Kann eine Steuerbehörde Strafrecht? In einem besonders krassen Fall aus Appenzell Ausserrhoden sagt das Obergericht: Nein. Und lädt die Steuerbehörde ein, „in künftigen Verfahren dem Einhalten der verfahrensmässigen Voraussetzungen das nötige Gewicht zukommen zu lassen, damit nicht als Konsequenz bei deren Nichteinhaltung (…) eine Aufhebung der Strafverfügung aus rein formellen Gründen resultieren muss“. Unter Juristen nichts weniger als eine klatschende Ohrfeige an die ausserrhoder Steuerverwaltung. Die zuständige Rechtsdienstleiterin der ausserrhoder Steuerbehörde hat aus dem Fall bis heute nichts gelernt.
Der Spuk begann mit einer Express-Mond-Zustellung. Mit Datum vom 12. Dezember 2019 eröffnete die Steuerverwaltung von Appenzell Ausserrhoden dem Treuhänder Markus Waser*, dass es gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet habe. In dem Schreiben fasste ein Praktikant der Steuerverwaltung den Sachverhalt zusammen, der dem Treuhänder zur Last gelegt wurde. Er hatte die Steuererklärungen eines Ehepaares aufgesetzt und die Buchhaltungen für verschiedene Unternehmen der beiden geführt. Im Streit standen verschiedene Aufwände, welche die Steuerverwaltung für nicht geschäftlich begründet betrachtete, etwa für Taxifahrten oder ein Fahrtraining.
Die Steuerverwaltung sah darin eine Beihilfe zur vollendeten Steuerhinterziehung und drohte schon in der Eröffnungsverfügung eine Strafe von CHF 30’000.– (für den Kanton) und CHF 20’000.– (für den Bund) an. – Für denselben Sachverhalt, was schon per se grundrechtliche Fragen aufwerfen würde. Aber lassen wir das.
Androhung polizeilicher Überbringung
Die Mitteilung, dass überhaupt ein Steuerstrafverfahren gegen den Treuhänder eröffnet worden sei, schickte die Steuerverwaltung, einigermassen ungewöhnlich, per Express-Mond-Einschreiben an die Adresse von Waser in Laufenburg. Nur: Dort war der Treuhänder bei der ersten versuchten Express-Zustellung nicht anzutreffen. Der Pöstler legte einen Abholzettel ins Fach, und schliesslich gilt auch bei Express-Zustellungen, dass der Empfänger das Recht hat, die Sendung innerhalb von 7 Tagen ordentlich bei der Poststelle abzuholen. Falls er diese Frist versäumt, darf die Behörde den letzten Tag dieser 7-Tage-Frist als Abholdatum interpretieren – im Jargon: Zustellungsfiktion. Im konkreten Fall hiesse das, dass Waser bei dem erfolglosen Zustellversuch am Morgen des 13. Dezember bis zum 20. Dezember, Zeitpunkt der Schliessung der Poststelle, Zeit gehabt hätte, das Schreiben abzuholen.
Es drückte wohl die Verjährungsfrist
Solange mochte die Steuerverwaltung in Herisau allerdings nicht warten – nachdem sie den Fall bislang zehn Jahre verschleppt hatte. Denn die Anschuldigungen betrafen die Steuerperioden 2009 und 2010. Mit anderen Worten: Die Behörde lief am 31. Dezember 2019 zumindest bei einem Teil der Vorwürfe in die Verjährung. So hatte man den Beschuldigten denn auch in der Eröffnung der Strafuntersuchung, die am 12. Dezember 2019 verschickt wurde, bereits auf den 20. Dezember 2019 um 1000 Uhr zur Einvernahme vorgeladen. Also auf einen Termin noch bevor dessen rechtmässige Frist zur Abholung des Schreibens überhaupt abgelaufen war. In dem Schreiben wurde ihm auch gleich mitgeteilt, dieser Termin sei nicht verschiebbar. Auch das ein Unikum, wie das Ausserrhoder Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 10. Dezember 2020 festhielt: „Immerhin ist anzumerken, dass in verfahrensmässiger Hinsicht durchaus bedenktlich erscheint, wenn die Vorinstanz bereits zum Vornherein jegliche Verschiebung des doch sehr kurzfristig angesetzten Termins explizit ausschliessen will.“
Als die Leiterin des Rechtsdienstes des Ausserrhoder Steueramtes, Ladina Nick, am 13. Dezember 2019 realisieren musste, dass die Erstzustellung nicht funktioniert hatte, griff die Juristin und ehemalige FDP-Nationalratskandidatin kurzum zum Zweihänder. Sie rief Waser, wie dieser in der Beschwerde ans Verwaltungsgericht später schrieb, an und droht mit einer polizeilichen Zustellung, falls der Beschuldigte sich nicht bereit erklärte, das Schreiben von einem Boten des Ausserrhoder Steueramtes noch am selben Tag persönlich in Empfang zu nehmen. – Worauf sich dieser schliesslich einliess, um dem angedrohten Polizeiüberfall zu entgehen.
Strafbefehl erlassen, bevor Frist zur Stellungnahme ablief
Immerhin stellte Waser dann fest, dass ihm, falls er die Vorladung nicht folgen wolle, auch die Möglichkeit hätte, bis zum 20. Dezember schriftlich zu den Vorhaltungen Stellung zu nehmen. Was dieser tat. Am 20. Dezember 2019 um 17.50 Uhr brachte er seine 37-seitige Stellungnahme in Wittenbach SG zur Post und verlangte darin eine Einstellung des Verfahrens, begründet insbesondere durch das unrechtmässige und grob EMRK-widrige Verhaltens von Nicks Behörde.
Aber noch nicht genug der Wildwest-Methoden der Ausserrhoder Rechtsdienstleiterin Nick. Wie dem Urteil des Ausserrhoder Verwaltungsgerichts zu entnehmen ist, hatte die Steuer-Behörde das Schreiben des Treuhänders überhaupt erst am 30. Dezember entgegengenommen. Für die Zeit davor hatte das Amt einen Postrückhalteauftrag erteilt. Just am selben 30. Dezember 2019 hält der beschuldigte Treuhänder aber bereits die Strafverfügung der Ausserrhoder Steuerbehörde in der Hand.
Darin wird er zu zwei Bussen von 20’000 und 10’000 Franken verurteilt. Worauf der Weihnachtsdiscount von CHF 20’000.– im Vergleich zur Androhung in der Eröffnungsverfügung zurückzuführen sein könnte, wird in der Verfügung nicht ausgeführt. Und: In der Begründung heisst es explizit, er habe auf das rechtliche Gehör verzichtet.
Was er nachweislich nicht hat, wie auch das Verwaltungsgericht nun bestätigt. Das Problem war ein anderes, wie sich vor dem Verwaltungsgericht nun zeigte: Die Strafverfügung von Rechtsdienstleiterin Ladina Nick war schon am 20. Dezember 2019 um 1226 Uhr der Post übergeben worden. Mit anderen Worten: Die Rechtsdienstleiterin hatte erneut die gesetzte Frist missachtet und bereits verfügt, bevor die von ihr selbst gesetzte Frist abgelaufen war.
Heilige Weihnachts(ferien)zeit
Einen möglichen Grund dafür indiziert ein Blick in den Kalender: Der 20. Dezember 2019 war ein Freitag – der letzte Freitag vor Weihnachten und für viele wohl der letzte Arbeitstag, bevor sie bis zum neuen Jahr in die Weihnachtsferien entschwanden. Anders ist auf jeden Fall kaum zu erklären, dass auf der Steuerverwaltung am 23. Dezember 2019, einem Montag, niemand das Schreiben Wasers entgegen nehmen konnte respektive wollte. Hätte die Behörde gearbeitet, wären ihr drei Arbeitstage geblieben (23., 24. und 27. Dezember 2019), um das Verfahren korrekt und innerhalb der Frist zu Ende zu bringen.
Das Obergericht hob die Strafverfügung auf und nahm Rechtsdienstleiterin Nick ins Gebet: „Erlässt die Vorinstanz eine Strafverfügung, ohne zuvor überhaupt Kenntnis von der fristgemäss eingereichten schriftlichen Stellungnahme des Beschuldigten zu nehmen, liegt eine schwere Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.“ – Und diese, so die Richter weiter, könne vorliegend auch nicht im Verfahren vor Obergericht geheilt werden, da damit „zu Gunsten der Verwaltung ein Resultat erzielt wird, das bei korrekter Vorgehensweise nicht erzielt worden wäre.“
Konkret: Hätte Nick die verfassungsmässigen Rechte von Waser gewahrt, wäre die Angelegenheit in die Verjährung gelaufen. „Um ein missbräuchliches Verhalten der Verwaltung zu verhindern, drängt sich die Lösung auf, wie sie sich bei formell richtigem Verhalten ergeben hätte.“ Mit dieser Begründung hob das Obergericht die Strafverfügung vom 20. Dezember 2019 mit Entscheid vom 10. Dezember 2020 auf.
Nick macht trotz gerichtlicher Klatsche weiter
Das Steuerjahr 2009 war damit abgehakt, für 2010 hätte Nick und ihre Steuerbehörde theoretisch noch 20 Tage Zeit gehabt, das Verfahren vor der Verjährung am 31. Dezember 2020 zu Ende zu bringen. Sportlich, aber nicht zwingend unmöglich, schliesslich hatte Waser ja schon vor einem Jahr seine Stellungnahme eingereicht. Das Obergericht schrieb denn auch explizit: „Die Vorinstanz wird eingeladen, zu prüfen, ob sie – unter Wahrung der Gehörsrecht von Markus Waser – eine neue Strafverfügung erlassen will.
Nick verpasste aber auch diese Frist und meldete sich erst am 18. Februar 2021 erneut bei Waser. Und der traute seinen Augen kaum: Nick eröffnete ein erneutes Strafverfahren – wiederum für die Steuerperioden 2009 und 2010. Mit der Behauptung, die – unterdessen ja vom Obergericht bereits kassierte – Strafverfügung vom 20. Dezember 2019 hätte die Verjährungsfrist unterbrochen. Für den Anwalt von Waser eine absurde Behauptung, hatte doch das Obergericht sogar noch explizit sowohl auf die bereits eingetretene wie auch die unmittelbar bevorstehende Verjährung auch für die zweite Steuerperiode hingewiesen: „Dass inzwischen die Strafverfolgungsverjährung für Delikte bis und mit Steuerperiode 2009 bereits eingetreten ist und die Strafverfolgungsverjährung für Delikte betreffend die Steuerperiode 2010 demnächst eintreten wird, ist dem Obergericht nicht entgangen.“ Nachdem Waser in der Sache seit dem 18. Februar 2021 ohne jede Nachricht von Nick verblieben war, forderte sein Anwalt mit Schreiben vom 6. Mai 2022, das Verfahren sei endgültig einzustellen. Eine Antwort hat er bis heute nicht erhalten.
Weder Ladina Nick noch ihr Vorgesetzter Jacques Oberli, der Leiter des Ausserrhoder Steueramtes, haben auf eine Bitte um Stellungnahme von inside-justiz.ch geantwortet.
*Der Name des Betroffenen wurde aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.
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