Das Bundesgericht der Schweiz hat im Urteil 6B_393/2023 eine bedeutende Entscheidung im Kontext des assistierten Suizids getroffen. Mit einer Mehrheit von vier zu einer Stimme wies es die Beschwerde der Genfer Staatsanwaltschaft ab, die eine Verurteilung von Pierre Beck, einem Arzt, der einer gesunden 86-jährigen Frau assistierten Suizid ermöglichte, anstrebte. Beck hatte der Frau, die ihren schwerkranken Ehemann nicht überleben wollte, Pentobarbital verschrieben, ein Medikament, das in hoher Dosierung tödlich wirkt.
Entscheid 6B_393/2023 vom 13. März 2024
Die I. strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts unter Präsidentin Laura Jacquemoud-Rossari (Mitte), hat die Beschwerde der Genfer Staatsanwaltschaft mit vier zu einer Stimme abgewiesen. Die weiteren Richter beim Entscheid waren Christian Denys (Grüne) , Giuseppe Muschietti (FDP), Bernard Abrecht (SP) und Beatrice van de Graaf (SVP)
Diese hatte den Entscheid des Genfer Kantonsgerichts vom Februar 2023 an das höchste Schweizer Gericht weitergezogen. Die Genfer Justiz befasste sich zum zweiten Mal mit dem Fall, nachdem das Bundesgericht im Dezember 2021 die Verurteilung von Pierre Beck wegen Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz aufgehoben hatte.
Im Jahr 2017 verschrieb ein Arzt einer 86-jährigen Frau, die bei guter Gesundheit war, aber gemeinsam mit ihrem schwerkranken Ehemann sterben wollte, Pentobarbital. Pentobarbital wird in der Anästhesie und als Schlafmittel verwendet und führt bei Verabreichung in ausreichender Menge zum Tod. Bevor die Frau den Arzt aufsuchte, hatte sie bei einem Notar eine Patientenverfügung hinterlegt. Darin hielt sie fest, dass sie die Aussicht, länger als ihr Mann zu leben, psychisch nicht ertragen könne. Sie wolle daher aus dem Leben scheiden.
Vor Bundesgericht ging es nur noch um die Frage, ob Beck nach dem Betäubungsmittelgesetz zu verurteilen sei. Die Mehrheit der Richterinnen und Richter verneinte dies. Sie hielten unter anderem fest, dass Pentobarbital zwar unter das Betäubungsmittelgesetz falle, nicht aber die Frage der Abgabe im vorliegenden Fall.
Zweck des Betäubungsmittelgesetzes sei der Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Bevölkerung im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln und psychotropen Stoffen. Das Gesetz wolle auch die Abgabe von Betäubungsmitteln zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken regeln.
Moralisch-ethische Fragen
Die ärztliche Abgabe von Pentobarbital an eine gesunde Person sei nicht medizinisch indiziert und habe keinen therapeutischen Nutzen. Vielmehr stellten sich hier ausschliesslich ethisch-moralische Fragen.Die Frage nach der Rechtmässigkeit der Abgabe des Mittels an eine gesunde Person lässt sich deshalb nach Auffassung des Bundesgerichts nicht aufgrund des medizinischen oder pharmakologischen Wissens beantworten. Die Abteilungspräsidentin wies zudem darauf hin, dass bei der Schaffung des Betäubungsmittelgesetzes nie die Absicht bestanden habe, damit auch den assistierten Suizid zu regeln.
Die Akademie der Wissenschaften Schweiz beziehe sich in ihren an die Ärzteschaft gerichteten Richtlinien zur Sterbehilfe nur auf kranke Menschen, hielten die Richter fest. Diese Richtlinien stellten jedoch keine Rechtsgrundlage dar. Sie hätten vielmehr ethischen Charakter. Unstrittig war von Anfang an, dass der Arzt nicht nach dem Strafgesetzbuch belangt werden kann. Artikel 115 sehe eine Bestrafung nur dann vor, wenn jemand einen anderen aus selbstsüchtigen Beweggründen zum Suizid verleite. Dies ist hier in keiner Weise der Fall.
Ausführungen von RA Boris Etter
Die Ausführungen des Bundesgerichts im Urteil 6B_393/2023 vom 13. März 2024 (Stand: öffentliche Beratung vom 13. März 2024) hat Venture Law von RA Boris Etter auf der Homepage «Strafrechtonline» nachfolgend zusammengefasst:
Das Bundesgericht weist die Beschwerde in seiner öffentlichen Beratung vom 13. März 2024 ab. Das BetmG enthält keine Grundlage zur Bestrafung des Arztes. Strafen dürfen nur ausgesprochen werden, wenn eine Handlung gesetzlich ausdrücklich verboten ist. Das BetmG zielt darauf ab, die Abgabe von Betäubungsmitteln zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken zu regeln und die Betäubungsmittelabhängigkeit zu bekämpfen. Die ärztliche Abgabe von Natriumpentobarbital an eine gesunde Person ist nicht medizinisch indiziert und dient keinem therapeutischen Zweck. Vielmehr stellen sich dabei ausschliesslich ethische und moralische Fragen. Die Frage der Rechtmässigkeit einer Abgabe von Natriumpentobarbital an eine gesunde Person lässt sich somit nicht auf Basis des medizinischen oder pharmakologischen Wissensstandes beantworten, noch der Wissenschaft überhaupt. Es liegt somit kein nach dem BetmG strafbares Verhalten vor.
Es ist nicht Sache des Strafrichters, die geltenden Gesetzesbestimmung besonders weit auslegen, noch dazu bei einem so umstrittenen und sensiblen Thema wie der Beihilfe zum Suizid. Gegebenenfalls wäre es am Gesetzgeber, die gesetzlichen Grundlagen für die ärztliche Abgabe von Natriumpentobarbital an eine gesunde Person den ethischen und moralischen Konzeptionen anzupassen, die in der Gesellschaft mehrheitlich geteilt werden.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass ein Arzt trotz fehlender Strafbestimmungen im geltendem Recht Natriumpentobarbital nicht ohne weiteres an gesunde Personen abgeben darf. Er läuft Gefahr, seine berufliche Verantwortung als Arzt übernehmen zu müssen, sei dies in zivil- oder verwaltungsrechtlicher Hinsicht.