Ständeratskommission will EGMR-Urteil nicht umsetzen

Es gab wohl kaum je ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das so kontrovers beurteilt wurde, wie das sogenannte «Klimaschutz»-Urteil vom 9. April 2024. Die Rechtskommission des Ständerates fordert den Ständerat mit 10:3 Stimmen auf, eine Erklärung abzugeben, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe das Recht auf unzulässige Weise überdehnt.

Eine Medienmitteilung zum Entscheid der Kommission war auch am Mittwochmorgen auf der Internetseite des Parlaments (www.parlament.ch) noch nicht aufgeschaltet. So muss auf die Aussagen von Kommissionspräsident Daniel Jositsch (SP) zurückgegriffen werden, die dieser am Dienstag vor den Medien äusserte und die sehr unterschiedlich zitiert werden. Gemäss NZZ schlägt die Kommission gar vor, den Bundesrat aufzufordern, das Urteil zu ignorieren. «Man nehme den Gerichtshof ernst, nicht aber deren «gerichtlichen Aktivismus», hält die Kommission gemäss der NZZ fest.

Die Zeitung verweist darauf, dass das insbesondere Justizminister Beat Jans in die Bredouille bringen könnte. Der amtsjüngste Bundesrat hatte den Entscheid aus Strasbourg damals begrüsst.

Die Kommission geht damit nicht so weit wie verschiedene politische Kreise rund um die SVP, die als Reaktion auf das Urteil den Austritt der Schweiz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention gefordert hatten. Gleichwohl soll der Bundesrat nun gegenüber dem Ministerkomitee des Europarates deutliche Worte wählen und dem Gremium erklären, die Schweiz tue schon genug in der Klimapolitik. Es gebe deshalb keinen Anlass, dem Urteil des Gerichts weiter Folge zu geben, wird Jositsch zitiert.

In dem Streit geht es um die Frage, in wieweit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befugt sein soll, nicht nur Recht zu sprechen, sondern die Konvention progressiv weiterzuentwickeln. Im konkreten Urteil kam der EGMR zum Schluss, die Schweiz verletzte das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 6 der Konvention, indem es nicht genug für den Klimaschutz tue. Nur: Von Klimaschutz steht in dem gesagten Artikel kein Wort und eine grosse Zahl von Juristen ist der Meinung, eine so weitschweifige Auslegung der Konvention sei unakzeptabel.

Gleichwohl vertreten nicht alle Mitglieder der Rechtskommission diese Haltung. SP-Ständerat Carlo Sommaruga ist eines der drei Kommissionsmitglieder, die gegen die Erklärung gestimmt hatten. Er lässt sich heute in den CH-Media-Zeitungen mit dem Satz zitieren: «Es ist unglaublich, dass die Weiterentwicklung der Rechtssprechung durch ein Gericht kritisiert wird. Das Bundesgericht in der Schweiz arbeitet ebenfalls so.»

 

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Wie soll die Schweiz mit dem Klimaschutz-Urteil aus Strasbourg umgehen? Es ist die Quadratur des Kreises. Die Rechtskommission des Ständerats versucht es mit einem Mittelweg. Der Bundesrat soll dem Europäischen Ministerrat sein Missfallen über die politische (und nicht mehr juristische) Vorgehensweise des EGMR mitteilen und erklären, dass das Urteil deshalb nicht umgesetzt werde. Das mag auf den ersten Blick ein verlockender Weg sein und Linderung verschaffen ob dem grossen Ärger über Strasbourg, das sich zu einem Nest von Aktivisten-Richtern entwickelt hat.

Ob aber den Mitgliedern der Kommission bewusst ist, welch rechtsstaatlich höchst problematischen Weg sie da gehen? Rechtsstaat bedeutet, dass Richtersprüche akzeptiert und Urteile umgesetzt werden. Wo kämen wir hin, wenn Exekutive und Legislative damit beginnen, Urteile nur noch dann umzusetzen, wenn sie ihnen grad passen? Ganz klar: Das ist das Ende des Rechtsstaates. Und schon alleine das Signal, dass Urteile nur situativ gelten, ist ein verheerendes. Innerhalb des Landes, aber auch nach aussen: Warum sollte ein Land wie die Türkei Urteile des EGMR noch ernstnehmen, wenn doch auch ein Staat wie die Schweiz, der immer als Musterknabe für Demokratie und Rechtsstaat galt, sie ignoriert?

Also lieber gleich die Europäische Menschenrechtskonvention aufkündigen? Ein solcher Schritt wäre einerseits mutig und würde vielleicht ein so starkes Zeichen setzen, dass auch andere Länder erwachen und am EGMR die notwendigen Reformen einleiten. Dabei ist aber zu bedenken, dass nicht nur Negatives aus Strasbourg kommt. Viele Rügen der Menschenrechtsrichter an die Adresse der Schweiz haben durchaus den Finger auf den wunden Punkt gelegt: Etwa, wenn es um missachtete Rechte von Vätern geht – oder beim Trauerspiel der Schweizer Justiz in Bezug auf die Asbest-Opfer. Auf den Rechtsschutz der EMRK einfach so zu verzichten, wäre für die Rechtsposition der Menschen in der Schweiz ein deutlicher Rückschritt.

Am Ende mag keine dieser Optionen überzeugen. Was Not täte, wäre eine breite internationale Diskussion im Rahmen des Europarates. Die Grundsatzfrage, ob die Menschenrechte primär auf dem ursprünglich rechtlichen Gehalt der Deklaration – und allenfalls der Zusatzprotokolle – angewandt werden sollen oder ob vom Gerichtshof eine dynamische Rechtsentwicklung gewünscht ist, wie sie seit längerem stattfindet, sollte zwischen den Ländern diskutiert, entschieden und in der Konvention auch entsprechend niedergelegt werden. Vielleicht liesse sich das ja mit einer Totalrevision der Konvention erzielen, bei der auch gleich die verschiedenen Zusatzprotokolle inkludiert werden könnten. Mit dem Ziel einer modernen und leicht lesbaren Konvention. Die aktivistischen Richter könnten damit gleich auch noch zurückgebunden werden, weil es dann nicht mehr argumentieren könnten, die Konvention sei so alt, dass man ihre Rechtssätze im Lichte der heutigen Gesellschaft neu interpretieren müsse. Mit einer totalrevidierten und aktualisierten Konvention wären die Spruchkörper deutlich mehr an eine grammatikalische Auslegung gebunden.

Eine Utopie? Vielleicht. Aber wer, wenn nicht die Schweiz, könnte ein glaubwürdiger Initiator eines solchen Prozesses sein? Wir meinen: Den Versuch zu wagen ist immer noch besser als den Status Quo einfach auszusitzen.

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