Die meisten Schweizer Medien zeigen sich in ihren Berichten über das Urteil im „Raiffeisen-Prozess“ vor dem Zürcher Bezirksgericht von der Höhe der Strafen überrascht und zitieren verschiedenste Beobachter.
Die NZZ schreibt: „Das Urteil wirkt hart. Zwar blieb das Gericht deutlich unter den geforderten maximalen Strafen, doch das Strafmass fällt für die Hauptbeschuldigten Beat Stocker und Pierin Vincenz mit 4 und 3 Jahren und 9 Monaten doch überraschend scharf aus. Manche Beobachter hatten mit einer Verurteilung bei den Spesenverstössen gerechnet, aber höchstens zu einem kleinen Teil wegen der gewichtigeren Firmentransaktionen. Doch das Gericht hat offensichtlich den vielen Indizien, welche die Ankläger beigebracht hatten, mehr Gewicht beigemessen als den Zweifeln, welche die Verteidigung im Lauf der Verhandlung aufgeworfen hatte.“ Ein Schlussfazit könne allerdings noch nicht gezogen werden, da bereits klar sei, dass das Urteil weitergezogen werde.
Auch für SRF ist das Urteil härter ausgefallen als erwartet: „Die Lehren aus dem Fall sind, dass ein Firmenchef nicht schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Heimliche Absprachen, die zu privaten Gewinnen führen, müssen offengelegt werden. Und: Interessenskonflikte wie im Fall von Beat Stocker können strafbar sein. Er hatte eine Doppelrolle als Berater und Investor inne“, schreibt Manuel Rentsch von der SRF-Wirtschaftsredaktion in einer Analyse.
Experten sprechen praktisch unisono von einem (zu) harten Urteil
20 MINUTEN zitiert neben einigen Laien aus dem Parlament den Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch, der sich über die lange Gefängisstrafe „überrascht* zeigt. „Ich hätte ein tieferes Strafmass erwartet“, lässt er sich zitieren. Und: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Höhe der Freiheitsstrafe von der nächsten Instanz nach unten korrigiert wird.“ Ähnlich tönt es auf BLICK.CH: „Das Gericht überrascht alle: Dieses Urteil schockt Pierin Vincenz“ titelt das Boulevard-Portal.
Auf dem TV-Kanal der BLICK-Gruppe ist auch der Berner Wirtschaftsrechts-Professor Peter V. Kunz überrascht ob des Urteils: „Die Staatsanwaltschaft hat in der mündlichen Verhandlung eigentlich wenig beweisen können.“ Kunz vermutet, dass die Richter in den Akten weitere Indizien gefunden hatten, welche für sie schliesslich ein Gesamtbild ergaben. Allerdings rechnet auch er damit, dass das Urteil beim Weiterzug ans Zürcher Obergerichct für Vincenz besser ausfallen werde.
Auch Niggli bleibt skeptisch
Auch Strafrechtsprofessor und Mitherausgeber des Basler Kommentar Strafrecht, Marcel Niggli erachtet das Urteil gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz als viel zu hart. Niggli hatte sich schon bei Prozessbeginn kritisch zur Anklageschrift geäussert und bleibt dabei, wie er im Interview mit der ZÜRICHSEE-ZEITUNG erklärt: „Bei der Bemessung des Schadens und der Herleitung des Betrugs macht es sich das Bezirksgericht zu einfach.“ Die nächste Instanz könnte das korrigieren. «Die Chancen sind meiner Meinung nach gut», sagt Niggli.
Niggli hatte sich insbesondere auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob in den verschiedenen Fällen überhaupt ein nachweisbarer Schaden entstanden war – eines der Tatbestandsmerkmale für verschiedene der infragekommenden Wirtschaftsdelikte. „Daraus, dass Vincenz und Stocker ihre Verkaufserlöse aus den Firmenbeteiligungen ihren Arbeitgebern herausgeben müssen, ergibt sich noch kein Schaden im strafrechtlichen Sinne“, hält Niggli fest und vermutet, dass das grosse Medieninteresse dafür gesorgt habe, dass das Urteil so streng ausgefallen sei. WATSON.CH aus dem Hause der CH-MEDIEN schreibt: „Es scheint, als habe das Gericht ein Exempel gegen die Abzockermentalität in der Wirtschaft statuieren wollen.“
TAGES-ANZEIGER: „Angemessen“
Als angemessen beurteilt das Urteil eigentlich nur der linke Zürcher TAGES-ANZEIGER, der findet, die Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten sei gerechtfertigt. Vincenz habe in der der Vergangenheit selbst immer wieder die moralisch verwerflichen Millionenbezüge der Grossbanken angeprangert. In der HANDELSZEITUNG schreibt Chefredaktor Stefan Barmettler: „Noch nie wurde in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte ein Topmanager derart hart angepackt und derart gnadenlos abgestraft. Ein «in dubio pro reo» gab es für Vincenz und Stocker am Bezirksgericht Zürich nicht. (…) Ihre Reputation als Manager haben die beiden spätestens diese Woche verloren. Dabei hatte Stocker vor Prozessbeginn im NZZ-Interview noch das Selbstbild vom risikofreudigen Unternehmer gezeichnet, der von allen Firmenorganen in der Schweiz «Skin in the Game» verlangt. Heute steht der Unternehmensberater mit den Belehrungen als mutmasslicher Serien-Trickser da.“
Barmettler ortet Auswirkungen des Urteils über den Raiffeisen-Fall hinaus: „Es könnte nämlich jetzt die Zeit anbrechen, dass Gerichte Wirtschaftsakteure, die abgehoben haben, mit Tricks nach Profitmaximierung streben und dabei ganz tief in die Firmenkasse greifen, ungleich härter anfassen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Bei Spesenrechnungen hat man gerne ein oder zwei Augen zugedrückt. Und Insider-Fälle enden meistens mit einem Freispruch oder im schlimmsten Fall mit (partiellem) Gewinneinzug – aber sicher nie mit Freiheitsstrafen. Das könnte sich – falls das Urteil aus Zürich Bestand hat – ändern.“