Strafverteidiger fordert Untersuchungen zur Untersuchungshaft

Der Zürcher Strafverteidiger Andrea Taormina fordert in der NZZ AM SONNTAG eine bessere wissenschaftliche und statistische Aufarbeitung der Schweizer Untersuchungshaft.  Dabei soll insbesondere die Arbeit der Zwangsmassnahmengerichte erforscht werden.

Die Fakten sind längst bekannt. Schweizer Zwangsmassnahmengerichte erscheinen in vielen Kantonen als reine Abnicker-Gremien. Taormina präsentiert die Zahlen aus Zürich, wo 2021 lediglich 4 (!) Prozent aller Haftanträge vor dem Zwangsmassnahmengericht abgelehnt worden waren. Andere Kantone brüsten sich damit, dass bei ihnen 100 Prozent der Anträge durchkämen. Dabei müssten eigentlich zwei Bedingungen kumulativ erfüllt sein: Zum dringenden Tatverdacht müssen sich noch entweder eine Flucht-, eine Widerholungs- oder eine Kollusionsgefahr gesellen. Zu letzterer hat das Bundesgericht eben erst erneut festgehalten, dass eine rein theoretische Gefahr, dass eine beschuldigte Person Zeugen beeinflussen oder Beweismittel vernichten könnte, nicht ausreichend ist, um die Kollusionsgefahr zu bejahen. Es müssten schon konkrete Anzeichen für eine solche Gefahr bestehen, welche die beschuldigte Person geschaffen hat.

Ob die Haftbedingungen in der Praxis tatsächlich in allen Fällen, die von einem Zwangsmassnahmengericht bewilligt werden, vorhanden sind, bestreiten viele Verteidiger und auch viele Juristinnen und Juristen in der Lehre. Eine öffentliche Kontrolle wie bei den ordentlichen Verfahren vor einem Strafgericht findet zudem nicht statt: Die Zwangsmassnahmengerichte sind Geheimkabinette, die Verfahren nicht öffentlich. Wenn deshalb überhaupt etwas über die Arbeit der Zwangsmassnahmengerichte und ihrer Richterinnen und Richter an die die Öffentlichkeit dringt, dann lediglich in denjenigen Fällen, in denen die Entscheide an höhere Instanzen weitergezogen werden. Korrekturen erfolgen aber bis zum Bundesgericht äussert zurückhaltend, zum Teil werden Beschwerden mit den absurdesten argumentativen Verrenkungen abgewiesen, wie INSIDE-JUSTIZ vor kurzem anhand eines Urteils der Bundesrichter François Chaix (FDP), Monique Jametti (SVP) und Lorenz Kneubühler (SP) aufgezeigt hat.

Für Taormina stellt sich die Frage,  «ob bei einer Haft-Quote von über 96 Prozent die Zwangsmassnahmengerichte tatsächlich immer eine seriöse Prüfung der Haftgründe vornehmen», wie er schreibt. Es würden allerdings in den Kantonen und auf Bundesebene nur wenig aussagekräftige Statistiken geführt und in der juristischen Lehre kaum umfassende empirische Untersuchungen angestellt. Das müsse sich ändern, findet der Strafverteidiger, zumal die Folgen der Untersuchungshaft für die beschuldige Person, das Strafverfahren und die Gesellschaft weitreichend seien: «Für die beschuldigte Person bedeutet die Untersuchungshaft einen schwerwiegenden Eingriff des Staates, der lebensverändernde Folgen nach sich ziehen kann: Verlust des Arbeitsplatzes, Haftschock, sozialer Abstieg oder irreparabler Reputationsschaden. ­Ebenfalls gravierend sind die Folgen der Untersuchungshaft auf den weiteren Gang des Strafverfahrens. Sie kann den Ausgang des Strafverfahrens in unzulässiger Weise präjudizieren. Grundlegende Rechte der beschuldigten Person wie das Aussageverweigerungsrecht oder das Siegelungsrecht können durch die Untersuchungshaft de facto ausgehebelt werden.» Zudem entstünden durch die häufige Untersuchungshaft auch «unnötige Kosten in erheblicher Höhe», für die am Ende die Gesellschaft aufzukommen habe.

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