Untersuchung im Fall von Mike Ben Peter wirft Fragen auf

Wenn Menschen in Polizeigewahrsam zu Tode kommen, täte eine besonders exakte  Strafuntersuchung Not. Nur: Das haben die Schweizer Staatsanwaltschaften bis heute nicht verstanden. Diese Erkenntnis kann aus dem Fall von Mike Ben Peter in Lausanne heute schon gezogen werden.

Titelbild: RTS

Seit letzter Woche führt das Bezirksgericht Lausanne in Renens eine Verhandlung gegen sechs Polizeibeamte. Hintergrund: Sie waren 2018 an der Festnahme eines 40-jährigen, übergewichtigen Nigerianers beteiligt, der während der Aktion einen Herzstillstand erlitt und in der Folge verstarb.

Polizeiaktion gegen renitenten Mann

Der Nigerianer war in der Umgebung des Bahnhofs Lausanne kontrolliert worden, weil eine Polizei-Patrouille ihn des Drogenhandels verdächtigte. Tatsächlich wurden später auch Kokain-Kügelchen in seinem Mund gefunden (die allerdings gemäss Gerichtsmedizin für den Tod keine Rolle spielten – und auch im Blut des Verstorbenen wurden keine Drogen festgestellt). Die Kontrolle, zunächst durch einen einzigen Polizisten, lief aus dem Ruder. Der Mann wehrte sich, der Polizist rief Verstärkung. Am Ende waren sechs Polizisten daran beteiligt, den Mann zu Boden zu bringen und zu fixieren.

Im Zuge der Verhaftungsaktion wurden dem Mann Handschellen angelegt. Zuvor hatte ihm ein Polizist einen Tritt in die Genitalien versetzt, auch Pfefferspray wurde eingesetzt, und weil sich der Verdächtige auch nach der Fesselung weiterhin wehrte, wurde er in die Bauchlage versetzt. Die Polizisten hielten ihn fest, ohne aber auf ihn zu sitzen – so zumindest die Aussagen der Beamten, zu denen es keine widersprechenden Zeugenaussagen gibt.

Vorwürfe der Lustlosigkeit

Prozessbeobachterinnen und -beobachter berichteten letzte Woche übereinstimmend, der fallführende stellvertretende Generalstaatsanwalt Laurent Maye falle vorab durch demonstrative Lustlosigkeit auf. Er verhalte sich nachgerade wie eine Wachsfigur, erzählt eine Prozessbeobachterin, der TAGESANZEIGER berichtet, es sei eher der Opferanwalt Simon Ntah, der die Arbeit des Anklägers mache – und der gleichzeitig die Staatsanwaltschaft scharf kritisierte.

Absprachen und Verspätete Zeugenaussagen

Etwa dafür, dass die Polizisten nach dem Einsatz alle Möglichkeiten hatten, sich zum Tatgeschehen abzusprechen: Die Polizisten waren nicht getrennt und auch nicht am selben Abend noch befragt worden, sondern hätten die Möglichkeit gehabt, stundenlang ihre «Geschichte» anzugleichen.

Ein nicht namentlich genannt werdender Strafverfolger wird gegenüber INSIDE JUSTIZ deutlich: «Stellt man sich vor, sechs Privatpersonen hätten diesen Mann bei der Ausübung einer Straftat beobachtet, auf dieselbe Art und Weise und mit demselben Ergebnis am Boden fixiert: Ich bin überzeugt, alle sechs wären zumindest in Polizeihaft gekommen, bis die Ersteinvernahme stattgefunden hätte.»

Auch mit weiteren Augenzeugen habe sich die Staatsanwaltschaft schwer getan, obwohl es Anwohner gegeben habe, die von «herzzerreissenden Schreien» berichtet hätten und gesehen haben wollen, dass sich Ben Peter gar nicht wehrte. Gemäss TAGESANZEIGER hat eine Zeugin vor Gericht ausgesagt, dass sie erst ein Jahr nach dem fatalen Abend überhaupt einvernommen worden sei. Der Antrag des Opferanwalts, Zeuginnen zu laden und vor Gericht noch einmal einzuvernehmen, wurde abgeschmettert – letzeres offenbar mit dem Argument, fünf Jahre nach dem Tatzeitpunkt seien die Erinnerungen nicht mehr beweiskräftig.

Systemimmanenter Befangenheitsverdacht

Strafuntersuchungen gegen Polizeibeamte wegen Polizeigwalt sind für einen Staatsanwalt oder eine Staatsanwältin unangenehm. Die Beschuldigten stehen grundsätzlich auf der Seite der Strafverfolger und damit auf der aus ihrer Sicht «richtigen Seite». Zudem sind die Polizeibeamten, wenn auch nicht gerade Kolleginnen oder Kollegen, so mindestens diejenigen, mit denen die Staatsanwaltschaften eng zusammenarbeiten. Und auf deren Engagement die Staatsanwaltschaften angewiesen sind.

Entwickelt ein Staatsanwalt in einer Untersuchung gegen die Polizei zuviel Ehrgeiz, drohen ihm mehr oder weniger unverhohlen Retorsionsmassnahmen. Wie der Korpsgeist spielt, zeigt sich auch aktuell auch daran, wieviele andere Polizeikorps Druck machen, indem sie Kollegen als «Prozessbeobachter» nach Lausanne entsenden. Es gibt schlicht keinen Grund, warum Luzerner Polizeivertreter an diesem Prozess teilnehmen müssten. Ausser eben, um der Staatsanwaltschaft zu signalisieren: «We’re watching you.» Und so führt die berufliche Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei zu einem systemimmanenten Befangenheitsvorbalt bei allen Untersuchungen.

Beispielhaft ist diesbezüglich die «Aargauer Polizeiaffäre», die seit Monaten schwelt. Der leitende Staatsanwalt von Zofingen-Kulm, Simon Burger, hatte dort mehrfach das eigenmächtige Vorgehen  und fragwürdige Ermittlungsmethoden der Polizei kritisiert. Es ging nicht lange, bis ein Polizei-Offizier namens der Kantonspolizei Aargau gegen den besagten Staatsanwalt und auch die Leiterin der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aargau Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs erhob. Auch sie, Barbara Loppacher, hatte widerrechtliche Polizeimethoden kritisiert. Seither ist Feuer im Dach, das Klima vergiftet, die Politik windet sich.

Gerichte müssen immer wieder ermahnen

Immer wieder müssen denn auch Gerichte die Staatsanwaltschaften an ihre Aufgabe erinnern, wenn diese allzu früh lieber einstellen, als einem Sachverhalt nachzugehen. Der Fall des 40-jährigen Zürchers D.F, der von der Polizei, trotz Suizidandrohung, einfach alleine in einer Zelle zurückgelassen wurde, musste bis nach Strasbourg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fand dann deutliche Worte und erinnerte die Schweiz daran, dass es sehr hohe Hürden gebe, um einen Fall nicht zu untersuchen, wenn jemand zu Tode kommen und staatliche Akteure allenfalls involviert sein könnten. Die Schweizer NGO humanrights.ch kritisierte in dem Zusammenhang bereits damals: «Immer wieder drohen entsprechende Untersuchungen im Sand zu verlaufen. So etwa im Fall von Wilson A, wo die zuständige Staatsanwälting zweimal versucht hatte, das Verfahren einzustellen. Auch im Fall von Herrn Ali versuchte der Staatsanwalt, das Verfahren einzustellen, obwohl ausgebildetete, trainierte Polizisten dreizehn Mal auf einen psychisch verwirrten Mann geschossen hatten.»

Immer mal wieder gerügt: Anklagekammer St. Gallen

In einigen Fällen hatte das Bundesgericht eingegriffen und Untersuchungen durchgesetzt. Mehrfach gerüffelt werden musste beispielsweise die Anklagekammer des Kantons St. Gallen. Der Kanton St. Gallen kennt, wie auch noch Zürich, Appenzell Innerrhoden oder Genf die Ermächtigung. Das heisst: Bevor ein Strafverfahren gegen einen Staatsangestellten durchgeführt werden kann, muss die Anklagekammer (als Gericht) erst die Ermächtigung dazu erteilen. Die Legislative hatte bei der Ausarbeitung der eidgenössischen Strafprozessordnung nicht den Mut, diese bei Strafrechtsspezialisten höchst umstrittene Rechtsfigur zu kippen. Umstritten deshalb, weil das Ermächtigungsverfahren diskriminierend ist: Es schafft ein Sonderrecht für Beamte.

INSIDE JUSTIZ ist beispielsweise ein Fall bekannt, bei dem die St. Galler Anklagekammer eine Strafanzeige nolens-volens der beschuldigten Person zur Stellungnahme zukommen liess und dann mehr oder minder aufgrund der Beteuerung, sie habe keine Straftat begangen, die Ermächtigung zur Strafuntersuchung verweigerte. Ein solches Vorgehen ist naturgemäss völlig absurd und nichts weniger als eine Einladung an die beschuldigte Person, sich schnell aller belastenden Beweismittel zu erledigen.

In anderen Fällen wurde die St. Galler Anklagekammer immerhin vom Bundesgericht korrigiert: In Entscheid 1C_633/2013 hob das Bundesgericht eine St. Galler Ermächtigungs-Verweigerung auf und wies die Behörden an, es sei eine Strafuntersuchung durchzuführen. Gegenstand war der ungeklärte Tod des Lehrermörders Ted Gecaj in St. Galler Untersuchungshaft. Auch in Entscheid 1C_97/2015 mussten die St. Galler Behörden contre-coeur eine Untersuchung gegen Polizeibeamte führen, denen vorgeworfen wurde, unverhältnismässige Gewalt angewandt zu haben.

 

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Der Lausanner Strafprozess ist eine Blamage für die Westschweizer Strafverfolgungsbehörden, für die Staatsanwaltschaft genauso wie für den kurz vor der Pensionierung stehenden Gerichtspräsidenten. Der ganze Vorgang zeigt, dass es Gerichte und Staatsanwaltschaften immer noch an der nötigen Sensibilität vermissen lassen im Zusammenhang mit mutmasslichen Übergriffen von Repräsentanten des Staates.

Das beginnt damit, dass eine Strafuntersuchung, wie vorliegend, fünf Jahre gedauert hat. Zum Vergleich: In dem viele Parallelen aufweisenden Fall des schwarzen Amerikaners George Floyd dauerte die Untersuchung keine zwei Jahre: Floyd starb am 25. Mai 2020, weil der Polizist Derek Chauvin so lange mit seinem Knie auf den Hals von Floyd gedrückt hatte, bis dieser keine Luft mehr bekam – und wenig später verstarb. Chauvin wurde am 25. Juni 2021 zu 22.5 Jahren Gefängnis verurteilt. Nun wird zu Recht kein rechtschaffender Schweizer Jurist im Strafrecht ernsthaft amerikanische Verhältnisse verlangen. Gleichzeitig kann es nicht sein, dass die Waadtländer Behörden fünf Mal länger brauchen für ihre Untersuchung als die Amerikaner.

Es geht damit weiter, dass die Waadtländer Staatsanwaltschaft den Fall selbst untersucht, statt einen ausserordentlichen Staatsanwalt aus einem anderen Kanton damit zu betrauen. Oder, dass sich gemäss Gerichtsberichterstattung die Zeugen im Wesentlichen selbst gemeldet hatten und nicht oder nur ungenüngend aktiv gesucht wurden.

Dass dann Einvernahmen mit Auskunftspersonen und Zeugen erst nach einem Jahr gemacht werden, ist zwar in diesem Land leider fast schon Usus – und schlimm genug. Dass aber sogar in einem Fall, bei dem sich die Staatsanwaltschaft aufgrund der offensichtlichen Parallelen zum US-amerikanischen Fall von George Floyd der politischen Tragweite bewusst sein müssten, so nonchalent ermittelt wird, ist schlicht inakzeptabel.

Gesellschaftlich und politisch ist das Signal, welches die Waadtländer Staatsanwaltschaft sendet, indes fatal und, mit Verlaub, auch schlicht dumm. Wer so ermittelt, darf sich nicht wundern, wenn es am Ende in den Strassen Lausannes brennt.

 

 

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