. eine ausgehändigte Festplatte sofort wieder zurückzugeben habe. Pikant daran: Rechtsanwalt Christian Lüscher, der von der widerrechtlichen Datenlieferung profitiert hatte, war früher selbst als Staatsanwalt für die Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte tätig. Ein Zufall?

Aber von vorne: Gemäss der Sachverhaltsdarstellung im Bundesgerichtsurteil führt die Staatsanwaltschaft III ein Strafverfahren gegen einen Vermögensverwalter, der im Verdacht steht, seine Sorgfaltspflichten verletzt und z.B. Retrozessionen für sich einbehalten statt seinen Klienten weitergegeben zu haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.

37 Monate zwischen Hausdurchsuchung und Datenweiterleitung

Am 9. November 2018 führte die Kantonspolizei bei ihm eine Hausdurchsuchung durch und nahm offenbar im grossen Stil Akten mit. Mit Datum vom 25. Juni 2019 verfügte die Staatsanwaltschaft schliesslich die Beschlagnahme verschiedener Daten. Dabei seien Anwaltskorrespondenz und private Unterlagen aussortiert worden, zitiert das Bundesgericht eine allerdings nicht namentlich genannte Quelle.

Am 7. Dezember 2021, also sagenhafte 37 Monate nach der Hausdurchsuchung, händigte die Staatsanwaltschaft III die sichergestellten Daten dem Anwalt der geschädigten Parteien aus, die sich als Privatklägerschaft in dem Verfahren konstituiert hatten – und damit gemäss Strafprozessordnung ein Recht auf Akteneinsicht haben. 

Nur: Bei der Datenlieferung ist der Staatsanwaltschaft ein entscheidender Fehler passiert. Denn offenbar befanden sich in den gelieferten Daten auch solche, die laut Gesetz gar nicht beschlagnahmt werden durften und eigentlich schon 2019 hätten aussortiert werden müssen.

Der Schock: Anwaltskommunikation geht an die Gegenpartei

Am schwersten wiegt die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses: In den gelieferten Akten soll sich nämlich auch Anwaltskorrespondenz zwischen dem Beschuldigten und seiner Verteidigung befunden haben. – Diese Korrespondenz ist durch das Anwaltsgeheimnis besonders geschützt und unterliegt in Strafverfahren nach Art. 264 Abs. 1 lit. d einem expliziten Beschlagnahmungsverbot.

Der Schutz des Anwaltsgeheimnisses in einem Strafverfahren ist von einer elementaren Bedeutung: Bernhard Ehrenzeller und Reto Patrick Müller schreiben in einer Abhandlung zum Thema: «Ähnlich wie Geistliche, Ärzte, Apotheker oder Hebammen sind Rechtsanwälte in einem besonderen Nähe- und Vertrauensverhältnis zu Dritten tätig. Ohne die Garantie der Vertraulichkeit würde die gewissenhafte Erfüllung dieser Berufe – in der Regel auch verbunden mit eigenständigen Berufspflichten – von vorneherein illusorisch.» Die Autoren verweisen auf verschiedene Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus denen hervorgeht, dass der EGMR die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Beschuldigten und Strafverteidigung als elementar betrachtet für ein faires und EMRK-konformes Verfahren.

Aktenchaos – nichts Neues?

Strafverteidiger Konrad Jeker, der mit strafprozess.ch einen eigenen Blog betreibt, scheint der Vorfall der Zürcher Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte nicht zu überraschen. Unter dem Titel «Aktenchaos bei der STA III in Zürich» schreibt er schon am Montag:

«In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass bei der Sicherstellung von Datenträgern das reine Chaos herrscht. Weder die Behörden noch die Beteiligten sind in der Lage, auch nur im Ansatz zu überblicken, welche Informationen überhaupt sichergestellt wurden, was davon beschlagnahmefähig ist und was auch tatsächlich beschlagnahmt wurde.»

Es stellen sich deshalb einige kritische Fragen an die Zürcher Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte. Beispielsweise die, warum sich die besagte Anwaltskorrespondenz 2021 überhaupt noch in den Akten der Staatsanwaltschaft befand, obwohl sie doch schon 2019 angeblich aussortiert (und damit zurückgegeben oder vernichtet) worden war. Oder wie es überhaupt dazu kommen kann, dass gesetzlich besonders geschützte und einem Beschlagnahmeverbot unterliegende Daten an eine Gegenpartei weitergegeben werden.

Anwalt der Privatklägerschaft war früher selbst Staatsanwalt

Besonders brisant auch: Der Anwalt der Privatklägerschaft, der Zürcher Rechtsanwalt Christian Lüscher, hatte bis 2015 selbst als Staatsanwalt gearbeitet. Und was für ein Zufall: just bei der besagten Staatsanwaltschaft III für Wirtschaftsdelikte, deren Staatsanwälte sich in Fällen wie dem Strafverfahren gegen Pierin Vincenz et al. im Raiffeisen-Komplex gerne als Hüter der Korrektheit inszenieren oder sich in Gastkommentaren in der NZZ gegen Kritik an der Arbeit der Staatsanwaltschaften verwahren.

Hinter vorgehaltener Hand fragen sich ob des Vorfalls indes verschiedene Zürcher Rechtspraktiker, mit denen INSIDE JUSTIZ in den letzten Tagen sprach, ob es sich bei dem Vorgang tatsächlich nur um ein Versehen handelte – oder eher einen Freundschaftsdienst für einen ehemaligen Kollegen. Wäre es so, hätte sich der fallführende Staatsanwalt oder die Staatsanwältin mutmasslich gar selbst eines Amtsdeliktes schuldig gemacht – etwas der Amtsgeheimnisverletzung oder des Amtsmissbrauchs. Ein Anfangsverdacht sei zumindest nicht auszuschliessen, so die Meinung der von INSIDE-JUSTIZ befragten Juristen. – Was die Oberstaatsanwaltschaft zur Eröffnung eines Verfahrens verpflichten würde, will sie sich nicht selbst dem Vorwurf der Begünstigung aussetzen.

Auf die meisten kritischen Fragen von INSIDE-JUSTIZ mag die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich nicht konkret antworten (Fragenkatalog siehe unten): «Wir haben den Vorfall zum Anlass genommen, unsere diesbezüglichen Prozesse zu überprüfen und, wo nötig, zu verbessern. Darüber hinaus können wir mit Blick auf das laufende Verfahren keine weiteren Angaben machen.»

Die Vermutungen der Zürcher Rechtspraktiker, dass mehr als ein Versehen vorliegen könnte, weist die Oberstaatsanwaltschaft zurück: «Der Vorwurf, der fallführende Staatsanwalt könnte zur Erweisung eines ‘Freundschaftsdienstes’ absichtlich gehandelt haben, wird vehement zurückgewiesen. Diese Unterstellung ist haltlos und entbehrt jeglicher Grundlage. Sie können schliesslich davon ausgehen, dass der Vorfall unter allen relevanten Aspekten geprüft wurde.»

Ob und von wem der Vorfall geprüft wurde, bleibt damit offen – eine unabhängige Stelle dürfte es wohl nicht gewesen sein. Vieles bleibt damit offen, oder wie Konrad Jeker in seinem Blog schreibt: «Man darf gespannt sein, wie die Strafbehörden und vor allem die verantwortliche Verfahrensleitung der Staatsanwaltschaft mit diesem vollkommen korrumpierten Verfahren umgehen werden.»

Das waren die Fragen von «Inside-Justiz» im Wortlaut:

 

1.) 
Gemäss Bundesgericht war die Staatsanwaltschaft III von dem Versehen betroffen. Welcher Staatsanwaltschaft oder welche Staatsanwältin konkret? 

2.) 
Gemäss Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts dauerte es zwischen der Hausdurchsuchung der Staatsanwaltschaft Zürich und der widerrechtlichen Aktenherausgabe rund drei Jahre. Wie erklärt sich diese lange Zeit von 35 Monaten? Wie ist dieser Zeitverlauf mit dem Beschleunigungsverbot in Übereinstimmung zu bringen? 

3.) 
Zwischen der Datenherausgabe am 7. Dezember 2021 und der Verfügung zur Vernichtung ebendieser vom 1. März 2022 vergingen rund drei Monate, die für den Anwalt der Prviatklägerschaft ausreichend waren, um diese Daten auszuwerten. Was sagt die Oberstaatsanwaltschaft Zürich dazu? 

4.) 
Der Anwalt der Privatklägerschaft, welcher die Daten erhielt, war früher selbst auf der Staatsanwaltschaft III als Staatsanwalt tätig. Verschiedene von uns befragte Juristen auf dem Platz Zürich wittern hinter dem Vorgang deshalb nicht einfach ein Versehen, sondern einen «Freundschaftsdienst». Was sagt die Oberstaatsanwaltschaft zu diesem Vorwurf? 

5.) 
Dieselben Juristen sehen zumindest einen Anfangsverdacht für einen Amtsmissbrauch, eine Amtsgeheimnisverletzung oder andere Delikte im Amt als gegeben an. Hat die Oberstaatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen den fehlbaren Staatsanwalt oder die fehlbare Staatsanwältin eröffnet resp. andersweitige rechtliche Schritte eingeleitet? 

6.) 
Falls ja, von wem wird dieses Verfahren geführt? Falls nein, warum wurde auf eine Anzeige verzichtet? 

7.) 
Hat der Vorfall irgendeine Konsequenz für den betroffenen Staatsanwalt oder die betroffene Staatsanwältin? 

8.) 
Wie konnte es zu der widerrechtlichen Datenherausgabe kommen und welche Konsequenzen hat die Oberstaatsanwaltschaft angeordnet, um künftige ähnlich gelagerte Fälle zu vermeiden? 

Und, ergänzend:

9.)

Warum sind Daten, die gemäss Bundesgerichtsentscheid 2019 aussortiert worden waren, 2021 immer noch bei den Akten?

2 thoughts on “Neuer Datenskandal bei der Zürcher Justiz

  1. RA Christian Lüscher wird noch Rede und Antwort stehen müssen. Es liegt auf der Hand, dass es eine persönliche und offensichtliche Gefälligkeit war an den ehemaligen Kollegen-Staatsanwalt Lüscher. Die Politik wird dafür Sorgen, dass dieser brisante Fall durchleuchtet wird. RA Lüscher macht somit keine Werbung in eigener Sache.
    PS: Es gilt die Unschuldsvermutung für alle Involvierten.

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