Selbstjustiz und Eigenmächtigkeit des Bundes bei der Rechtsinformatik


Der elektronischen Rechtsverkehr (BEKJ) und die Digitalisierung im Notariat (DNG) werden im Parlament erneut zum Thema. Beide Gesetzesvorlagen werden in den nächsten Wochen in der Rechtskommission des Nationalrats beraten werden. Gastartikel von Daniel Muster.
 

Wer sich wundert, dass das Vorgehen des Bundes bei der Bankenkrise einem fundamentalen Prinzip der Demokratie widerspricht, der hat sich vermutlich noch nicht mit der Rechtsinformatik des Bundes beschäftigt. Im Rahmen der Bankenkrise hat sich der Bund über den Entscheid des Parlaments gestellt. Wie unklar die Rechtslage auch sein mag, im Zweifelsfall hat der Entscheid des Parlaments in einem demokratischen Rechtsstaat Vorrang. So sollte es sein.

Von der Rechtsinformatik des Bundes ist vorweg Folgendes erwähnenswert:

  • Der Bund gibt seit Jahren Millionen für die zukünftige Kommunikationsplattform «Justitia 4.0» zum elektronischen Austausch von Rechtsschriften aus, s. «Mit Zwang zur E-Justiz», Plädoyer 2017. Dabei rund 3.7 Millionen fürs Marketing, «Digitale Justiz: So sollen Kritiker umgestimmt werden», Ktipp 6, 2022. Die entsprechende Gesetzesvorlage wird jedoch erst jetzt in den Rechtskommissionen des Parlaments diskutiert.
  • Der Bund führt online Veranstaltungen für die neue staatliche E-ID durch, fertigt Konzepte an und stellt einen Kommunikationsberater dafür ein. Die Vorlage für das neue E-ID Gesetz wurde den dafür zuständigen Kommissionen des Bundesparlaments jedoch noch nicht unterbreitet.

Peanuts?
Zugegeben, bei den hier möglicherweise in den Sand gesetzten Steuereinnahmen handelt es sich im Vergleich zu dem am Parlament vorbei geschleusten Bankkrisenkredit um Peanuts. Doch das Verletzen demokratischer Rechtsstaatprinzipien im Namen der Notlage und der Dringlichkeit schafft Übung (z.B. Covid-Krise, Bankenkrise) und kann zur Gewohnheit ausarten.

Die Gesetzesvorlage für den Austausch von Rechtsschriften mit den Behörden und Gerichten (BEKJ 2023 Vorschlag ans Parlament) birgt Gefährliches in sich.

Gemäss der Vorlage müssen fast alle Rechtsschriften an ein Gericht oder (Vollzugs)Behörde elektronisch über eine Kommunikationsplattform transferiert und dort gelagert werden, s. die angedachten Anpassungen in den entsprechenden Verfahrensgesetzen am Ende der Vorlage BEKJ. Möglich, dass nicht nur eine Plattform bestehen wird. Doch dann müssten sich Kantone dazu durchringen, eine eigene Plattform aufzustellen, die zuvor vom EJPD bewilligt werden müsste.

Ob das Vorhandensein mehrerer solcher Plattformen und nicht nur einer zentralen Plattform im Interesse des EJPD ist, mag bezweifelt werden.

Verschlüsselung
Es ist nicht ersichtlich, warum die Rechtsschriften wie bis anhin(!) vom Betreiber der Plattform einsehbar sind. Eine Notwendigkeit besteht nicht. Es wäre mit wenig Mehraufwand möglich, dass die Rechtsschriften so verschlüsselt elektronisch gesandt werden, dass nur ihr Adressat sie entschlüsseln kann. D.h. dem Betreiber der Kommunikationsplattform ist die Einsichtnahme in die Rechtsschriften verwehrt.

Der Schutz der informationellen Selbstbestimmung der in den Rechtsschriften erwähnten Personen wird dadurch ramponiert. Im Übrigen schützt das Amtsgeheimnis nicht nur die Interessen des Staates, sondern auch die Privatsphäre des Bürgers, s. TRECHSEL / PIETH, Kommentar N1 zu Art. 320 StGB, und STRATENWERTH / WOHLERS, Kommentar N2 zu Art. 320 StGB. Es erlaubt ein Offenbaren nur soweit dies in der Sache notwendig ist, TRECHSEL / PIETH, N9 Art. 320 StGB.

Das Amts- und Berufsgeheimnis wird bei den zu beachtenden Bundesgesetzen nicht erwähnt (Art. 15 Abs. 1), eingehend aber das DSG. «Datenschutzrechtliche Befugnisse rechtfertigen eine Amts- oder Berufsgeheimnisverletzung nicht. Der Amts- oder Berufsgeheimnisschutz setzt dem Datenschutzrecht Grenzen und nicht umgekehrt, s. WOLFGANG WOHLERS, «Auslagerung einer Datenbearbeitung und Berufsgeheimnis (Art. 321 StGB)», Kapitel 2.5.2.1.

Klumpenrisiko
Wenn Daten zentral wie hier gelagert werden, dann sind sie auch zentral einsehbar und können bei einem erfolgreichen Hackerangriff einfach und bequem abgezogen werden. Mit der Zentralisierung der ausgetauschten Rechtsschriften wird ein Klumpenrisiko für die Verfügbarkeit, Verlässlichkeit und Vertraulichkeit der Rechtsschriften geschaffen.

Aus der Vorlage ist nicht zu entnehmen, wie sicher die Plattform zu sein hat; lediglich unzureichend, was zu schützen ist (Art. 27). Hier ein Beispiel für eine mögliche Regulierung: «Die Plattform ist gemäss der Sicherheitsstufe «Hoch» nach der DURCHFÜHRUNGSVERORDNUNG (EU) 2015/1502 DER KOMMISSION vom 8. September 2015 zu betreiben.» Die verantwortliche Organisation für die Plattform definiert jedoch ihre Sicherheit selbst (Art. 28).

Der ordentliche Austausch von Rechtsschriften ist Bestandteil eines ordentlichen Rechtsverfahrens und ist somit in einem Rechtsstaat systemrelevant.

Für den Betrieb der Plattform soll eine öffentlich-rechtliche Organisation mit eigener Persönlichkeit geschaffen werden. Die Organisation soll mit ihrem Vermögen haften (Art. 31). Doch darf es nicht Ziel der Organisation sein, Vermögen anzuhäufen; nur soweit dies für den Betrieb der Plattform erforderlich ist (Art. 16 Abs. 1).

Die Organisation kann weitere Dienstleistungen wie Software für die Aktenführung anbieten. Unklar ist, ob es für die Gerichte und die Behörden Pflicht ist, diese Software zu verwenden, oder der Bund nur die Privatwirtschaft im Bereich des Dokumentenmanagements konkurrenziert.

Gerichte sind zu wenig eingebunden
In der Organisation sind die Gerichte untervertreten. Die Organisation wird von der Exekutive dominiert. Der Einbezug der Kantone und des Gemeindewesens soll über eine Vereinbarung erfolgen. Darin werden Rechte und Pflichten beim Vollzug von Bundesrecht definiert werden. Diese Rechte und Pflichten sind jedoch zwingend in einem Gesetz festzuhalten (Art. 164 BV).

Der Einfluss und die Gestaltungsmöglichkeiten der Gerichte sind sehr eingeschränkt. Die Digitalisierung wird zusehends wichtiger. In diesem Bereich wird die Abhängigkeit der Gerichte gegenüber Dritten grösser. Die Gerichte verlieren an Eigenständigkeit und somit an Souveränität. Somit wird Gewaltentrennung in Mitleidenschaft gezogen.

De facto wird das Risiko für die fristgerechte Eingabe der Rechtsschrift beim Anwalt und folglich letztlich bei seinem Mandant liegen. Wie erwähnt, müssen die Rechtsschriften über die Plattform eingegeben werden. Falls die Plattform nicht erreichbar ist, dann muss der Anwalt dies glaubhaft darlegen (Art. 26 Abs. 3). In Normalfall ist dies selbst für einen Fachmann nicht möglich.

Anwälte werden nicht mehr eine Rechtsschrift elektronisch unterzeichnen müssen/dürfen oder können (Art. 22). Dies übernimmt die Plattform indirekt in ihrem Namen. Es wird also neu möglich sein, dass die Plattform z.B. infolge eines Hackerangriffs ohne Wissen des Anwalts in dessen Namen eine Rechtsschrift einreichen kann. Von aussen nicht erkennbar, wer sie eingereicht hat. Dies mit entsprechenden Risiken für den Anwalt und seinen Mandanten. Die Information zur Verifikation dessen, was auf der Plattform geschieht, liegt beim Betreiber der Plattform.

Behörden können ihre Rechtsschriften anonym eingeben (Art. 21). D.h. es mag unbekannt sein, welches Behördenmitglied sie eingereicht hat. Dies ist der Nachvollziehbarkeit abträglich und erschwert die Fehlersuche.

Signaturen
Es werden elektronische Signaturen verwendet. Doch wie deren Gültigkeit bewahrt wird und deren Prüfung von statten gehen soll, wurde durch den Bund seit der Einführung des ersten Gesetzes vom Dezember 2003 zur elektronischen Signatur bisher nicht geregelt. Eine (transparente) Regelung ist auch jetzt nicht angedacht. Dass die Bewahrung der Gültigkeit notwendig und kein Kindespiel ist, lässt sich aus den entsprechenden ETSI– und eCH-Standards entnehmen.

Anhand der Eingabe einer Offerte durch Stadler Rail bei der ÖBB zeigt sich, wie wichtig die Kompatibilität mit Vorschriften der EU sein kann, s. «Warum eine Unterschriftenpanne Stadler Milliarden kosten könnte», SRF Sept. 2021. Doch Kompatibilität mit den Bestimmungen der EU zur Signatur und zur E-ID ist bisher beim Bund nicht angedacht. Man stelle sich vor, das von der Schweiz elektronisch ausgestellte COVID-Zertifikat wäre von der EU nicht anerkannt worden.

Digitalisierung des Notariatswesens
Der Bund will auch das Notariat digitalisieren. Eine entsprechende Gesetzesvorlage (DNG, 2021) wird im Parlament beraten werden. Dabei sollen öffentliche Urkunden und Beglaubigungen elektronisch hergestellt, d.h. u.a. elektronisch signiert werden. Dass hierbei grösstmögliche Sorgfalt geboten ist, ist aus der Gesetzesvorlage nicht zu entnehmen. Im Übrigen hat sich der Kanton Zürich in seiner Stellungnahme (RRB 397/2019) im Rahmen der Vernehmlassung ausgiebig, im Ergebnis wenig schmeichelhaft geäussert.

Gemäss Art. 8 DNG wäre es zulässig, dass auch hier der Server eines Dritten die elektronische Signatur im Namen des Notars anfertigt (Art. 8 Abs. 1 DNG). Dies ist mit erheblichen Mehrrisiken verbunden als eine Signatur über einen USB-Stick oder eine Chipkarte des Notars an seinem PC.

Öffentliche Register und öffentliche Urkunden erbringen vollen Beweis, solange nicht deren Unrichtigkeit bewiesen wird (Art. 9 Abs. 1 ZGB). Selbst wenn ein Gegenbeweis erbracht werden kann, so ist zu befürchten: Das Gericht würde den Beweis im Sinne der Staatsordnung nicht anerkennen, weil nicht ist, was nicht sein darf. Zu «was nicht ist, was nicht sein darf» s. der Fall der ehemaligen Bundesrätin Elisabeth Kopp, «Die politisch-juristische Tragik der Elisabeth Kopp».

Die öffentliche Beurkundung ist in der Schweiz systemrelevant wie eine Grossbank. Angenommen, die Richtigkeit vieler öffentlicher Urkunden des Immobilienmarkts würde in Frage gestellt. In Zeiten des Internets und von KI, in welchen ungewiss ist, was wahr ist, bekommen Vertrauensanker wie Register und öffentliche Urkunden einen immer grösseren Wert.

Es sollen alle elektronisch angefertigten öffentlichen Urkunden zentral beim Bund gelagert werden und folglich dort einsehbar sein (Art. 10 DNG). Menschen, unfähig, eigenhändig eine Unterschrift zu leisten und ein Testament handschriftlich zu verfassen, müssen ihre Patientenverfügung und ihr Testament notariell beurkunden. Es widerspricht der Menschenwürde, dass ihr letzter Wille vom Bund einsehbar ist. Zudem werden sie diskriminiert, weil sie den letzten Willen im Unterschied zu anderen nicht so abfassen können, ohne dass er für das Erlangen seiner Rechtskraft vom Bund eingesehen werden kann.

Anstatt Anreize zu schaffen, setzt der Bund auch hier auf Zwang. Der Kanton kann entscheiden, ob Notare im betreffenden Kanton öffentliche Urkunden elektronisch herstellen müssen. Der Kunde des Notars hat dabei nicht zu sagen. Service Public und Bürgerfreundlichkeit manifestieren sich anders.

Geht es bei der Digitalisierung nach dem Willen des Bundes, so ist mit Instabilitäten unserer Gesellschafts- und Rechtsordnung zu rechnen. Sich eigenmächtig über elementare Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates hinwegzusetzen und Gesetzesvorlagen dem Parlament zu unterbreiten, welche der BV und den Menschenrechten widersprechen, ist auch eine Form der Selbstjustiz.

Unser Gastautor Daniel Muster ist diplomierter Physiker und Autor des Buches zur angewandten Kryptographie „Digitale Unterschriften und PKI“. Er erwarb sein Nachdiplomstudium an der ETH Zürich in Informationstechnik.

 

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