Der Europäische Gerichtshof für Menschemrechte EGMR verurteilt die Schweiz. Schon wieder in einem Fall, in dem ein Kindsvater geltend gemacht hatte, seine Grundrechte seien missachtet worden. Das Strasbourger Verdikt ist aber nicht nur eine schallende Ohrfeige für die Bundesrichter Nicolas von Werdt (SVP), Christian Hermann (SVP) und Felix Schöbi (BDP), deren Urteilsspruch als Verletzung der EMRK gewertet wird. Die Strasbourger Kritik geht deutlich tiefer und ist eigentlich eine deutliche Absage an die häufig schnodrige und arrogante Art und Weise, wie das Bundesgericht Beschwerden abschmettert, die ihm nicht genehm sind. – Allein, Wirkung wird der Entscheid aus Strasbourg wohl kaum haben.
Der Fall Morales vs. Schweiz dreht sich um einen Kindsvater, der seit der Geburt seines Kindes im Jahr 2010 um das Recht kämpft, seinem Sohn auch tatsächlich ein Vater sein zu dürfen. Die Eltern trennten sich schon ein Jahr nach der Geburt, die Kindsmutter hatte das (unter dem alten Kindesrecht) übliche alleinige Sorgerecht. Im Dezember 2014 gewährte die KESB des Kantons Bern dem Kindsvater schliesslich die gemeinsame elterliche Sorge. Gemäss den Sachverhaltsfesthaltungen des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beauftragte die KESB anfangs Oktober 2015 «aufgrund eines anhaltenden Konflikts zwischen den Eltern» ein Gutachten über das Kindswohl und die Erziehungsfähigkeit der Eltern.
Die Gutachter mussten zwar einräumen, dass sie die Erziehungsfähigkeit des Vaters nicht eingehend beurteilen konnten – er habe zu wenig «mitgearbeitet», empfohlen aber gleichwohl, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu übertragen, weil das Kind an einem Loyalitätskonflikt leide, für den sie den Vater verantwortlich machten. Auch die elterliche Sorge wurde dem Vater entzogen. Die bundesgerichtlichen Erwägungen dazu stützen sich allerdings lediglich auf die Vorinstanz, die gemäss dem Urteil offenbar sehr wohl vorgebrachten Argumente des Kindsvaters wertete das Bundesgericht als «rein appellatorisch» und liess sie damit vollständig ausser Betracht. Wie schon vor dem Berner Obergericht wird dem Vater insbesondere vorgeworfen, den Sohn in dem Konflikt mit der Kindsmutter instrumentalisiert und damit einen Loyalitätskonflikt ausgelöst zu haben und die Zusammenarbeit bei der Behandlung von ADHS bei seinem Sohn verweigert zu haben. In wieweit diese Sachverhaltsdarstellung korrekt ist oder auch einfach nur konstruiert wurde, weil der Kindsvater sicht nicht alles bieten lassen wollte, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Keine Anhörung – weder vor Ober- noch vor Bundesgericht
Der Kindsvater zog vor das Berner Kindes- und Erwachsenenschutzgericht (eine Kammer der Zivilabteilung des Berner Obergerichts) und verlangte eine öffentliche Verhandlung und dass er mündlich angehört werde. Dabei berief er sich auf Art. 6 der EMRK, welcher die Grundsätze für ein faires Verfahren regelt. Das Kindes- und Erwachsenenschutzgericht Bern wies die Klage des Kindsvaters am 17. November 2016 ab – das Urteil ist allerdings nicht öffentlich abrufbar. Der Antrag des Vaters auf eine mündliche Anhörung und eine öffentliche Verhandlung wurden abgelehnt.
Der Vater zog ans Bundesgericht weiter und scheiterte am 15. März 2017 in BGE 5A_18/2017 auch dort. Anwaltlich vertreten war der spanische Staatsbürger mit Wohnsitz in Zuchwil nicht, wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festhält. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Kindsvaters mit den Begründungen ab, die es immer bemüht, wenn es sich mit einer Beschwerde nicht auseinandersetzen möchte: «Die Beschwerdeschrift genügt den Begründungsanforderungen auch insfoweit nicht, als der Beschwerdeführer verschiedentlich Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör und anderer verfassungsmässiger Rechte (z.B. Diskriminierungsverbot, Mescnenwürde, Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit, Meinungs- und Informationsfreiheit) geltend macht.» Zum konkreten Antrag, den Beschwerdeführer mündlich anzuhören, schreibt das Bundesgericht: «Der Beschwerdeführer begnügt sich damit, die gewünschte Verhandlung zu beantragen, und zeigt nicht ansatzweise auf, weshalb es notwendig sein soll, eine solche durchzuführen. Ebenso wenig setzt er sich mit den Ausführungen der Vorinstanz dazu auseinander, weshalb vorliegend ausnahmsweise auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK verzichtet werden kann (Art. 42 Abs. 2 BGG). Hierauf ist nicht weiter einzugehen.»
EMGR: So geht es nicht
Die Strasbourger Richter halten demgegenüber fest, der Beschwerdeführer habe ordnungsgemäss beantragt, persönlich angehört zu werden. «Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, die es rechtfertigten, in diesem Fall von einer Anhörung abzusehen» schreibt der EGMR in Erwägung 21 seines Urteils. Und anders als die Lausanner Richter sucht der Menschenrechtsgerichtshof nicht einfach den schnellsten Weg, um sich der Beschwerde zu entledigen, sondern schält die sich stellende Rechtsfrage präzise heraus. Der Gerichtshof stelle fest, heisst es in Erwägung 22 des Urteils, dass der Rechtstreit den Entzug der gemeinsamen elterlichen Sorge betreffe und der Streitgegenstand daher nicht rein rechtlicher oder technischer Natur sei, sondern im Gegenteil von den innerstaatlichen Gerichten verlange, die Persönlichkeit des Beschwerdeführers und seine Fähigkeit, seine elterlichen Rechte auszuüben, zu bewerten.
«Daher war es wichtig, dass der Betroffene seine Argumente in einer Anhörung mündlich darlegen konnte, damit sich die Gerichte ihre eigene Meinung zu diesen Fragen bilden konnten. Der Gerichtshof stellt ausserdem fest, dass die nationalen Gerichte sich hauptsächlich auf ein Gutachten stützten, um dem Beschwerdeführer die elterliche Sorge zu entziehen. In diesem Gutachten wurde jedoch ausdrücklich erwähnt, dass es nicht möglich gewesen sei, die Erziehungsfähigkeit des Beschwerdeführers gründlich zu beurteilen, so dass diese Frage offenbar weiterer Klärung bedurfte», so der EGMR weiter.
Daraus folgert der EGMR direkt, dass es keine Umstände gegeben haben, die es rechtfertigen würden, von einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers abzusehen, womit Art. 6 Abs. 1 der Konvention verletzt sei. Ob eine solche Anhörung im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens hätte erfolgen sollen, wie es der Beschwerdeführer verlangte, beantwortet der EGMR hingegen nicht – da überhaupt keine Anhörung vorlag, sei der Vorwurf im Hinblick auf die Öffentlichkeit des Verfahrens gegenstandslos.
Eine deutliche Ohrfeige für die Arroganz der Bundesrichterinnen und -richter
Dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR ist wohltuend. Und eine deutliche Ohrfeige für die Arroganz und Überheblichkeit der obersten Schweizer Richterinnen und Richter. Der Beschwerdeführer im vorliegenden Falle war ein einfacher Staatsbürger ohne juristische Kenntnisse und (zumindest bis vor Bundesgericht) ohne Anwalt, denn einen solchen konnte er sich wohl schlicht nicht leisten. Zudem spanischer Staatsbürger, der deutschen Sprache zwar mächtig, aber selbstredend nicht des juristischen Stils und der Logik des juristischen Argumentierens mit Obersätzen, Untersätzen und Subsumtionen. Man mag vielleicht sogar finden, er sei ein «Amok» oder zumindestens ein Getriebener, angesichts seiner Aktivitäten gegen die KESB auf verschiedenen Social Media-Kanälen.
Nur sollte das alles keine Rolle spielen, wenn es darum geht, die rechtsstaatlich garantierten Grund- und Verfahrensrechte zu wahren und durch entsprechende Beschwerdeentscheide zu garantieren. Auch wenn der Beschwerdeführer nicht aus der Juristenkaste stammt. Dass einfache Bürgerinnen und Bürger», die nicht anwaltlich vertreten sind, vor Bundesgericht sowieso praktisch keine Chance haben, ist nicht nur unter Juristen ein offenes Geheimnis. Dabei würde es gerade einem obersten Gericht gut anstehen, Beschwerden nicht anhand der sprachlichen Feinheiten der Eingaben zu beurteilen, sondern anhand der sich dahinter stellenden juristischen Fragestellungen.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hebt sich von diesem Lausanner Dünkel positiv ab. In nachvollziehbarer Sprache, ohne übertriebenen Formalismus, schälen die Strasbourger Richterinnen und Richter die relevante Fragestellung heraus und kommen zu einem nachvollziehbaren, bürgernahen Ergebnis.
Leider kann man nicht erwarten, dass das Urteil irgendeine Auswirkung auf das Bundesgericht haben wird. Abgehobenheit ist dort Prinzip, und auch namhafte Rechtsanwälte regen sich «off-the-record» regelmässig darüber auf, wie die hohen Damen und Herren mit grösster Nonchalence auch gestandenen Praktikern ins Stammbuch schreiben, ihre Argumentation erfülle die Begründungsanforderungen nicht oder würde sich zu wenig mit den Argumenten der Vorinstanz auseinandersetzen (und wenn sie das ausführlich tun, heisst es wiederum, die Rechtsschrift sei zu ausschweifend). – Dabei ist für alle offensichtlich, dass hinter solchen Formulierungen oft genug mehr die Denkfaulheit der Richterschaft steckt als tatsächliche Mängel in den Eingaben. Solange die obersten Richterinnen und Richter aber, anders als alle anderen staatlichen Instanzen, so gut wie keiner Rechenschaftspflicht unterstehen, wird sich das wohl leider nicht so schnell ändern. Dabei wäre die Qualitätssicherung am Bundesgericht ein wichtiges und durchaus drängendes Anliegen.
Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder – soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
Meine Hochachtung, meinen Dank und meinen Glückwunsch an Herrn Morales! Auch wenn er persönlich von diesem Urteil nicht so viel haben wird, wie er es sich wünschen würde, trägt das Urteil zur Erhöhung des Bewusstseins der Bevölkerung für die Missstände bei. Steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann ist er hohl.
Mein Dank geht auch an den Berichterstatter.
Es ist nicht möglich die Erziehungsfähigkeit eines Elternteils festzustellen. ES GIBT KEIN WISSENSCHAFTLICHES KONSTRUKT „ERZIEHUNGSFÄHIGKEIT“, UND DEMZUFOLGE KEINE KRITERIEN, ANHAND DERER FESTGESTELLT WERDEN KÖNNTE, WIE ERZIEHUNGSFÄHIG JEMAND IST.
Entsprechende Gutachten sind also Scharlatanerie.
Selbst auf laienhaftem Niveau ist schnell ersichtlich, wie unsinnig das Ansinnen ist, Erziehungsfähigkeit beurteilen zu wollen. Man versuche einfach mal für sich die Frage zu beantworten, anhand welcher Kriterien man selbst dies entscheiden würde. Nicht einmal Krankheit, Drogenabhängigkeit oder Obdachlosigkeit machen Eltern in absolut jedem Fall erziehungsunfähig. Was also dann? Es gibt schlicht keine sicheren Kriterien, anhand derer man das festmachen könnte. Zu individuell sind Menschen und Familien. Ohne Kriterien kann man aber nichts beurteilen. Es geht also nicht.
Nicht anders sieht es mit dem „Kindeswohl“ aus. Es gibt keine Definition, was darunter zu verstehen ist. Also macht sich notgedrungen jeder seine eigene Definition. EIN RICHTERURTEIL, DAS MIT KINDESWOHL ODER ERZIEHUNGS(UN)FÄHIGKEIT BEGRÜNDET WIRD, IST PURE WILLKÜR. Ich würde es begrüssen, wenn diese Sichtweise, die nicht von mir stammt, allgemein bekannter würde. Das würde helfen Unglück und Leid zu reduzieren.