NZZ – Ein kleiner Sieg für die Pressefreiheit

Urteil UH230287 vom 9.1.2024, rechtskräftig

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) hat vor dem Zürcher Obergericht einen juristischen Erfolg errungen. Es ging um die Berichterstattung über einen Missbrauchsfall, bei dem das Bezirksgericht Zürich den Medien ursprünglich untersagt hatte, über wesentliche Details zu berichten, um die Identifizierung der Beteiligten zu verhindern. Zeno Geisseler, Redaktor der NZZ, betonte, dass diese Einschränkungen eine kritische Debatte über die Pressefreiheit und die Rechte der Medien ausgelöst hätten.

Im Zentrum des Streits stand die Frage, inwiefern die Berichterstattung über bestimmte Aspekte eines Falles, wie etwa die Religion der Beteiligten oder das spezifische Umfeld des Geschehens, die Identifizierung von Personen zulässt oder sogar notwendig ist, um die Öffentlichkeit angemessen zu informieren.

Kritische Debatte

Genau darum ging es in einem Prozess, über den die NZZ und andere Medien Ende August 2023 berichteten. Vor dem Bezirksgericht Zürich stand damals unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Mann vor Gericht, der mehrere Jahre zuvor einen Nachbarsjungen sexuell missbraucht haben soll.

Die Staatsanwältin argumentierte 2023, es handle sich um einen Fall der Instrumentalisierung struktureller Gewalt. Entscheidend für das Geschehen sei auch das Umfeld, aus dem die beiden stammten. Wie dieses Umfeld genau aussah, durften die Medien aber nicht schreiben.

Das Gericht hatte den Journalisten auf Antrag des Angeklagten Auflagen für die Berichterstattung gemacht, obwohl das Gesetz solche Einschränkungen grundsätzlich zum Schutz der Opfer vorsieht. Insbesondere durften die Journalisten keine Angaben zur Religion des Mannes und des Kindes sowie zum Tatzeitpunkt machen. Die NZZ und andere Medien sprachen damals lediglich von einem «sehr speziellen Milieu».

Redaktion wehrte sich

Die Redaktion der NZZ war mit dieser Einschränkung der Medienfreiheit nicht einverstanden und reichte aus grundsätzlichen medienrechtlichen Überlegungen Beschwerde beim Obergericht ein. Die NZZ argumentierte, dass die Auflagen nicht verhältnismässig seien. Bei anderen Missbrauchsfällen, insbesondere in der katholischen Kirche, sei die Religion immer erwähnt worden. «Es besteht deshalb ein gesteigertes öffentliches Interesse daran, darüber berichten zu können, dass es auch in anderen Religionsgemeinschaften zu solchen Vorfällen kommen kann.»

In seinem Entscheid vom 9. Januar entschied das Obergericht schliesslich zugunsten der NZZ, indem es feststellte, dass die ursprünglichen Auflagen des Bezirksgerichts nicht verhältnismässig seien und die Medienfreiheit unnötig einschränkten. Besonders hervorgehoben wurde die Bedeutung der Berichterstattung über Missbrauchsfälle innerhalb von Religionsgemeinschaften, die das Obergericht als öffentliches Interesse anerkannte.

Der Entscheid erlaubte den Medien, detaillierter über den Fall zu berichten, insbesondere über die Zugehörigkeit des Täters und des Opfers zur orthodoxen jüdischen Gemeinde in Zürich und die Tatsache, dass der Missbrauch am Sabbat stattgefunden hatte. Das Obergericht betonte die Notwendigkeit einer sorgfältigen Abwägung zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem öffentlichen Interesse an der Berichterstattung.

Bedeutung des Urteils

Der Oberste Gerichtshof wies darauf hin, dass gerichtliche Einschränkungen für die Medien nicht auf diesen Einzelfall beschränkt seien. Solche Einschränkungen könnten sich «jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wiederholen». Die zentrale Frage sei, wie viel es brauche, damit das weitere soziale Umfeld der Betroffenen erkennen könne, um welche Personen es sich handle. Die NZZ wies darauf hin, dass die orthodoxe jüdische Gemeinschaft sehr viele Mitglieder habe. Ohne eindeutige Merkmale wie die Namen der Protagonisten sei auch bei Nennung der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde keine eindeutige Identifikation möglich.

Die Bedeutung des Urteils geht über den Einzelfall hinaus und betrifft eine grundsätzliche Frage der Pressefreiheit. Es setzt ein Zeichen gegen die oft zu restriktive Praxis der Gerichte (insbesondere in Zürich) und unterstreicht die Rolle der Medien. Und es warnt vor den Gefahren einer zunehmend restriktiven Haltung gegenüber der Presse, nicht nur in autoritären Regimen, sondern auch in demokratischen Gesellschaften wie der Schweiz.

Das Urteil fällt in eine Zeit, in der die Medienfreiheit unter Druck gerät, wie die Diskussionen um einen Entscheid des Ständerats zeigen, der die Einsichtnahme in illegal beschaffte Daten unter Strafe stellen will. Interne Dokumente oder Berichte, die auf Missstände hinweisen, dürften dann nicht mehr straflos verwendet werden. Bereits heute ist es strafbar, geheime Daten einer Schweizer Bank zu verwenden. Schweizer Medienschaffende dürfen beispielsweise bei Datenlecks nur noch abschreiben, was ausländische Medien über die gleichen Dokumente berichten. Das schränkt die Recherchemöglichkeiten der Medien massiv ein und ist ein weiterer Schlag gegen die Pressefreiheit.

Während die Entscheidung des Landgerichts nun rechtskräftig ist, ist der zugrundeliegende Fall, der mögliche sexuelle Missbrauch eines Kindes, noch nicht entschieden. Das Amtsgericht hatte den Angeklagten nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt, die Mitte September vor dem Obergericht verhandelt wird.

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