Mehr als 60 Prozent der Long-Covid-Patient:innen erhalten keine Unterstützung von der IV. So zeigt es eine Auswertung des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Immer wieder berichteten Medien in den vergangenen Wochen über den miserablen Umgang der IV-Stellen mit Betroffenen. Am Ende bleibt wohl nur der Rechtsweg.
Das Online-Magazin Ajour berichtete diese Woche von Sara P., einer Long-Covid-Patientin. Die Frau kann seit über zwei Jahren nicht mehr arbeiten, hat ständigen Nebel im Kopf und kann sich nicht länger als drei Stunden auf den Beinen halten. In der Klinik in Zurzach diagnostizierte man ein Post-Covid-Syndrom. Daraufhin erhielt Sara P. Krankentaggelder, die nun nach zwei Jahren auslaufen. Deshalb hat sie sich bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet. Diese lehnt jegliche Unterstützung ab. Ihr wird attestiert, dass sie nicht voll arbeitsfähig sei. Einen „Gesundheitsschaden mit Krankheitswert“ erkennt die IV jedoch nicht.
Die IV bezweifelt, dass das diagnostizierte Post-Covid-Syndrom die Hauptursache für die Probleme sei. Gemäss einem Gutachten der IV könne es sich um ein Schmerzsyndrom handeln, das versicherungsmedizinisch nicht relevant ist, da man damit nicht als dauerhaft arbeitsunfähig gilt. Als zweite Möglichkeit benennt die IV „psychosoziale Gründe“, weil die Patientin früher einmal wegen eine depressiven Phase in psychiatrischer Behandlung war. Für die IV heisst das alles: kein Anspruch.
Fast niemand erhält Unterstützung
Die Schätzungen über die Ausbreitung von Long Covid gehen stark auseinander. Es gibt kein Register und keine Arbeitsgruppe, die diese Zahlen erhebt, weil sich der Bund gegen ein solches Register entschied. Einzige Anhaltspunkte sind vom BAG und dem Kanton Zürich aufgegebene Studien, deren Einschätzungen dazu kommen, dass in der Schweiz zwischen 70’000 und 300’000 Menschen an Long-Covid-Symptomen leiden. Ein Anhaltspunkt sind auch die IV-Zahlen. Seit 2021 haben sich 5000 Menschen bei der IV deswegen angemeldet. Dabei handelt es sich aber wohl nur um die Spitze des Eisbergs.
Eine Auswertung des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigt, dass 62 Prozent der Long-Covid-Patient:innen keine Unterstützung erhalten. Die 38 Prozent, denen die IV einen Anspruch bestätigt, werden primär durch berufliche Wiedereingliederungsmassnahmen unterstützt. Nur gerade 3,6 Prozent erhalten von der IV tatsächlich eine Rente.
Auch der „Kassensturz“ berichtete im Februar bereits über die Praktiken der IV, die Familien bis in die Armut treiben können. Denn das Problem ist – und das liegt der Argumentation der IV-Stellen häufig zugrunde: Long-Covid ist ein Syndrom, keine klar identifizierbare Krankheit. Vielmehr handelt es sich um eine Kombination vieler verschiedener Symptome. Die häufigsten sind gemäss WHO Fatigue (schwere Erschöpfung), Kurzatmigkeit und kognitive Beeinträchtigungen wie Sich-nicht-konzentrieren-können. Die Forschung arbeitet zwar auf Hochdruck dazu, ist aber noch nicht weit genug. In der Forschung zeichnet sich aber immer deutlicher ab: Long Covid ist Teil eines komplexen Autoimmungeschehens.
Die Krankheit ist komplex
Maja Strasser, Neurologin in Solothurn, die in ihrer Praxis 160 Long-Covid-Patient:innen betreut, äusserte sich gegenüber dem Kassensturz. Das Krankheitsbild sei wahnsinnig komplex, die Begleitung der Patienten anspruchsvoll. Viele seien zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Die IV hingegen habe Mühe, das Krankheitsbild einzuordnen. Die Gutachten, die sie bislang von ihren Patienten gesehen habe, seien mangelhaft und erfassten das Wesentliche nicht, so Strasser. Zudem dauern die Verfahren enorm lang, ziehen sich zum Teil über zwei Jahre, was für die Betroffenen eine zusätzliche Unsicherheit darstellt.
Gegenüber Ajour sagt Strasser auch: „Die meisten Patientinnen und Patienten mit Long Covid und dem chronischen Fatigue-Syndrom erleben eine gesellschaftliche Stigmatisierung und werden als Simulanten oder als psychisch krank angesehen.“ Die ambivalenteste Figur dieser Position findet sich im SVP-Hardliner Andreas Glarner, der zwar selbst an Long-Covid leidet, sie den meisten anderen Betroffen jedoch abspricht.
Was tun?
Der oberste IV-Chef des Bundesamtes für Sozialversicherungen Florian Steinbacher nimmt beim Kassensturz dazu Stellung. Die Aussichten sind ernüchternd. Es fehle an Gutachtern, deswegen dauert es so lange. Das Problem werde sich deswegen in nächster Zeit nicht lösen. Ein Wille zur Problemlösung scheint es von IV-Seite nicht zu geben. Sara P. klagt nun als eine der ersten Long-Covid-Patientinnen gegen die strenge IV-Praxis, wobei Gerichtsverfahren gegen die IV oft schwer zu gewinnen sind. Sie sagt: „Ich sitze nicht seit zwei Jahren zu Hause, weil ich nicht raus will, sondern weil ich nicht kann.“ Die Urteile sind noch ausstehend, doch auch die Verfahren dauern und sind kräftezehrend, vor allem, wenn man unter der Belastungsintoleranz durch Long-Covid leidet.