Unterlassene Untersuchungshandlungen, zu wenig Distanz, viel zu lange gewartet: Die Expertenkritik an der Strafuntersuchung der Bündner Staatsanwaltschaft

Der Kanton Graubünden führt ein Strafverfahren gegen einen der vollamtlichen Verwaltungsrichter des Kantons, wie INSIDE-JUSTIZ am Samstag berichtete. Der damals 46-jährige Familienvater soll eine 24-jährige Gerichtspraktikantin zunächst über Monate sexuell belästigt und am Abend des 13. Dezember 2021 in seinem Büro vergewaltigt haben. Untersucht wird der Fall von Staatsanwältin Corina Collenberg. Allerdings mehr schlecht als recht.

Das Verfahren ist in Bündner Ermittler- und Justizkreisen, aber auch in der Politik, seit Wochen ein grosses Thema. Zumindest hinter vorgehaltener Hand. Namentlich äussern mag sich niemand von den Personen, mit denen INSIDE-JUSTIZ in den letzten Tagen und Wochen gesprochen hat. Zu gross wohl die Sorge vor Sanktionen. Unabhängige Experten nehmen dagegen kein Blatt vor den Mund.

Warum kein Ausserkantonaler?

Die Kritik beginnt damit, dass die Bündner Staatsanwaltschaft das Verfahren überhaupt selbst führt. Unisono alle von INSIDE JUSTIZ befragten Fachleute haben dafür kein Verständnis. «Ich hätte das Verfahren sofort an einen ausserordentlichen Staatsanwalt abgetreten», sagt beispielsweise Peter-Martin Meier, früherer Polizeioffizier und Direktor des Schweizerischen Polizei-Instituts in Neuenburg. Der frühere Staatsanwalt und pensionierte Kommandant der Kapo Basel-Stadt, Markus Mohler pflichtet bei: «Um nur schon dem Anschein der Befangenheit zu begegnen, sollten solche Verfahren von ausserkantonalen Staatsanwälten geführt werden.» Mohler hätte den Fall sogar ausserhalb des Ostschweizer Polizei-Konkordates vergeben, um jeden Anschein der Befangenheit zu vermeiden.

Maurus Eckert, Leitender Staatsanwalt der Abteilung 1, lässt die Kritik nicht gelten: «Die Fälle, in denen wir die Einsetzung eines ausserordentlichen Staatsanwalts beantragt haben, lassen sich nicht mit dem vorliegenden vergleichen. Dass dies in anderen Kantonen «gang und gäbe» sein soll, trifft im Übrigen nicht zu und wäre eine Falschinformation.» Zudem habe die Staatsanwaltschaft Graubünden mit dem Gericht, an dem der Beschuldigte arbeite, keinerlei Berührungspunkte.

Was für die Vergangenheit stimmen mag, nicht aber für die Zukunft: Erst am 27. November hat das Bündner Stimmvolk der «Justizreform 3» zugestimmt, mit welcher Verwaltungs- und Kantonsgericht in einem neuen Obergericht vereint werden. Sollte der Fall also dereinst an die zweite Instanz weitergezogen werden, werden die Kantonsrichter an demselben Gericht über den Fall entscheiden, an dem auch der Beschuldigte arbeitet.

Mit dem Beschuldigten per «Du»

Aber es kommt noch besser. Wie die SONNTAGSZEITUNG in ihrer gestrigen Ausgabe schreibt, ist die fallführende Staatsanwältin mit dem Beschuldigten per Du. Auf dem gleichen Stock und in der gleichen Abteilung 1 der Bündner Staatsanwaltschaft arbeitet auch eine Ex-Lebenspartnerin des Beschuldigten. Auch das sehen mehrere Experten kritisch: «Da herrscht eine viel zu grosse Nähe», sagt der frühere Staatsanwalt und pensionierte Polizei-Kommandant Mohler, und verweist darauf, dass bereits der Anschein der Befangenheit ausgeschlossen werden müsse.

Die Bündner Staatsanwaltschaft lässt aber auch diese Kritik nicht gelten. Der leitende Staatsanwalt Marius Eckert: «Selbst wenn die fallführende Staatsanwältin mit dem Beschuldigten per Du wäre, heisst das nicht automatisch, dass die erforderliche Distanz fehlen würde. Zwischen ihr und dem Beschuldigten besteht keine Freundschaft, welche den Anschein einer Befangenheit im Sinne von Art. 56 lit. f StPO begründet.» Ob diese Auffassung den strengen Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention genügen würde, ist indes mehr als fraglich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in ständiger Praxis sehr hohe Anforderungen auch an die Unabhängigkeit von Untersuchungsbeamten postuliert – beispielsweise im Fall Scavuzzo-Hager gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft.

Vetterliwirtschaft: Nichts Neues in den Bündner Bergen

Dass die Bündner Justiz immer wieder Mühe hat, Verfahren gegen «Eigene» rechtskonform durchzuführen, ist derweil keine neue Erkenntnis. Man erinnert sich an das Unterengadiner Baukartell und den Whistleblower Adam Quadroni. Erst nachdem sein Fall durch eine mehrteilige Recherche der REPUBLIK und die Untersuchung der Wettbewerbskommission schweizweit für Entsetzen gesorgt hatte, konnte das Bündner System nicht mehr anders, als die verschiedenen umstrittenen Sachverhalte von externen Staatsanwälten und Gutachtern aufarbeiten zu lassen. Die Befunde, etwa des langjährigen ehemaligen leitenden Oberstaatsanwalts des Kantons Zürich, Andreas Brunner, zeichneten das Bild eines Systems, dem es an vielen Ecken und Enden an «Checks & Balances» abgeht.

Nichts gelernt

Gelernt hat der Kanton freilich nichts aus den ausserkantonalen Befunden. Auch das Verfahren gegen den beschuldigten Verwaltungsrichter, einen aus dem «System», wird mit einer bemerkenswerten Nonchalance geführt. Das geht soweit, dass auch in Polizeikreisen Konsternation herrscht und der Eindruck entsteht, es würde nicht korrekt ermittelt.

Die Strafanzeige gegen den Beschuldigten ging am 3. März 2022 ein, die Geschädigte wurde gemäss Akten, die INSIDE-JUSTIZ vorliegen, erst am 17. und 18. März zwei Tage lang einvernommen – allerdings delegiert, d.h. von einer Polizistin. Staatsanwältin Collenberg bemühte sich nicht persönlich. Sogar erst am 30. März wurde der Beschuldigte am Morgen von der Polizei abgeführt und den ganzen Tag über befragt. Der beschuldigte Verwaltungsrichter räumte dabei Intimitäten mit seiner Praktikantin ein, beteuerte aber, diese seien einvernehmlich erfolgt. Eine Vergewaltigung wies er zurück.

Nur: Strafbar bliebe auch das, falls das Gericht auf die Ausnützung einer Abhängigkeit erkennt: Art. 193 StGB stellt sexuelle Handlungen schon dann unter Strafe, wenn jemand «eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er (…) eine durch ein Arbeitsverhältnis (…) begründete Abhängigkeit ausnützt.»

Auf Nachfrage von INSIDE-JUSTIZ lässt der beschuldigte Verwaltungsrichter über seine Anwältin Tanja Knodel verlauten, «die bestrittenen Vorwürfe» seien für ihn «sehr überraschend und belastend. Er bestreitet jegliches widerrechtliche Verhalten.» Man habe im Übrigen Vertrauen in die laufenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft.

Ob dieses Vertrauen tatsächlich berechtigt ist, stellen erfahrene Juristen allerdings in Frage.

Staatsanwältin sichert nicht einmal die Arbeitsmittel des Beschuldigten

Knapp einen Monat nach Eingang der Strafanzeige wurde der Beschuldigte am 30. März 2022 zuhause abgeholt und einen Tag lang befragt. Im Polizeirapport, der die polizeilichen Einvernahmen und Untersuchungshandlungen zusammenfasst, steht wörtlich: «Gemäss Rücksprache und Anweisung der Staatsanwaltschaft Graubünden wurde nach der Durchführung der Einvernahmen mit dem Beschuldigten darauf verzichtet, Hausdurchsuchungen an dessen Arbeits- und Wohnort durchzuführen. Ebenfalls wurde darauf verzichtet, sein Mobiltelefon sicherzustellen».

Standard-Untersuchungshandlungen verpasst

Dafür hat Markus Mohler kein Verständnis. «Eine weitere Unterlassung», sagen er und alle mit ihm von INSIDE JUSTIZ befragten Expertinnen und Experten. Denn: «Auch wenn die Tat schon drei Monate her war, eine Spurensicherung hätte gleichwohl angeordnet werden müssen. Dabei hätte man zwar kaum mehr Fingerabdrücke gefunden, aber möglicherweise Fasern der Kleidung an den Möbeln, an welche die Praktikantin von ihrem Vorgesetzten gedrückt worden war. Die Erfahrung zeigt, dass die Putzequipen gerade die Seitenwände von Möbeln selten wirklich gründlich reinigen.»

Auch die Kleidung des Beschuldigten, beispielsweise die Jeans, die er getragen hatte, hätte Mohler untersuchen lassen – und überprüft, ob sie gereinigt worden war: «Es wäre beispielsweise denkbar gewesen, dass der mutmassliche Täter die Hose am nächsten Tag in eine Reinigung gebracht hatte.»

Chance verpasst

Den Eindruck, dass viele Untersuchungshandlungen fatalerweise unterlassen wurden, bestätigen auch mehrere andere Fachleute, die INSIDE-JUSTIZ in den letzten Wochen kontaktierte. «Man weiss nie, was bei einem Täter allenfalls noch an Beweismitteln gefunden wird: Papiernotizen, Tagebuchaufzeichnungen, allfällige belastende Suchverläufe im Internet-Browser, etc. Es kommt immer wieder vor, dass Durchsuchungen unerwartete Beweismittel erbringen», erzählt ein Praktiker auf Anfrage von INSIDE-JUSTIZ. Dass im vorliegenden Fall darauf verzichtet wurde – für ihn ein unverzeihlicher Fehler: «Dass Server gesichert und die Arbeitsgeräte ausgewertet werden, gehört in solchen Fällen eigentlich zum Standard. Ich kann nicht verstehen, dass das nicht gemacht wurde.»

Eckert weist auch diesen Vorwurf zurück und wird persönlich: «Abgesehen davon, dass wir Ihre «Experten» nicht kennen, trifft deren angebliche Kritik nicht zu. Die erforderlichen Beweismittel wurden sichergestellt.» Was aber angeblich und entgegen dem Aktenverzeichnis gesichert worden sein soll, verrät er nicht: «Aufgrund des laufenden Verfahrens dürfen wir diese Frage nicht detaillierter beantworten.»

Einvernahmen der Gerichtsangestellten? Fehlanzeige

Markus Mohler erkennt eine weitere schwerwiegende Unterlassung darin, dass die Gerichtsangestellten bis heute nicht einvernommen worden sind. «Gemäss den Unterlagen hat eine Angestellte das Opfer am Morgen nach der mutmasslichen Tat in einem desolaten Zustand angetroffen. Es ist mir unverständlich, warum diese Person nicht sofort nach der Einvernahme des Beschuldigten befragt wurde», sagt er. «Um diese und vielleicht noch weitere Einvernahmen am Gericht durchzuführen, hätte ich den Beschuldigten vorerst eine Nacht in Polizeigewahrsam behalten, damit die Einvernahmen am nächsten Tag ohne Einflussnahme des Richters hätten vonstatten gehen können.» Je nach Ausgang dieser Befragungen hätte dann entschieden werden können, ob ein Antrag auf Untersuchungshaft nötig ist.

Auch Peter-Martin Meier findet es unverständlich, dass die anderen Arbeitskolleginnen und -kollegen nicht befragt wurden, weil laut den Aussagen der Geschädigten zahlreiche sexuelle Anzüglichkeiten in der Gegenwart von Mitarbeitenden stattgefunden hatten.

Beeinflussungsversuche ermöglicht

Stattdessen liess es Staatsanwältin Collenberg zu, dass der mutmassliche Täter seither am Gericht die Möglichkeit hatte, einen ganz anderen Narrativ zu den damaligen Geschehnissen zu verbreiten. Dass das Erinnerungsvermögen der Gerichtsangestellten ein Jahr nach dem Vorfall nicht mehr dasselbe ist und sie allfällige sachdienliche Hinweise, denen sie damals vielleicht keine Bedeutung zugemessen hatten, längst vergessen haben, lässt sich nicht mehr korrigieren.

Der Leitende Staatsanwalt Eckert wollte zu diesen Vorwürfen keine konkrete Stellung nehmen: «Fragen zu gegebenen oder nicht gegebenen Voraussetzungen einer Untersuchungshaft betreffen den Inhalt der Strafuntersuchung, wozu wir uns im Moment nicht äussern.»

 

LESEN SIE AM MITTWOCH AUF  INSIDE-JUSTIZ:
Warum der beschuldigte Richter immer noch in Amt und Würden ist und warum die Kommission für Justiz und Sicherheit sich als komplett zahnlos erweist.

2 thoughts on “Unterlassene Untersuchungshandlungen, zu wenig Distanz, viel zu lange gewartet: Die Expertenkritik an der Strafuntersuchung der Bündner Staatsanwaltschaft

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert