Peinlich: Zürcher Obergericht besetzt Spruchkörper illegal

Das Bundesgericht rüffelt das Zürcher Obergericht. Dieses hat Spruchkörper widerrechtlich besetzt, indem es Gerichtsschreiberinnen und -schreiber als Ersatzrichterinnen und – richter einsetzte. Diese Praxis sei grundrechtswidrig, schreibt jetzt das Bundesgericht jetzt den Zürcher Gerichtsbehörden ins Stammbuch.

Konkreter Anlass für die Rüge war die Haftbeschwerde von Rechtsanwalts Thomas Held für einen Mandanten, der unter dem Verdacht verschiedener Wirtschaftsdelikte in Untersuchungshaft versetzt worden war. Die Zürcher Staatsanwaltschaft leistete sich dabei verschiedene Formfehler, das Zwangsmassnahmengericht Zürich wies die Untersuchungshaft – wie ja praktisch immer – gleichwohl an, das Zürcher Obergericht wies eine Beschwerde ab.

Vor Bundesgericht machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Zusammensetzung des Spruchkörpers im Urteil nicht mehr derjenigen entsprach, welche vom Zürcher Obergericht zunächst mitgeteilt worden war. Und: Im Spruchkörper erschienen mit der Ersatzoberrichterin Charlotte Schoder und dem Ersatzoberrichter Titus Graf plötzlich zwei Richter, die am selben Zürcher Obergericht hauptamtlich als Gerichtsschreiber beschäftigt sind. Und nicht nur das: Sie sind in dieser Funktion auch noch dem Kammerpräsidenten Andreas Flury (SVP) unterstellt, der sogar noch selbst als Vorsitzender des Spruchkörpers in dem Fall mitwirkte – und in seiner Rolle als Kammerpräsident gemäss der Zürcher Verordnung über die Organisation des Obergerichts auch für die Fallzuteilung der Richterinnen und Richter zuständig ist.

Was jetzt doch auch dem Bundesgericht ein Zuviel war an fehlendem Gespür war für den grundrechtlich verankerten Anspruch auf ein unabhängiges Gericht.

Das Bundesgericht folgte deshalb der in Lehre und Literatur praktisch einhelligen Meinung, welche eine solche Kumulation von Ämtern kritisch sieht. Es kommt deshalb zum Schluss, dass die Zürcher Praxis mit Art. 30 Abs. 1 der Bundesverfassung und Art. 6 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in Einklang zu bringen sei. Es hat das Urteil des Obergerichts aufgehoben und den Fall zur erneuten Beurteilung „in verfassungs- und konventionskonformer Besetzung“ nach Zürich zurückgeschickt.

BGE 1B_420/2022

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Es ist zunächst erfreulich, dass das Bundesgericht in einem konkreten Fall den Justiz-Filz für einmal in seine Grenzen weist. Die Gerichtsbehörden tun sich ja schwer genug damit, auch in offensichtlichsten Fällen von Interessenkollisionen mit dem Verweis auf irgendwelche verletzten Formalitäten – etwa die verspätete Rüge – Beschwerden gegen die Befangenheit von Richterinnen und Richtern gutzuheissen. Der grundrechtliche Anspruch, dass an den Gerichten nicht einmal der Anschein von Befangenheit bestehen dürfe, wird dabei regelmässig zur völligen Farce.

Die grundsätzliche Freude weicht allerdings schnell dem Kopfschütteln, wenn man sich den Wortlaut des Urteils der Richter Lorenz Kneubühler (SP), Monique Jametti (SVP), Stephan Haag (GLP),  Thomas Müller (SVP) und Laurent Merz (Grüne) zu Gemüte führt. Was die Lausanner Damen und Herren Richter da herumschwurbeln, etwa wenn sie schreiben, es seit festzuhalten und zu betonen, dass weder die fachliche Kompetenz noch die persönliche Integrität der Ersatzoberrichterin Charlotet Schoder und des Ersatzoberrichters Titus Graf vom Beschwerdeführer bestritten würden oder in Frage stünden – schwierig auszuhalten.

Fakt bleibt, dass offensichtlich weder der Kammerpräsident noch die Schreiber/Ersatzrichter sensibel genug waren, um selbst zu bemerken, dass sie in dieser Zusammensetzung nicht EMRK-konform entscheiden können. Aber auch im Weiteren lesen sich die bundesgerichtlichen Erwägungen mehr als Rechtfertigung denn als Begründung für den gefällten Entscheid. So verpasst es das Bundesgericht weitgehend, eigene Argumente anzuführen oder mit deutlichen Worten für die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter einzustehen. So gerne und lautstark sie aufheulen, wenn sich die Politik erlaubt, ihre Arbeit zu kritisieren. Wenn die Unabhängigkeit aber innerhalb der Juristenkaste nicht gewährleistet ist, ist der Tonfall dann doch erstaunlich anders. 

Vielmehr wird fast bedauernd auf Lehre und Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verwiesen, bis der Eindruck entsteht, man könne halt nicht anders. Beispielhaft das Zitat zur Rechtspraxis des EGMR: „Dieser hat wiederholt eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit festgestellt, obwohl die jeweiligen Gerichtspersonen in ihrer rechtsprechenden Funktion nicht (direkt) weisungsgebunden waren oder ihnen eine solche Weisungsfreiheit sogar gesetzlich zugesichert wurde, und ohne dass Anzeichen für eine konkrete externe Einflussnahme vorgelegen hätten.“

Dafür immer wieder Verweise darauf, dass ja auch die Ersatzrichterinnen und -richter gewählte Richterpersonen und damit demokratisch legitimiert seien. Tatsächlich werden in Zürich auch die Ersatzrichterinnen und Ersatzrichter des Obergerichts durch den Kantonsrat (und nicht etwas das Volk, wie bei den Bezirksgerichten) gewählt. Das macht die Sache indes nicht besser, sondern zeigt lediglich, dass auch bei den Parlamentarierinnen und Parlamentariern kein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter ein hohes Rechtsgut ist – bzw. wäre und dem Juristenfilz schon bei den Wahlen der Ersatzrichterinnen und -richter ein Riegel zu schieben wäre.

 

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