Eine Steuerpflichtige wehrte sich im Nachsteuerverfahren erfolglos gegen die Anrechnung einer geldwerten Leistung. Das Bundesgericht hat in einem aktuellen Entscheid (BGE 9C_592/2023) den Standpunkt der Steuerverwaltung erneut vollumfänglich geschützt. Bemerkenswert an diesem Entscheid ist jedoch nicht der Fall an sich, sondern die Haltung des Bundesgerichts zu Noven. Es zeigt sich, dass das Bundesgericht bei der Zulassung von Noven gegenüber der Steuerverwaltung deutlich grosszügiger ist als gegenüber den Steuerpflichtigen.
Das Bundesgericht hat im März 2024 in einem Dreierentscheid ein Urteil gefällt, das aufhorchen lässt. In der Sache geht es um einen alltäglichen Nachsteuerfall. Es geht um die steuerliche Erfassung einer geldwerten Leistung, welche die Steuerpflichtige als Alleinaktionärin einer inzwischen gelöschten Gesellschaft direkt bezogen haben soll. Leider geht aus dem Sachverhalt nicht hervor, ob die zuständige Steuerverwaltung (Kantonales Steueramt St. Gallen) ein Steuerstrafverfahren eröffnet hat.
Keine Aktenzugang für ausgeschiedenes Organ
Nachdem das Kantonale Steueramt die Nachsteuer veranlagt und die dagegen erhobene Einsprache der Steuerpflichtigen abgewiesen hatte, hiess die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen den Rekurs der Steuerpflichtigen (und ihres damaligen Ehegatten) mit Entscheid vom 13. Februar 2023 gut, weil die Steuerpflichtige nach der Löschung der Gesellschaft im Handelsregister keine Akteneinsicht mehr gehabt habe.
Gegen den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission erhob das Kant. Steueramt St. Gallen Beschwerde beim Verwaltungsgericht St. Gallen erhoben, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 17. August 2023 zulasten der Steuerpflichtigen gutgeheissen hat. Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht spielte ein Kontoauszug einer Drittgesellschaft eine zentrale Rolle. Dieser Auszug wurde vom Kant. Steueramt erstmals auf Stufe Verwaltungsgericht vorgelegt und gehörte vorher nicht zu den Verfahrensakten.
Unzulässiges Novum
Die von der Steuerpflichtigen erhobene Rüge der Verletzung des Novenverbots bügelt das Bundesgericht in E. 3.4 mit knappen Sätzen ab: «Soweit die Beschwerdeführer geltend machen, der buchhalterische Kontoauszug der Drittgesellschaft (Verbuchung der strittigen Zahlungen) stelle ein unzulässiges Novum dar, weil das Dokument erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (und nicht schon vor der Verwaltungsrekurskommission) ins Recht gelegt worden sei, bleibt festzuhalten, dass (erst) die Ausführungen der Verwaltungsrekurskommission die Beschwerde veranlasst haben (vgl. Entscheid vom 2. Februar 2013, Slg. 2013, I-9257, Rz. 2). Entscheid vom 13. Februar 2023 S. 8, wonach Zahlungsbelege gänzlich fehlten und daher nicht erwiesen sei, dass tatsächlich ein Geldfluss stattgefunden habe).»
Diese grosszügige Auffassung des Bundesgerichts ist nicht nur im Hinblick auf Art. 144 Abs. 2 DBG i.V.m. Art. 142 Abs. 4 DBG interessant. Rein normativ ist es richtig, dass neue Beweismittel auch vor dem Verwaltungsgericht als zweiter kantonaler Instanz vorgebracht werden können. In praxi sieht die Zulassung von Noven jedoch anders aus.
Erstaunlich ist, dass das Bundesgericht bei Beschwerden von Steuerpflichtigen in Bezug auf Noven eine andere Praxis lebt und es nicht gerne sieht, wenn Noven erst vor zweiter kantonaler Instanz vorgebracht werden. BGE 9C_104/2023 ist ein Beispiel dafür, dass Noven nicht mehr zugelassen werden, wenn sie erst vor zweiter kant. Instanz vorgebracht werden.
Hinweis auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs
In E. 5.1 führt das Bundesgericht aus: «Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, erst der Entscheid des Steuerrekursgerichts sei der Auslöser für die Einreichung des Parteigutachtens vom 29. November 2021 vor Vorinstanz gewesen, nachdem sein Vertrauen darauf, dass sich das Steuerrekursgericht mit seinen (EMRK-)Rügen „vertieft“ auseinandersetzen werde, enttäuscht worden sei, kann ihm nicht gefolgt werden. (… Unterlassung…) Das Gutachten diente daher – entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers – nicht der Substantiierung von Rechtsverletzungen, die naturgemäss neues Tatsachenvorbringen oder neue Beweismittel erfordern.
Der Hinweis auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Beschwerdegegnerin und das Steuerrekursgericht geht ins Leere: Insbesondere im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer sein rechtliches Gehör bereits im Verwaltungsverfahren verletzt sah, hätte er alles daran setzen müssen, seinen Standpunkt vor dem Steuerrekursgericht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Beweismitteln zu untermauern. Auch ein allfälliges Vertrauen auf die Behandlung seiner Anträge durch das Steuerrekursgericht entbindet ihn nicht von der rechtzeitigen Beweisführung. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist schliesslich BGE 131 II 548 sehr wohl massgebend, soweit es um das Novenverbot auf Vorinstanzstufe geht. (…Unterlassung…) Die Vorinstanz ist weder in Willkür verfallen noch hat sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie die Parteiexpertise vom 29. November 2021 nicht zugelassen hat.»
Verfahrenskosten
Die beiden kantonalen Gerichtsinstanzen in St. Gallen dürften je CHF 3’000.00 in Rechnung gestellt haben. Das Bundesgericht verrechnet seine «Leistung» mit CHF 4’000.00. Hinzu kommen die Parteikosten für die Rechtsverteidigung der Steuerpflichtigen von CHF 10’000.00 (je Instanz CHF 5’000.00). Der mühsame und letztlich verlorene Kampf durch alle Instanzen dürfte die Steuerpflichtigen aus dem Kanton St. Gallen somit rund CHF 20’000.00 gekostet haben. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Steuerpflichtigen im Kampf um Gerechtigkeit und ein faires Verfahren oft den Kürzeren ziehen. Besonders stossend ist im vorliegenden Fall die vom Bundesgericht bestätigte unterschiedliche Novenpraxis der Gerichte. Hinzu kommen die regelmässig enormen finanziellen Auswirkungen im Einzelfall. Alles in allem sind dies bedenkliche Entwicklungen an der Steuerfront, die bei den Betroffenen kaum auf Verständnis stossen.
Ergebnis
Die beiden Urteile 9C_592/2023 und 9C_104/2023 unterscheiden sich einzig darin, dass die Noven zugelassen werden, wenn sie der Steuerbehörde nützen, und abgelehnt werden, wenn sie vom Steuerpflichtigen angerufen werden. Ohnehin erscheint es bedenklich, dass nach Art. 144 Abs. 2 DBG i.V.m. Art. 142 Abs. 4 DBG zwar die zweite kant. Instanz über die volle Kognition verfügt, Noven aber nicht geltend gemacht werden können. Häufig gibt nämlich erst der erstinstanzliche Entscheid Anlass zu einer Ergänzung der Beweismittel. Es kann aber nicht sein, dass das Bundesgericht bei der Zulassung von Noven je nach Parteistellung mit unterschiedlichem Mass misst.Steuergerechtigkeit findet nicht mehr statt. Forderungen wie Waffengleichheit und faires Verfahren bleiben vor Bundesgericht leider oft auf der Strecke. Das Bundesgericht sollte aufpassen, dass es mit seiner unterschiedlichen Praxis den Respekt der Rechtssuchenden nicht vollends verspielt.
Informationen über die beteiligten Richter
Wahl mit Nebengeräuschen
Das Bundesgericht nennt die urteilenden Richterinnen und Richter sowie die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber immer nur mit dem Familiennamen. Inside Justiz ist der Ansicht, dass die Richterinnen und Richter sowie die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber mit vollem Namen genannt werden sollten. Während die hauptamtlichen Richter auf der Homepage des Bundesgerichts mit einem kurzen Lebenslauf vorgestellt werden, findet man bei den nebenamtlichen Bundesrichtern und vor allem bei den Gerichtsschreibern nur die Namen, aber keinerlei Hintergrundinformationen. Dabei sind es vor allem die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber, die in vielfältiger Weise die Urteilsfindung massgeblich beeinflussen und die Urteile prägen.
Steuerrechtsfälle haben vor Bundesgericht traditionell einen schweren Stand, wenn die Beschwerdeführer die Steuerpflichtigen sind. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Beschwerden wird gutgeheissen, wobei viele Beschwerdeführer bereits an den strengen Formvorschriften des Bundesgerichts scheitern. Solche Fälle werden vom Gerichtspräsidenten zusammen mit einem Gerichtsschreiber/einer Gerichtsschreiberin durch Nichteintreten erledigt. Ist hingegen ein kantonales Steueramt oder die ESTV Beschwerdeführerin, so fällt die wohlwollende Haltung des Bundesgerichts auf. Die Erfolgsquote von Beschwerden mit einer Steuerbehörde als Beschwerdeführerin ist signifikant höher. Inside Justiz wird die Steuerrechtsfälle statistisch auswerten und in einem eigenen Artikel behandeln.
Francesco Parrino (SP) wurde 2013 als SP-Kandidat gewählt. Er war zuvor Präsident der Kammer für Sozialversicherung und Gesundheit des Bundesverwaltungsgerichts. Er setzte sich in einer Kampfwahl gegen den FDP-Kandidaten Luca Grisanti durch.
Michael Beusch (SP) sorgte mit einem Etappensieg für den Milliardär Urs Schwarzenbach vor dem Bundesverwaltungsgericht für Aufsehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Zwangsversteigerung von 114 Kunstwerken von Urs Schwarzenbach in letzter Minute gestoppt. Die Zollverwaltung wollte 11 Millionen eintreiben, die der Besitzer des Hotel Dolder schuldete. Schwarzenbach hatte jahrelang Bilder, Skulpturen und Nippes am Zoll vorbeigeschmuggelt.
Karin Scherrer Reber (FDP), Bürgerin von Zwingen/BL, Solothurn und Madiswil/BE mit Rechtsstudium an der Universität Basel. Seit 2012 Oberrichterin im Kanton Solothurn. Seit 2015 Präsidentin des Verwaltungsgerichts und seit 2019 Mitglied der Gerichtsverwaltungskommission. Wahl zur ordentlichen Bundesrichterin am 28. September 2022.
Andreas Traub, Dr.iur., Gerichtsschreiber am Bundesgericht, Lausanne.