Seltsames Bundesgericht: Verzugszinsen, wenn man noch gar nicht existiert?

Im Urteil 2C_933/2021 verpflichtet das Bundesgericht eine Gesellschaft zur Zahlung von Verzugszinsen auf Steuerforderungen, die vor der Gründung der Gesellschaft entstanden sind. Ein Entscheid, der zu denken gibt.

Das Bundesgericht hat im September 2022 in einem Mehrwertsteuerfall, der bis ins Jahr 2007 (!) zurückreicht, ein Unternehmen verpflichtet, neben der Steuerforderung auch noch erhebliche Verzugszinsen zu bezahlen. Die Besetzung des Bundesgericht: Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, (oben mitte). Bundesrichter Yves Donzallaz, Grüne (oben rechts), Bundesrichterin Julia Hänni, Die Mitte (oben links), Bundesrichter Stephan Hartmann, Grüne (unten links), nebenamtlicher Bundesrichter Markus Berger SP (ohne Foto, keine Aufnahmen zu finden) und  Gerichtsschreiber Moritz Seiler (unten rechts).

Der Fall des Unternehmens wurde bereits einmal vor Bundesgericht verhandelt. Am 21. Februar 2020 hat das Bundesgericht mit Urteil 2C_923/2018 eine Beschwerde der ESTV gutgeheissen und die Steuernachfolge nach Art. 16 Abs. 2 MWSTG für anwendbar erklärt, wenn ein Unternehmen ein Teilvermögen eines anderen Unternehmens übernimmt. Das Bundesverwaltungsgericht sah dies mit Urteil vom 6. September 2018 unter dem Vorsitz des heutigen Bundesrichters Michael Beusch noch anders.

Scharfe Kritik

Dieser Entscheid hat seinerzeit in der Steuerberatungsbranche hohe Wellen geschlagen und wurde in der Fachpresse scharf kritisiert, weil damit praktisch jede Übertragung von Unternehmensteilen mit dem latenten Risiko einer MWST-Mithaftung des Erwerbers für allfällige vorbestehende Steuerschulden des Verkäufers belastet wird. Es ist absehbar, dass dieser Entscheid grossen Einfluss auf künftige Teilbetriebsübertragungen haben wird. Der aktuelle Entscheid 2C_93/2021 ist aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt interessant.

In der Sache selbst hat das Bundesgericht die Beschwerde ohnehin abgewiesen. Es zeigt sich einmal mehr, dass Steuerpflichtige mit materiellen Beschwerdegründen vor Bundesgericht einen sehr schweren Stand haben. Dies hängt damit zusammen, weil das Bundesgericht keine normale Berufungsinstanz ist und appellatorische Rügen nicht gehört, bzw. behandelt werden. Das Bundesgericht beschränkt sich auf die Normenkontrolle, also ob das Recht von den unteren Instanzen korrekt angewendet wurde. Es muss schon ausgeprägte Willkür vorliegen, damit das Bundesgericht überhaupt an ein Einschreiten denkt.

In E. 8ff behandelt das Bundesgericht die Rüge der Beschwerdeführerin betreffend Verzugszinsen. Die offenbar Anfang 2016 im Handelsregister eingetragene Gesellschaft schuldet Verzugszinsen für die Steuerperioden 2007 bis 2012. Für die Steuerperioden bis und mit 2009 galt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren, seit 2010 eine solche von 10 Jahren.

Im Zeitpunkt des Bundesgerichtsentscheids waren somit die Steuerperioden 2007, 2010 und 2011 bereits verjährt, nicht aber die Steuerperioden 2008, 2009 und 2012. Kurios wird das Urteil, wenn man bedenkt, dass die Beschwerdeführerin erst Anfang 2016 im Handelsregister eingetragen wurde und somit Verzugszinsen für einen Zeitraum bezahlen muss, in dem sie noch gar nicht existierte…

nondum conceptus

Aus dem Stiftungsrecht ist der Begriff des «nondum conceptus», also des noch nicht gezeugten Kindes, bekannt. Dem Gesellschafts- und Steuerrecht ist ein solcher Begriff aber fremd.

Kein Problem für das Bundesgericht; die obersten Richter verweisen einfach auf BGE 2C_923/2018, wo die Rechtsnachfolge und damit der Übergang von Rechten und Pflichten geregelt wurde. Dem Leser drängt sich diesbezüglich die Frage auf, wie die Beschwerdeführerin vor ihrer Gründung den Verzugszins durch «rechtzeitige» Bezahlung der Steuerschuld hätte abwenden können?

Zur Höhe der Forderung schweigt sich das Bundesgericht aus, aber allein unter Berücksichtigung eines vereinfachend angenommenen Zinssatzes von 4,5% ergibt sich über einen Zeitraum von 15 Jahren (2008 bis 2022) ein Multiplikator von 1.935! Bei einer fraglichen Steuerschuld von CHF 50’000 muss die unterlegene Beschwerdeführerin also stolze CHF 96’764 bezahlen. …. Der Verzugszins erweist sich damit einmal mehr als eigentliche Gelddruckmaschine des Fiskus. Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartements, dürfte sich darüber freuen.

Offenbar hat die Beschwerdeführerin auch eine EMRK-Rüge zum Verzugszins vorgebracht. Solche Rügen mag das Bundesgericht aber gar nicht. Anders ist es nicht zu erklären, dass in E. 8.9 in wenigen Zeilen einfach festgestellt wird, die Rüge weise nicht die «erforderliche Dichte» auf. Damit erspart sich das Bundesgericht wieder einmal eine rechtliche Würdigung.

Es ist nicht bekannt, was die Beschwerdeführerin zum Thema EMRK vorgetragen hat. In Fachkreisen wird jedoch seit langem diskutiert, dass die Erhebung von Verzugszinsen in einem Nullzinsumfeld als Verdachtsstrafe empfunden wird. Eine solche Verdachtsstrafe ist aber EMRK-widrig, weil der Verzugszins einen Ausgleich zwischen Zinsvorteil und Zinsnachteil darstellt.

Kosten

Für seinen Entscheid stellt das Bundesgericht eine Gerichtsgebühr von CHF 3’600.00 in Rechnung. Hinzu kommen voraussichtlich die CHF 2’000.00 aus dem Urteil 2C_923/2018. Das Bundesverwaltungsgericht hat insgesamt CHF 10’650.00 in Rechnung gestellt.

Über die Kosten der Parteien kann nur spekuliert werden. Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin pro Instanz (insgesamt zweimal vor Bundesgericht und zweimal vor Bundesverwaltungsgericht) Parteikosten von rund CHF 24’000.00 entstanden sind. Insgesamt hat das Verfahren der Beschwerdeführerin somit Kosten von rund CHF 40’000.00 verursacht. Die Beschwerde erweist sich damit einmal mehr als Luxus, den sich heute nur noch wenige leisten können. Fair tial?

Transparenz bei der Berichterstattung

Das Bundesgericht nennt die urteilenden Richterinnen und Richter sowie die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber stets nur mit Nachnamen. Inside Justiz ist der Ansicht, dass die Richter mit vollem Namen und Fotos genannt werden sollten. Steuerrechtsfälle haben vor Bundesgericht traditionell einen schweren Stand, wenn es sich bei den Beschwerdeführern um Steuerpflichtige handelt. Nur ein sehr kleiner Teil dieser Beschwerden wird vom Bundesgericht gutgeheissen. Zudem scheitern viele Beschwerdeführer bereits an den strengen Formvorschriften des Bundesgerichts. Solche Fälle werden von der Gerichtspräsidentin zusammen mit einem Gerichtsschreiber durch «Nichteintreten» erledigt.

Anders sieht es hingegen aus, wenn kantonale Steuerverwaltungen oder die Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV als Beschwerdeführerin auftreten. In diesem Fall urteilt das Bundesgericht deutlich wohlwollender. Die Erfolgsquote von Beschwerden mit einer Steuerverwaltung oder der ESTV als Beschwerdeführerin ist signifikant höher. Wir werden diese Steuerrechtsfälle analysieren, statistisch auswerten und darüber berichten.

Bundesrichterwahlen oft mit Nebengeräuschen

Das Bundesgericht und die grüne Bundesrichterin Florence Aubry Girardin haben Mitte 2022 ein wegweisendes Urteil gefällt. Das Bundesgericht hat die Härtefallklausel beim Eigenmietwert im Kanton Tessin aufgehoben. Bei tiefen Einkommen dürfen keine Ermässigungen gewährt werden. Das Urteil dürfte wegweisend für andere Kantone sein.

Auch die Wahl von Julia Hänni (Die Mitte) ging nicht ohne Nebengeräusche über die Bühne. Die SVP wollte mit ihrem Kandidaten die von der Gerichtskommission vorgeschlagene CVP-Kandidatin Julia Hänni aus dem Rennen werfen. Sie lehnte Hännis Kandidatur aus Proporzgründen ab. Bereits Anfang Juni hatte die Partei angekündigt, an ihrem Kandidaten Thomas Müller (BE) festzuhalten. Müller zog sich in der Folge zurück und es kam zu keiner Kampfwahl.

Zu einer Schlammschlacht kam es vor einigen Jahren bei der Wahl des Sittener Anwalts Yves Donzallaz (parteilos, früher SVP und CVP) zum Bundesrichter. Der wütende Oberwalliser CSP-Nationalrat Odilo Schmid sagte damals im Bundeshaus: „Wir haben Ihre Kandidatur diskutiert und werden niemals für einen Mann stimmen, dessen Grossvater 1932 den Befehl gegeben hat, Schweizer Bürger zu erschießen. Die Walliser CVP empfand seine Kandidatur als Provokation. Yves Donzallaz, einst Mitglied der CVP und 2008 von der SVP als Bundesrichterkandidat aufgestellt, schien in den letzten Jahren seine Partei manchmal geradezu provozieren zu wollen. Der Walliser zählt zu den überzeugtesten Internationalisten am höchsten Gericht und ist mitverantwortlich für mehrere politisch und gerichtsintern höchst umstrittene Entscheide zum Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht. Auch dass der Walliser 2019 zusammen mit zwei links-grünen Richtern für die Herausgabe von UBS-Kundendaten an Frankreich stimmte, brachte ihm viel bürgerlichen Unmut ein.

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