Eines der skurileren Kapitel der Zürcher Rechtsgeschichte nimmt ein Ende. Das Obergericht lässt den «Aktivisten-Richter» Roger Harris (Die Mitte) auflaufen – und erklärt ihn für Verfahren im Zusammenhang mit Klima-Aktivistinnen und -aktivsten für befangen – oder siehst mindestens den Anschein der Befangenheit für gegeben an. Das berichtet heute die NZZ.
Harris hatte in einem erstinstanzlichen Urteil als Bezirksrichter seinen Mund ziemlich voll genommen. Entgegen der herrschenden Lehre und Praxis hatte er im September eine sogenannte «Klima-Aktivistin» und vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen. Im Online-Portal REPUBLIK berichtete Brigitte Hürlimann, Harris habe bei der Urteilsverkündung erzählt, er sei nicht mehr bereit, friedliche Demonstanten schuldig zu sprechen. Jeder habe das Recht, gewaltfrei zu demonstrieren und eine derartige Nutzung des öffentlichen Bodens sei schlicht hinzunehmen. Harris soll gemäss dem Bericht die Meinung vertreten, es müsse nur bei Gewalt eingegriffen werden. Von den «Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten» wurde er dafür bejubelt, sein Urteilsspruch mit Applaus bedacht.
Staatsanwaltschaft beantragt Befangenheit und zieht ans Obergericht weiter
Das war der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich nun offenbar zu viel und sie stellte bei zwei neuen Verfahren gegen Klima-Aktivisten vor dem Zürcher Bezirksgericht, bei denen Harris wieder als Richter hätte amten sollen, einen Befangenheitsantrag und zogen die abschlägigen Entscheide des Bezirksgerichts an das Obergericht weiter. – So zumindest muss die Berichterstattung der NZZ in der Sache interpretiert werden. Dieses hat die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Zwischenentscheide nun in den Urteilen UA220043-O/U/AEP und UA220042-O/U/AEP stattgegeben.
«Machen Sie weiter so»
Der Artikel, in dem beschrieben wird, wie Richter Harris am Ende die Beschuldigte auffordert: «Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Machen Sie weiter so!» wird gemäss NZZ nun auch in den Urteilen des Obergerichts herangezogen und als Grund angesehen, dass Harris von den Fällen gegen die Klima-Aktivisten abgezogen wird. Dabei habe das Obergericht die Tonbandaufzeichnung nicht einmal beigezogen, sondern sich ausschliesslich auf die Aussagen in dem Artikel gesützt. Die Äusserungen Harris liessen die gebotene Distanz vermissen, daraus würde sich ein Misstrauen in die Unvoreingenommenheit einer Gerichtsperson ergeben, zitiert die NZZ die Entscheide des Obergerichts.
Harris wehrte sich gegen Befangenheit
Harris selbst hatte sich gegenüber dem Obergericht gegen den Befangenheitsantrag gewehrt und versichert, er fühle sich in keiner Weise befangen oder voreingenommen, die REPUBLIK habe seine Aussagen verkürzt wiedergegeben und die Berichterstattung sei nicht neutral gewesen – zudem hätte er an der mündlicihen Urteilseröffnung mitgeteilt, jeden Fall neu zu beurteilen, was jedoch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgen müsse. Ob Harris den Entscheid weiterzieht, wird nicht vermeldet.
Schriftliche Urteilsbegründung ganz anders
Tatsache ist, dass sich von Harris‘ mündlichen Ausführungen im Gerichtssaal nichts in dem schriftlichen Urteil wiederfindet, wie die REPUBLIK in einem neuen Artikel nachlegt. Das Online-Portal gibt sich darin alle Mühe, den Eindruck des ersten Beitrags zu korrigieren, der klar die Wahrnehmung schürte, Harris argumentiere nicht auf der Basis des Rechts, sondern primär politisch. In dem neuen Beitrag zitiert sie aus der schriftlichen Urteilsbegründung, in der Harris den Freispruch vor allem mit zwei Argumentationslinien begründet: Zum einen sei der Sachverhalt von Polizei und Staatsanwaltschaft nur unreichend erstellt und bei der Beweisaufnahme geschludert worden (was Harris nicht so direkt, aber sinngemäss sagt). Zum anderen stützt sich Harris auf den EGMR und ist offenbar der Ansicht, die Aktivistinnen und Aktivisten hätten lediglich ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ausgeübt, das unter dem Schutz der EMRK stehe. Dass die Demonstration unbewilligt gewesen sei, rechtfertige noch keinen Eingriff in die Versammlungsfreiheit.
Niggli: Klare Rechtslage
Dieser Argumentation wiederum hatte der Fribourger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli jüngst in einem Interview mit der NZZ AM SONNTAG deutlich widersprochen. «Es geht nicht, dass jemand sagt, er kämpfe für das Gute – und dann alles tun darf. Stellen Sie sich vor, jemand kommt abends einfach so in ihre Wohnung rein. Sie sagen: ‹Was machen Sie da?› Und er antwortet: ‹Ich kontrolliere nur, ob Sie alle Geräte abgestellt haben.› Das ist sicher auch ein guter Zweck. Und so ein Hausfriedensbruch, könnte man einwenden, ist nicht das schwerste Delikt. Aber möchten Sie das? Wenn jemand straflos fürs Klima Regeln brechen kann, wieso dann nicht auch der Rechtsextreme für seine Ziele? Wir brauchen Regeln, wann wer in welche Sphäre eindringen kann. Und die haben wir gegenwärtig. Sie heissen Recht.
Harris ist nicht der Einzige
Wie Thomas Hasler im TAGESANZEIGER berichtet, ist Harris allerdings nicht der einzige Zürcher Bezirksrichter, der Freisprüche gegen Klima-Aktivisten ausspricht. Im Mai habe auch Richter Manuel Hauser (Alternative Liste) eine Beschuldigte freigesprochen, im November habe Richter Thomas M. Meyer (SVP) zwei Angeklagte freigesprochen. In allen diesen Fällen verweise das schriftliche Urteil auf eine schludrige Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft – so hatte im Übrigen auch Harris im schriftlichen Urteil argumentiert: Die Richter argumentieren regelmässig damit, die Sachverhalte seien nicht ausreichend erstellt, die Polizeifotos beispielsweise könnten aufgrund von fehlenden Zeitangaben nicht beweisen, dass die Handlung einer Person tatsächlich die Dauer und Intensität erreicht habe, um den Tatbestand der Nötigung zu erfüllen. Eine Blockade von vier bis fünf Minuten reiche für eine Verurteilung nicht aus. Die Staatsanwaltschaft zieht sämtliche Fälle an das Obergericht weiter.
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Die Gerichtsposse um Richter Roger Harris ist ein weiteres Beispiel eines Falles am Bezirksgericht Zürich, das in Juristenkreisen Kopfschütteln auslöst. Wir erinnern uns: Betroffen ist dasselbe Gericht, dessen Gerichtspräsident Sebastian Aeppli es nicht schaffte, nach jahrelanger Vorbereitung ausreichend grosse Räumlichkeiten für das Verfahren im Raiffeisen-Komplex zu organisieren, sodass Medienvertreterinnen und -vertreter ausgesperrt werden mussten. Derselbe Aeppli versprach anlässlich der Urteilseröffnungen gegen Vincenz & Co, das schriftliche Urteil werde bis zum Sommer vorliegen. – Unterdessen ist November bald vorbei und kein Urteil in Sicht. Dann empörte derselbe Aeppli mit einem Zensur-Entscheid im Strafverfahren gegen Ruben Bergkraut: Die Namensnennung des gewalttätigen Schauspielers mit rechtsextremistischem Gedankengut wurde allen in dem Fall akkreditierten Medien verboten – eine Beschwerde dagegen ist noch hängig. Und schliesslich die Posse um Richter Harris, der politische Urteile fällt und sich im Gerichtssaal dafür bejubeln lässt. Dass wir uns richtig verstehen: Dass die Bezirksrichter die Arbeit der Untersuchungsbehörden kritisch würdigen, ist durchaus korrekt. Dass eine Aktivistin zwei Tage in Polizeihaft einbehalten wird, wie es offenbar regelmässig geschieht, und es dafür keinen wirklichen Grund gibt, wie beispielsweise Bezirksrichter Meyer ausführt, ist zu begrüssen. Bei den Äusserungen Harris‘ dürfte aber klar sein, dass die Gesinnung das Urteil diktierte und die schriftliche Begründung lediglich der Rechtfertigung diente.
Das Bezirksgericht Zürich sollte dringend in sich gehen, wenn es seine Glaubwürdigkeit nicht weiter untergraben will.