Bedenkliche Praxisänderung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht hat dieser Tage in Fünferbesetzung einen bemerkenswerten Entscheid gefällt und dem Kanton Appenzell Ausserrhoden eine Parteientschädigung zugesprochen. Diese Praxisänderung wird noch zu reden geben. (BGE 9C_591/2023)

Im April 2024 fällte das Bundesgericht in Fünferbesetzung ein Urteil, das erneut aufhorchen lässt. In der Sache geht es um einen Domizilstreit (Frage des tatsächlichen Sitzes, Ort der Verwaltung als Anknüpfungspunkt für das Besteuerungsrecht). Strittig war, ob dem Kanton Appenzell Ausserrhoden (Sitzkanton der steuerpflichtigen Gesellschaft) oder dem Kanton St. Gallen (Ort der tatsächlichen Verwaltung) das Besteuerungsrecht zusteht.

Das Verfahren verlief für einmal erstaunlich schnell. In weniger als drei Jahren seit Erlass der ersten Verfügung lag das letztinstanzliche Urteil des Bundesgerichts vor.

  • Entscheid Kant. Steuerverwaltung: 21. Oktober 2021
  • Einsprache-Entscheid Kant. Steueramt: 15. März 2022
  • Entscheid Rekurskommission St. Gallen: 12. Januar 2023
  • Entscheid Verwaltungsgericht St. Gallen: 14. August 2023
  • Entscheid Bundesgericht: 2. April 2024

Die Beschwerde der steuerpflichtigen Gesellschaften gegen den Kanton St. Gallen wurde abgewiesen, während die Beschwerde gegen den Kanton Appenzell Ausserrhoden gutgeheissen wurde. Das Urteil bestätigt den Entscheid des Verwaltungsgerichts St. Gallen, wonach sich die tatsächliche Verwaltung der Gesellschaft im Kanton St. Gallen und nicht im Kanton Appenzell Ausserrhoden befand.

Parteientschädigung an die Steuerverwaltung

Gemäss Art. 68 Abs. 3 BGG hat der obsiegende Kanton in der Regel keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung. Das Bundesgericht hat jedoch dem unterlegenen Kanton Appenzell eine Parteientschädigung von CHF 3’200.00 zugesprochen.

Nach meinem Verständnis stellt dies eine Praxisänderung dar, wonach auch ein notabene unterlegener (sic!) Kanton eine Parteientschädigung erhält, welche die steuerpflichtige Gesellschaft zu bezahlen hat.

Einschub der Redaktion!

Es darf bezweifelt werden, dass im Gegenzug auch ein Steuerpflichtiger, dessen Beschwerde abgewiesen wurde, eine Parteientschädigung erhält. Eine solche gibt es jedenfalls vor Schweizer Gerichten nicht.

Hingegen wird der zumindest teilweise obsiegenden steuerpflichtigen Gesellschaft keine Parteientschädigung zugesprochen. Das Bundesgericht begründet dies wie folgt «Der obsiegende Kanton St. Gallen hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). Dasselbe würde an sich auch oder erst recht für den unterlegenen Kanton Appenzell Ausserrhoden gelten. Das Verhalten der Beschwerdeführerin rechtfertigt es jedoch, sie zu verpflichten, den Kanton Appenzell Ausserrhoden im Rahmen einer Parteientschädigung für die von ihr verursachten unnötigen Verfahrenskosten zu entschädigen (Art. 68 Abs. 5 BGG; vgl. BGE 149 II 354 E. 2.5.1 und 5.2). Der Kanton Appenzell Ausserrhoden beziffert den Aufwand für die Veranlagung einer juristischen Person wie der Beschwerdeführerin auf Fr. 400. Dieser Betrag erscheint im vorliegenden Fall angemessen. Eine Parteientschädigung ist der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer unrichtigen Angaben trotz Obsiegens nicht zuzusprechen».

Aus dem Sachverhalt geht hervor, dass die steuerpflichtige Gesellschaft bestritt, dass sich die tatsächliche Verwaltung im Kanton St. Gallen befunden habe. Weiter ist ersichtlich, dass die Gesellschaft in beiden Kantonen Räumlichkeiten benutzte, wobei die Räumlichkeiten in St. Gallen mit ca. 100m2 grosszügiger bemessen waren als jene im Kanton Appenzell Ausserrhoden (insgesamt ca. 26m2). Offenbar war die steuerpflichtige Gesellschaft in beiden Kantonen tätig. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Gericht materiell zum Schluss gekommen ist, dass die tatsächliche Verwaltung letztlich im Kanton St. Gallen stattgefunden hat.

Gerichts- und Parteikosten

Stossend ist aber, dass es sich beim Sitz im Kanton Appenzell nicht um ein Scheindomizil handelt, sondern dass sich dort tatsächlich gewisse Aktivitäten der Gesellschaft entfaltet haben. Selbst wenn man nun aus steuerrechtlicher Sicht zum Schluss kommt, dass die tatsächliche Verwaltung im Kanton St. Gallen stattgefunden hat, genügt dies nicht, um der steuerpflichtigen Gesellschaft Vorwürfe wie «falsche Angaben in den Steuererklärungen» und Verursachung von «unnötigem Verfahrensaufwand» zu machen. Genau dies tut das Bundesgericht und auferlegt der steuerpflichtigen Gesellschaft die Gerichts- und Parteikosten.

Die steuerpflichtige Gesellschaft muss in einem rechtsstaatlich korrekt geführten Verfahren die Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt nach einem fairen Verfahren unbeirrt zu vertreten. Dies in einem rechtsstaatlich geführten Diskurs, ohne befürchten zu müssen, dafür sanktioniert zu werden.

Diese Praxisänderung des Bundesgerichts ist im Ergebnis bedenklich. Sie wird dazu führen, dass sich Steuerpflichtige in Zukunft noch mehr überlegen müssen, ob sie das zusätzliche Kostenrisiko eines Beschwerdeverfahrens eingehen wollen.

Kosten des Verfahrens

Die beiden kantonalen Gerichtsinstanzen in St. Gallen dürften je CHF 3’000.00 in Rechnung gestellt haben. Das Bundesgericht stellt seine «Leistung» mit CHF 3’500.00 in Rechnung. Dem Kanton Appenzell Ausserrhoden wird eine Parteientschädigung von CHF 3’200.00 zugesprochen, ein Betrag, der übrigens über den üblicherweise zugesprochenen CHF 3’000.00 liegt. Hinzu kommen Parteikosten für die Wahrung der Rechte der Steuerpflichtigen von geschätzten CHF 12’000. Der mühsame und letztlich verlorene Kampf durch alle Instanzen dürfte die Steuerpflichtigen somit rund CHF 24’700 gekostet haben.

Es zeigt sich einmal mehr, dass die Steuerpflichtigen im Kampf um Gerechtigkeit und ein faires Verfahren oft den Kürzeren ziehen. Stossend ist, dass neu auch die Kantone Parteientschädigungen geltend machen können. Hinzu kommen die regelmässig enormen finanziellen Auswirkungen im Einzelfall. Alles in allem sind dies bedenkliche Entwicklungen an der Steuerfront, die bei den Betroffenen kaum auf Verständnis stossen.

Fazit/Kommentar

Das Urteil 9C_591/2023 kommt einem Dammbruch gleich. Neu sollen auch die Kantone unter bestimmten Voraussetzungen Parteientschädigungen nach Art. 68 Abs. 3 BGG geltend machen können. Es ist daher zu erwarten, dass die kantonalen Steuerverwaltungen in künftigen Verfahren vermehrt versuchen werden, für sich eine Parteientschädigung geltend zu machen. Nach der Terminologie des Bundesgerichts dürfte in einer Vielzahl von Streitfällen der Vorwurf des «unnötigen Verfahrensaufwandes» erhoben werden können. Angesichts der Tatsache, dass die Beschwerden der Steuerpflichtigen ganz überwiegend abgewiesen werden, droht hier zusätzliches finanzielles Ungemach.

Unverständlich bleibt auch, dass der steuerpflichtigen Gesellschaft trotz teilweisen Obsiegens mit genau derselben Begründung («unnötiger Verfahrensaufwand») die Parteientschädigung verweigert wird. Man wünscht sich den umgekehrten Fall, dass ein Steuerpflichtiger vor Gericht unterliegt und trotzdem eine Parteientschädigung zugesprochen erhält. Das ist schlicht nicht vorstellbar und gibt es (bisher) auch nicht. Es gibt immer weniger Steuerjustiz. Forderungen wie Waffengleichheit und faires Verfahren bleiben vor Bundesgericht leider immer öfter auf der Strecke.

Das RICHTER-Gremium

Das Bundesgericht nennt die urteilenden Richterinnen und Richter sowie die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber immer nur mit dem Familiennamen. Inside Justiz ist der Ansicht, dass die Richterinnen und Richter sowie die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber mit vollem Namen genannt werden sollten.

Steuerrechtsfälle haben vor Bundesgericht traditionell einen schweren Stand, wenn die Beschwerdeführer die Steuerpflichtigen sind. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Beschwerden wird gutgeheissen, wobei viele Beschwerdeführer bereits an den strengen Formvorschriften des Bundesgerichts scheitern. Solche Fälle werden vom Gerichtspräsidenten zusammen mit einem Gerichtsschreiber/einer Gerichtsschreiberin durch Nichteintreten erledigt. Ist hingegen ein kantonales Steueramt oder die ESTV Beschwerdeführerin, so fällt die wohlwollende Haltung des Bundesgerichts auf. Die Erfolgsquote von Beschwerden mit einer Steuerbehörde als Beschwerdeführerin ist signifikant höher.

Francesco Parrino wurde 2013 als SP-Kandidat gewählt. Er war zuvor Präsident der Kammer für Sozialversicherung und Gesundheit des Bundesverwaltungsgerichts. Er setzte sich in einer Kampfwahl gegen den FDP-Kandidaten Luca Grisanti durch. (oben links)

Michael Beusch (SP) sorgte mit einem Etappensieg für den Milliardär Urs Schwarzenbach vor dem Bundesverwaltungsgericht für Aufsehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Zwangsversteigerung von 114 Kunstwerken von Urs Schwarzenbach in letzter Minute gestoppt.(oben mitte)

Thomas Stadelmann (Mitte) war von 92 bis 97 nebenamtlicher Richter am Verwaltungsgericht Luzern. Von 97 bis 06 Verwaltungsrichter in Luzern und nebenamtlicher Richter bei der Eidgenössischen Steuerrekurskommission. Anschliessend bis 2010 Richter am Bundesverwaltungsgericht. Seit 2009 Bundesrichter. (oben rechts)

Margit Moser-Szeless (SVP) war von 1998 bis 2001 juristische Mitarbeiterin im Bundesamt für Justiz in Bern. Anschliessend Gerichtsschreiberin am Bundesgericht. Die Wahl als Bundesrichterin erfolgte 2014. (unten links)

Karin Scherrer Reber (FDP) ist seit 2012 Oberrichterin im Kanton Solothurn. Seit 2015 Präsidentin des Verwaltungsgerichts und seit 2019 Mitglied der Gerichtsverwaltungskommission. Die Wahl als ordentliche Bundesrichterin erfolgt 2022. (unten mitte)

Moritz Seiler – Gerichtsschreiber
lic.iur., Gerichtsschreiber am Bundesgericht, Lausanne (unten rechts)

Kanton Appenzell - Ladina Nick und ihre Wildwest-Steuer-Methoden

Inside Justiz berichtete bereits mehrfach über die ungewöhnlichen Mittel, mit denen Ladina Nick (Leiterin Rechtsdienst KSTA AR) gegen Steuerpflichtige vorzugehen pflegt. Sie beschreibt die Wildwest-Methoden wie folgt. Da werden Betroffene mit Postsendungen «Post Express Mond» adressiert und Verfügungen erlassen, ohne das rechtliche Gehör abzuwarten.

Weiter hat Ladina Nick in mindestens einem Fall ein rechtskräftiges Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden (O2V 20 9 / O2V 20 25 vom 10. Dezember 2020) einfach ignoriert und ein kassiertes Urteil (krasse Verletzung des rechtlichen Gehörs) als ordentliches Urteil mit Rechtswirkung (Art. 189 Abs. 2 DBG i.S. Nichteintritt der Verjährung) betrachtet.

Auch stgallen.24 hat diese Geschichte in ihrem Artikel „Will Ausserroden Justizaffäre aussitzen?“ aufgenommen und stellt fest: „Der zuständige Regierungsrat Paul Signer schweigt zum Vorgehen seiner Behörde“ und will die heikle Angelegenheit offenbar aussitzen. Laut stgallen24.ch lässt er über Regierungssprecher Georg Amstutz lapidar ausrichten: «Wir nehmen keine Stellung zu laufenden Verfahren oder personenbezogenen Fragen und kommentieren auch keine Gerichtsurteile.»  

Im hier besprochenen BGE 9C_591/2023 verlangt der Kanton Appenzell Ausserrhoden, dass die bereits einkassierten Steuern für die Jahre ab 2011 der steuerpflichtigen Gesellschaft nicht mehr zurückerstattet werden müssen. Begründet wird dies mit den Auswirkungen auf die Ausgleichszahlungen im Rahmen des Nationalen Finanzausgleichs (NFA). «Konkret seien ihm (Kanton Appenzell Ausserrhoden) deshalb für die Jahre 2011 bis 2015 Ausgleichszahlungen aus dem NFA im Umfang von Fr. 689’528.- entgangen.

Auch in der Literatur ist bereits auf die Auswirkungen auf den NFA hingewiesen worden (LADINA NICK, Neues Leiturteil des Bundesgerichts zur interkantonalen Doppelbesteuerung: Praxisänderung mit Auswirkungen auf interkantonale Unternehmen, TREX 2023 S. 334; OESTERHELMANN, NFA. 334; OESTERHELT/OPEL, Rechtsprechung im Steuerrecht, FStR 2023 S. 380). 380). „

Das Begehren des Kantons Appenzell ist ziemlich aus der Luft gegriffen und würde, wenn das Bundesgericht diesem Begehren folgen würde, die Steuerlandschaft zu Lasten der steuerpflichtigen Gesellschaften einmal mehr durcheinander wirbeln, und zwar gewaltig!
Hinter dieser phantasievollen Forderung dürfte wiederum Ladina Nick (Leiterin Rechtsdienst KSTA AR) stehen, zumal sie sich in Bezug auf die Literatur gleich selber zitiert.

Erfreulicherweise ist das Bundesgericht auf diesen untauglichen Versuch des Kantons Appenzell Ausserrhoden nicht eingetreten und kommt zum Schluss, dass die im unzuständigen Kanton bereits bezahlten Steuern der steuerpflichtigen Gesellschaft vollumfänglich zurückzuerstatten sind. Schon im Hinblick auf den fraglichen Betrag von Fr. 689’528.00 ist zu begrüssen, dass das Bundesgericht gut daran tut, verfassungswidrige Doppelbesteuerungen (Art. 127 Abs. 3 BV) zu vermeiden.

Nick, die heutige Leiterin Rechtsdienst KSTA AR, ist seit ihrem erfolglosen Wahlkampf 2003 für die FDP im Kanton Graubünden medial nicht mehr in Erscheinung getreten. Die Juristin aus Ignis ist äusserst fotoscheu. Auch ihr LinkedIn-Porträt wurde ohne Foto veröffentlicht. Die heute 44-jährige Bündnerin arbeitete als Steuerberaterin bei Ernst & Young. Es folgten vier Jahre als Gerichtsschreiberin im Kanton Aargau und Tätigkeiten als Dozentin für Steuerverfahrensrecht bei der Schweizerischen Steuerkonferenz und der Akademie St. Gallen. Umso erstaunlicher ist ihr rechtsstaatlich bedenkliches Vorgehen in mehreren Fällen.

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