Untersuchungshaft gegen Könizer Mutter bleibt – BGE überzeugt allerdings überhaupt nicht

Das Bundesgericht  weist in BGE 1B_442/2022 die Haftbeschwerde einer Mutter ab, die beschuldigt wird, ihre achtjährige Tochter mit einem Stein getötet zu haben ab. Die Frau ist seit dem 2. Februar 2022 in Untersuchungshaft, also seit rund acht Monaten. Alle Zeugen sind längst und mehrfach befragt, doch die Bundesrichter Francois Chaix (FDP), Monique Jametti (SVP) und Lorenz Kneubühler (SP) sehen nach wie vor eine Kollusionsgefahr. Der Entscheid ist juristisch kaum nachvollziehbar.

Vorab: Es geht hier nicht darum, ob die beschuldigte Mutter die Tat tatsächlich begangen hat oder nicht. Das wird nämlich wohl erst der Prozess vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland zeigen. Es geht bei der Haftprüfung im vorliegenden Fall lediglich darum, ob die beiden notwendigen Haftgründe erfüllt sind, die für eine Untersuchungshaft mindestens vorliegen müssen. Dazu gehört einerseits ein dringender Tatverdacht und andererseits in dem konkreten Fall eine Verdunkelungsgefahr (Kollusionsgefahr) – also das Risiko, dass die Beschuldigte Spuren verwischen oder Zeugen beeinflussen könnte.

Viel Kritik an der Untersuchungshaft in der Schweiz

Vorab: Die Praxis der Untersuchungshaft in der Schweiz ist ein seit Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema – unter verschiedenen Aspekten: Das beginnt damit, dass die Zwangsmassnahmengerichte, die Haftanträge der Staatsanwaltschaften eigentlich kritisch beurteilen müssten, die Anträge in aller Regel einfach durchwinken. Es ist an vielen Gerichten von Quoten zwischen 95 und 98 Prozent die Rede – sowjetische Verhältnisse also. Eine mediale Kontrolle der Arbeit der Zwangsmassnahmengerichte gibt es nicht, weder die Verfahren noch die Urteile der Zwangsmassnahmengerichte sind  öffentlich.

Die Debatte über die Untersuchungshaft endet beim Thema Folterverbot, gilt doch die Untersuchungshaft als das strengste Haftregime überhaupt – da sind sich Zeitungen von der WOZ bis zur NZZ einig. Was schon per se im krassen Widerspruch dazu steht, dass die inhaftierten Personen ja per Definition während der Untersuchungshaft als unschuldig zu gelten haben – über Schuld und Unschuld richtet schliesslich erst das Gericht am Ende des Strafverfahrens. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise humanrights.ch verfolgen die Schweizer Praxis deshalb mit Argusaugen

Die Anwälte Diego Gfeller, Adrian Bigler und Duri Bonin gehen in der Fachzeitschrift CONTRALEGEM davon aus, dass Untersuchungshaft oft unrechtmässig angeordnet wird und dabei sogenannte «apokryphe» Haftgründe eine Rolle spielen – solche also, die das Gesetz nicht vorsieht und die eigentlich illegal sind. Sie zitieren dazu einen Richter aus Deutschland mit der Aussage: «Wir fragen doch zuerst: Gehört der rein oder gehört der raus? Und wenn wir der Meinung sind, er gehöre rein, fällt uns schon was zur Begründung ein.»

Tatverdacht auf der Basis widersprüchlicher Aussagen

Im vorliegenden Fall streitet die Mutter die Tat ab, hat sich aber gemäss Bundesgericht zumindest in einem Punkt offenbar in einen Widerspruch verstrickt. Als mutmassliches Tatwerkzeug hat die Staatsanwaltschaft einen Stein eruiert, auf dem sowohl z.B. Blutspuren und Haare des Opfers als auch die DNA der Beschuldigten festgestellt wurden. Der Hintergrund: Die Mutter und ihre Tochter hatten offenbar am 24. Januar 2022 im nahen Könizberg-Wald zusammen ein Waldversteck gebaut und dort auch diesen Stein deponiert, als «Napf» für Tiere. In dem Waldversteck wurde das tote Mädchen später gefunden, als die beschuldigte Mutter und die Grossmutter gemeinsam nach dem Kind Ausschau gehalten hatten.

Wie dem Bundesgerichtsurteil zu entnehmen ist, soll die beschuldigte Kindsmutter zu dem Stein zunächst ausgesagt haben, sie habe diesen nur einmal (am 24. Januar) mit ihrer Tochter gemeinsam in dem Waldversteck abgelegt und danach nicht mehr angefasst.

Nachdem auf dem Stein später die DNA der Mutter sichergestellt worden war,  gab die Mutter zu Protokoll, sie habe den Stein wohl auch später noch berührt. Das Bundesgericht übernimmt dazu die Würdigung der Vorinstanz: «Die Aussagen der Beschwerdeführerin zum Stein erschienen taktisch motiviert und sollen möglicherweise proaktiv erklären, wie der Stein an seinen Fundort gekommen sei, wie die DNA der Beschwerdeführerin an den Stein gelangt sei und warum diese im Zeitpunkt der Sicherstellung des Steins noch an diesem haftete.»

Was hat der 12-jährige Junge gesehen?

Der Hauptbelastungspunkt der Staatsanwaltschaft ist aber die Zeugenaussage eines 12-jährigen Jungen, der zu Protokoll gegeben hat, er habe das getötete Mädchen mit seiner Mutter am Abend des 1. Februar 2022 zwischen 1640 und 1700 Uhr noch gemeinsam in den Wald gehen sehen, als er seinen Hund ausgeführt habe. Damit widerspricht er der Beschuldigten, die aussagte, ihre Tochter hätte um 1630 Uhr alleine das Haus verlassen, weil sie eine Spielkameradin aufsuchen wollte. Sie (die Beschuldigte) habe dann zuhause Musik gehört und erst um 1828 Uhr die Mutter dieser Kameradin angerufen, um von ihr zu erfahren, dass die Tochter dort nie angekommen sei. Der Junge sei sich seiner Sache sicher, argumentiert die Staatsanwaltschaft, die ihn offenbar mehrmals und am 17. Februar 2022 auch mittels Videoeinvernahme befragt hat.

Vorsicht: Das Nichtbedienen Ihres Handys kann Sie in Untersuchungshaft bringen

Dazu findet das Bundesgericht, auch die Handydaten der Beschuldigten dürften als «tatverdachtsbegründend» betrachtet werden. Die Kindsmutter hatte offenbar gemäss den forensischen Auswertungen ihr Handy bis zum Zeitpunkt, als die Tochter das Haus verliess, häufig bedient, anschliessend (und damit während der Zeitspanne der Tat) nicht mehr. Wie alleine die Tatsache, dass eine Person ihr Handy eine Stunde lang nicht bedient, als «tatverdachtsbegründend» bewertet werden kann, bleibt allerdings das Geheimnis des Bundesgerichts – wie in vielen anderen Punkten des Urteils begründen die Lausanner Richterin und die zwei Richter ihre Schlussfolgerung allerdings mit keinem Satz, sondern behaupten nur.

Motiv: Beziehungsnot?

Aber warum sollte eine Mutter mit ihrer Tochter in den Wald spazieren gehen und sie dort dann mit einem Stein erschlagen? Auch dafür hat die Staatsanwaltschaft eine Theorie, der das Bundesgericht reichlich unkritisch folgt: Der Freund der Mutter habe sich kurz vor der Tat erst von der Mutter getrennt gehabt. Trennungsgrund: Die Tochter der Beschuldigten. Von diesem Trennungsgrund soll die Mutter zwar erst anlässlich einer Einvernahme des Freundes überhaupt erfahren haben. Auch das übergeht das Bundesgericht aber grosszügig: «Es erscheint durchaus möglich, dass die Beschwerdeführerin vermutet bzw. befürchtet haben könnte, der Freund habe sich wegen der Tochter von ihr getrennt. Wann die Beschwerdeführerin erfahren hat, dass diese Vermutung zutraf, ist dabei unerheblich.» Schon wieder also nichts mehr als eine Theorie – es hätte auch genauso gut ganz anders sein können.

Das Bundesgericht schliesst sich damit der überaus abenteuerlich erscheinenden These der Vorinstanz an, die Mutter könnte ihre Tochter «aus Überforderung und Unvereinbarkeit des Mutterseins mit dem gewünschten Privatleben getötet» haben. Erneut zitiert das Bundesgericht die Vorinstanz: «Durch die Trennung habe die Beschwerdeführerin auch ihren Zugang zu der Wohngemeinschaft ihres vormaligen Partners verloren, welche sie zuvor praktisch jedes Wochenende besucht habe, um Partys zu feiern und welche sie als ihr zweites Zuhause bezeichnet habe.» – Wahrlich ein Mordmotiv, findet das Bundesgericht offenbar und hält fest: «Die Vorinstanz hat das Tatmotiv nachvollziehbar dargelegt.» Dass der ehemalige Freund selbst ausgesagt hatte, er habe nie den Eindruck gehabt, dass es der Mutter «zu viel» geworden sei mit der Tochter? Dass eine Freundin der Beschuldigten das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter als harmonisch und liebevoll bezeichnet hatte? Dass auch in der breiten Medienberichterstattung Nachbarn und Quartiereinwohner nie einen Streit oder Dissonanzen zwischen Tochter und Mutter berichtet hatten? Ausgeblendet!

Als Resultat davon, dass das Bundesgericht alle entlastenden Moment schlicht ignoriert, bejahen die drei Richter den «dringenden Tatverdacht».  Dabei müsste man mit etwas Objektivität feststellen, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund des Sachverhalts, wie er in der Urteilsbegründung widergegeben wird, auch nach acht Monaten Untersuchung wenig in der Hand hat: Die Handyauswertung kann offenbar nicht beweisen, dass die Kindsmutter während der Tatzeit tatsächlich bei der Tochter im Wald war, die DNA Spuren auf dem Tatwerkzeug könnten auch schon vorher dort hingekommen sein – es bleibt als Belastungsmoment mehr oder weniger einzig die Aussage des 12-jährigen Jungen.

Druck der Öffentlichkeit?

Für die drei Anwälte Gfeller, Bigler und Bonin erscheint es gängige Praxis, dass von Staatsanwaltschaften und Gerichten die Tatsachen so hingebogen werden, dass am Ende eine Untersuchungshaft gerechtfertigt werden kann. Dabei würden im Hintergrund häufig andere als die gesetzlichen Haftgründe eine Rolle spielen. In ihrem Fachartikel führen sie eine ganze Reihe von solchen aussergesetzlichen Gründen an, die bei der Anordnung von Untersuchungshaft wohl eher zum Tragen kommen als die vorgeschobenen, mit denen eine Untersuchungshaft dann offiziell begründet wird. Als einen solchen nennen sie beispielsweise den Druck der Öffentlichkeit und insbesondere der Boulevardmedien.

Tatsächlich hatte der Könizer Fall im Februar zu einem imensen Medienecho geführt und tagelang die Berichterstattung der Boulevardmedien wie BLICK oder 20MINUTEN dominiert. Das lässt auch Richter nicht unbeeindruckt: «Man will sich nicht dem Vorwurf der sog. «Kuscheljustiz» aussetzen oder gar riskieren, selbst negativ in die Schlagzeilen zu geraten. Gerade der Boulevard scheint die dem Gesetz widersprechende Erwartungshaltung zu schüren, dass jeder Beschuldigte in Untersuchungshaft versetzt werden müsste».

Kollusionsgefahr: Es geht noch absurder

Gemäss Strafprozessordnung muss zum dringenden Tatverdacht auch ein weiterer, «besonderer» Haftgrund hinzukommen – im konkreten Fall wird der Beschuldigten Kollusionsgefahr vorgeworfen. Die drei Richter Kneubühler, Chaix und Jametti zitieren dazu aus früheren Entscheiden es eigenen Gerichts, eine Kollusionsgefahr dürfe nicht leichthin einfach angenommen werden:  «Die theoretische Möglichkeit, dass sie (die Beschuldigte) kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen». Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten sei und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen seien an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen.

Stellt sich damit also die Frage, ob die Beschuldigte in irgendeiner Weise Anlass oder Hinweise darauf gegeben hat, dass sie zum Beispiel Beweise beiseiteschaffen oder Zeugen beeinflussen könnte. Bis sie einen Tag nach der Tat verhaftet worden war, hatte sie keinerlei solche Anstrengungen unternommen, was auch das Bundesgericht festhält, bevor es dann zu einem völlig willkürlichen Schwenker ansetzt: «Dass die Beschwerdeführerin jedenfalls seit ihrer Festnahme keine Kollusionsneigung gezeigt hat, schliesst die Kollusionsgefahr nämlich nicht aus. Aufgrund der besonderen Schwere der vorgeworfenen Tat, der Schutzbedürftigkeit des zwölfjährigen E (des Zeugen, die Red.), sowie der engen persönlichen Beziehung zu ihren Eltern ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die Kollusionsgefahr trotz der beinahe abgeschlossenen Ermittlungen weiterhin bejaht hat.»

Erneut: Keine Begründung, sondern lediglich eine pauschale Behauptung. Die «besondere Schwere» eines Deliktes ist laut Gesetz eben gerade kein Haftgrund und auch nicht per se ein Kollusionsgrund. Immerhin erklärt sich das Bundesgericht später, was es mit dem Verweis auf die «enge persönliche Beziehung zu ihren Eltern» gemeint haben könnte. Das Argument stammt von der Vorinstanz, das Bundesgericht macht es sich lediglich zu eigen: «Die Beschwerdeführerin könnte auf ihre Eltern Einfluss nehmen, um sie davon abzuhalten, doch noch zu ihrem Nachteil auszusagen.»

Den Jungen beeinflussen?

Das Bundesgericht unterstützt die Vorinstanz auch darin, dass diese befürchtet, die Beschuldigte könnte versuchen, den 12-jährigen Jungen zu beeinflussen und zitiert wiederum ausladend aus dem Entscheid der Vorinstanz: «Der Zwölfjährige werde durch das laufende Strafverfahren sehr belastet und er stehe unter grossem psychischen Druck. Würde die Beschwerdeführerin aus der Haft entlassen und mit ihm oder seinem Umfeld Kontakt aufnehmen oder versuchen, ihn öffentlich zu diskreditieren, bestehe unter diesen Umständen die Gefahr, dass E. (der Junge, die Red.) seine Aussagen aus Selbstschutz, Angst, Schuld- oder Mitgefühl relativiere, abschwäche oder widerrufe.» Auf den Hinweis der Verteidigung, diesem Risiko sei auch mit einer verhältnismässigeren Massnahme zu begegnen wie beispielsweise einem Verbot, das Quartier zu betreten, in dem der Junge sich bewegt, geht das Bundesgericht so gut wie nicht ein.

Geständnisdruck als wahrer Haftgrund?

Als einen weiteren der illegalen, aber doch häufig angewandten Haftgründe nennen die drei Anwälte Gfeller, Bigler und Bonin die «Beugehaft». Darunter ist der Versuch der Untersuchungsbehörden zu verstehen, beschuldigte Personen über eine lange Untersuchungshaft, die sie in weitestgehender Isolation zu ertragen haben, zu einem Geständnis zu bringen. Nur eben: Beugehaft ist illegal. Die drei Anwälte verlangen deshalb, dass die Gerichte, die Untersuchungshaftfälle beurteilen, insbesondere bei bestimmten Konstellationen ganz genau hinschauen und prüfen sollten. Im konkreten Fall treffen von neun solchen Konstellationen gleich deren drei zu:

  • Behauptung der Kollusionsgefahr ohne konkrete Kollusionshinweise, sondern mit bloss theoretischen oder generellen Gefahren
  • Behauptung der Kollusionsgefahr mit generalisierten Ausführungen
  • Behauptung der Kollusionsgefahr mit der alleinigen Begründung, dass sich die Aussagen des Beschuldigten nicht mit den Aussagen Dritter decken

Interessanterweise kommt das Bundesgericht der Aufforderung der Strafrechtler in keinster Art und Weise nach. Zu keinem dieser Punkte äussert sich das Bundesgericht mit eigenen Überlegungen oder einer Begründung und zieht sich billig aus der Affäre, indem es einfach mit Allerweltssätzen wie «Der Vorinstanz ist zuzustimmen» argumentiert.

Gfeller, Bigler und Bonin schreiben dazu in ihrem Fachartikel, der notabene bereits 2018 und ohne jeden Bezug zum vorliegenden Fall erschien: «Werden die wirklichen Haftgründe verschwiegen und die legalen Haftgründe zweckentfremdet, delegitimiert sich das Strafrecht. Ein Staat, der sich nicht an die selbst auferlegten Regeln halten will, untergräbt damit nicht nur das Vertrauen der Öffentlichkeit. Er unterminiert auch die Anerkennung eines Urteils durch den Beschuldigten selbst.»

 

***

Das Urteil des Bundesgerichts in der erwähnten Haftsache erweist sich in vielerlei Hinsicht als beinahe unerträgliche Lektüre. Und das umso mehr, als die Thematik der Untersuchungshaft in diesem Land ein kontroverses Thema darstellt und auch Menschenrechtsorganisationen seit längerem ein kritisches Auge auf die Schweiz haben. Diese Diskussion scheint am Bundesgericht komplett vorbei zu gehen.

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts ist mit einer beschämenden Schludrigkeit verfasst. Der Argumentationsnotstand der Berner Vorinstanzen ist für jeden juristischen Laien zu erkennen: Die Erklärungen zum angeblichen Motiv der Beschuldigten beispielsweise sind, so wie sie in dem Bundesgerichtsurteil wiedergegeben werden, weder mit gesundem Menschenverstand noch nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nachvollziehbar.

Gänzlich absurd wird es bei der Kollusionsgefahr. Etwa, wenn das Bundesgericht völlig unkritisch die absurde Behauptung der Vorinstanz durchwinkt, die Beschuldigte könnte die Eltern daran zu hindern versuchen, doch noch eine belastende Aussage zu machen – nachdem sie das bislang bei mehreren Einvernahmen nie getan hatten. Das Argument ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten.

Dafür, dass die Beschuldigte den 12-jährigen Jungen beeinflussen könnte, der sie und ihre Tochter gemeinsam im Wald gesehen haben will,  gibt es aus dem Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte. Selbstverständlich könnte man die Beschuldigte darauf verpflichten, mit dem Jungen und dessen Angehörigen keinerlei Kontakt aufzunehmen – und sie, sollte sie gegen diese Auflage verstossen, sofort wieder in Untersuchungshaft versetzen. Das würde dem Verhältnismässigkeitsprinzip entsprechen. Wie das Bundesgericht selbst schreibt: Allein die theoretische Möglichkeit reicht nicht für eine Untersuchungshaft. Und dennoch winkt das Bundesgericht eine solche wiederum ohne jede Distanz zur Vorinstanz und in vollständigem Widerspruch zu den eigenen Grundsätzen einfach durch.

Erschreckenderweise völlig unbeachtlich blieb in dem Urteil zudem, dass das Strafgericht, das den Fall später beurteilen wird, in seiner Beweiswürdigung frei ist. Zivile Strafgerichtsfälle werden auch (anders als beispielsweise militärische) nicht nach dem Unmittelbarkeitsprinzip verhandelt. Will heissen: Das Strafgericht stützt sich nicht nur auf das, was im Gerichtssaal ausgesagt wird, sondern studiert die Akten. Es kann, muss aber Zeugen nicht noch einmal persönlich befragen, um sich ein Urteil zu bilden.

Sogar wenn also der 12-jährige Junge plötzlich, nach langer Zeit, verblassendem Erinnerungsvermögen und sogar nach einem allfälligen Kontakt mit der Beschuldigten, seine Aussage ändern würde, könnte das Gericht diese Aussageänderung völlig frei würdigen und würde wohl zum Schluss kommen, die ursprüngliche und zeitnahe Aussage des Zeugen sei höher zu bewerten.

Was bleibt, ist ein Urteil des Bundesgerichts, das in der Summe erschreckend willkürlich ausfällt. Und nicht nur das, es öffnet auch der Willkür der kantonalen Strafverfolgungsbehörden Tür und Tor. Denn diese werden sich nicht scheuen, sich künftig auf dieses Urteil des Bundesgerichts zu berufen und weiterhin auch weit ausserhalb dessen, was der Gesetzgeber wollte, Untersuchungshaft anordnen.

Gerade im Bereich des Strafrechts, wo hohe Rechtsgüter wie die Freiheit des Menschen und Grundrechte wie die Unschuldsvermutung auf dem Spiel stehen, ist die Schludrigkeit, die das Bundesgericht in dem vorliegenden Fall an den Tag legt, völlig unverzeihlich. Die Bundesrichter Lorenz Kneubühler, François Chaix und Monique Jametti haben dem Rechtsstaat einen schweren Schaden zugefügt.

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