EGMR – Verärgerte Reaktion aus Bern

Das ist bisher einmalig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eröffnet ein Verfahren (41338/23) gegen die Schweiz in Sachen ASU/ESTV. Denn das Bundesgericht schützt in BGE 9C_650/2022 einmal mehr ein Strafurteil, das auf einem Bericht der ASU (Abteilung Strafsachen und Ermittlungen) beruht, macht aber für einmal die Rechnung ohne den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Das Interesse der Fachwelt wird mit dem Verfahren vor dem EGMR absehbar zunehmen und droht die bisherige Kodifikation des schweizerischen Steuerstrafrechts zu Makulatur werden zu lassen.

Bisher hat das Bundesgericht seine schützende Hand über die ASU gehalten und sich nicht mit den Rügen des EGMR zur offensichtlich fehlenden Unabhängigkeit der ASU auseinandergesetzt.

Erstmals darauf eingetreten

Neu ist jedoch, und darin liegt die eigentliche Brisanz des Falles, dass der EGMR erstmals auf die Beschwerde eines Steuerpflichtigen eingetreten ist und ein Verfahren gegen die Schweiz eröffnet hat. Wird die Beschwerde gutgeheissen, muss die Schweiz ihr Steuerstrafrecht grundlegend überarbeiten bzw. neu kodifizieren. Die Folgen für den Rechtsstaat Schweiz sind unabsehbar. Unserer Redaktion liegen die Akten exklusiv vor. Wir werden den Fall weiter verfolgen und über den Fortgang des Verfahrens vor dem EGMR und die Auswirkungen auf die Revision des Steuerstrafrechts in der Schweiz berichten. 

Zu diesem Zweck haben wir dem Generalsekretariat des Eidgenössischen Finanzdepartements (EFD) einen umfangreichen Fragenkatalog zugestellt. Die Antwort des ehemaligen «Super-Chefredaktors» und heutigen Kommunikationschefs des EFD, Pascal Hollenstein, fällt allerdings dürftig und ausweichend aus. Nur drei unserer Fragen werden vom sichtlich genervten Departementssprecher kurz beantwortet.

Die restlichen Fragen beantwortet das EFD angeblich nur deshalb nicht, weil sie «rechtspolitische» Punkte betreffen. Das EFD spielt hier einmal mehr das Schwarzer-Peter-Spiel, wie es Schweizer Behörden und Gerichte im Umfeld der EMRK oft spielen, und hält sich mit Aussagen zu diesen heiklen Fragen möglichst zurück. Während es nachvollziehbar erscheint, dass sich das EFD zu laufenden Verfahren nicht konkret äussert, ist die Verweigerungshaltung bei rechtspolitischen Fragen bedenklich.

Die Antwort des EFD dokumentiert eine eigentliche Verweigerungshaltung.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum das EFD die Fragen zur Unabhängigkeit im Steuerstrafverfahren und zum fair trial nicht einmal grundsätzlich beantworten will. Als Leser und Bürger hätte man gerne gewusst, wie das EFD zur Unabhängigkeit und zum fair trial steht. Nun bleibt vieles im Dunkeln.Für Inside Justiz lässt das Antwortverhalten des EFD nur einen Schluss zu, nämlich dass es unter dem Dach des EFD mächtig brodelt. Offensichtlich hat das EFD grosse Angst vor der weiteren Entwicklung des Verfahrens vor dem EGMR. Eine jahrzehntelange Steuerstrafrechtspraxis droht wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Das EFD ist sich wohl bewusst, dass je nach Ausgang des Verfahrens das Steuerstrafrecht grundlegend revidiert werden muss. Die Gefahr wurde vom EFD wohl erkannt, sonst hätte das EFD die Fragen von Inside Justiz wohl problemlos beantworten können.

Bemerkenswert ist auch das aktuelle Verhalten des EFD und der Steuerbehörden. Diesbezüglich verhält sich das EFD respektlos gegenüber dem EGMR, denn das hängige Beschwerdeverfahren hat gemäss Auskunft des EFD keinen Einfluss auf die aktuelle Bewilligungspraxis nach Art. 190 Abs. 1 DBG. Dies ist eine ziemlich verzerrte Sichtweise des EFD und zeugt von einem ausgeprägten Eigensinn oder schweizerischer Sturheit. Damit werden zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in der Schweiz weiterhin ungehindert einer mutmasslich EMRK-widrigen Strafuntersuchung durch die ASU unterworfen und enormen Belastungen ausgesetzt. Zahlreiche Steuerstrafverfahren mit zum Teil drakonischen Folgen werden weiterhin zum Nachteil der Betroffenen geführt.Die Arroganz der Macht des EFD ist erstaunlich. Wir hätten uns etwas mehr Demut und Zurückhaltung während der Dauer des Verfahrens gewünscht. Inside Justiz wird dem Departement von Bundesrätin Karin Keller-Sutter und ihrem sturen Finanzapparat auf die Finger schauen.

Pascal Hollenstein: «Arbeit wird tendenziell überschätzt».

Inside-Justiz schaut hinter die Kulissen. Heute ein Blick auf einen genervten und gutbezahlten Kommunikationschef. Der 52-jährige Thurgauer Pascal Hollenstein aus Bichelsee gehörte 2002 zum Gründungsteam der NZZ am Sonntag. Doch ganz nach oben hat er es trotz mehrerer Anläufe nie geschafft. 2016 wurde er Chefredaktor der NZZ-Regionalzeitungen, die ein Jahr später mit der heutigen CH-Media fusionierten. Was offiziell als Fusion deklariert wurde, war de facto eine Übernahme der NZZ-Regionalzeitungen durch Wanner, schreibt die Weltwoche. «Hollenstein wurde sozusagen mit übernommen. Er hatte seit Beginn des Joint Ventures zwischen den AZ Medien und den NZZ Regionalmedien die publizistische Leitung inne. Ihm unterstanden die Chefredaktoren aller Regionalzeitungen von CH Media. Doch mit Wanner und seiner Entourage sei er nie warm geworden, sagen Insider. Mit Verwaltungsratspräsident Peter Wanner einigte er sich auf eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses.

In der Folge profilierte sich Hollenstein zusammen mit Hansi Voigt (BDP) als Sprachrohr von Jolanda Spiess-Hegglin. Laut Weltwoche schrieb er Dutzende von Artikeln über die gestrauchelte Zuger Politikerin. Ansonsten sei es ihm nie gelungen, Akzente zu setzen. Auch in den sozialen Medien sorgte der Hinterthurgauer für Kopfschütteln. Auf X kalauerte er: «Er köppelt und prechtet derzeit wieder so sehr, dass es keine wagenknechtische Gänsehaut gibt.» Offenbar war es dem damaligen Ex-Journalisten Hollenstein ein Bedürfnis, die Aussagen anderer zum Ukrainekrieg als obskure Verschwörungstheorie in den Dreck zu ziehen. (wieder die Weltwoche). Dabei geht fast vergessen, wo Pascal Hollenstein noch vor wenigen Jahren sein Geld verdiente: als hauptberuflicher Kommunikator des Putin-Freundes Viktor Vekselberg.

Wandlungsfähiger Thurgauer

Auch später bewies Hollenstein seine unglaubliche Wandlungsfähigkeit. Als er als Kommunikationschef beim BAFU, dem Bundesamt für Umwelt, einem Departement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, landete, sagte er: „Jetzt habe ich die Chance, nicht nur zu beschreiben, sondern auch ein bisschen mitzugestalten. Zuvor hatte er – je später der Abend, desto länger – darüber referiert, warum Atomkraftwerke eine gute Sache sind. Doch Atom-Pascal blieb nicht lange im BAFU. Die Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartements, Bundesrätin Karin Keller-Sutter, ernannte Pascal Hollenstein zum neuen Kommunikationschef des Departements. Die Stelle des Kommunikationschefs EFD war nach der Pensionierung von Peter Minder neu zu besetzen.

Doch schon kurz nach der Ernennung gab es erneut Wirbel um Hollenstein. So schrieb die NZZ: «Als er im Mai seinen neuen Job im Finanzdepartement antrat, geschah dies unter Nebengeräuschen. Denn Hollenstein tauchte als eine der Hauptfiguren in den sogenannten #Hateleaks auf, die die Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger ab Mitte Mai portionsweise auf einem Internetportal veröffentlichte.Bei den #Hateleaks handelt es sich um Auszüge aus einem privaten Chat eines Netzwerks, das 2020 von Jolanda Spiess-Hegglin und mehreren Mitstreiterinnen ins Leben gerufen worden war. Ziel der linksfeministischen Frauengruppe war es offenbar, die ungeliebte Tamedia-Journalistin Binswanger zu diskreditieren – und zwar gründlich: «Unser Ziel muss es sein, dass sie als Journalistin auswandern kann», wird aus dem Chat zitiert.

Hintergrund der Aufregung war Binswangers geplantes Buch über die Skandalnacht der Zuger Landammannfeier, das Spiess-Hegglin verhindern wollte – ohne Erfolg, das Buch ist inzwischen erschienen. Im Chat der Frauengruppe taucht auch der Name Hollenstein auf, als Freund und Helfer. Laut #Hateleaks soll er einen für Journalisten ungewöhnlich engen Austausch mit Jolanda Spiess-Hegglin gepflegt und journalistisch getarnte Öffentlichkeitsarbeit zu ihren Gunsten betrieben haben. Die Antwort, die Keller-Sutter den beiden Fragestellern gab, fiel denkbar knapp aus. «Der in den Fragen formulierte Vorwurf bezieht sich auf Artikel aus einer früheren Tätigkeit der angesprochenen Person. Der Bundesrat hat keinen Anlass, dazu Stellung zu nehmen».

Noch steht Keller-Sutter hinter Hollenstein

Dass Keller-Sutter das frühere Verhalten ihres neuen Kommunikationschefs nicht öffentlich kommentieren will, erstaunt nicht. Die dürren Worte bedeuten im Umkehrschluss aber nicht, dass sich die imagebewusste und auf Sauberkeit bedachte Keller-Sutter keine Gedanken über die Personalie macht. Von Hollenstein selbst ist in dieser Sache nichts zu hören.

Marcel Odermatt, Journalist der Weltwoche, schrieb dazu: «Wie verträgt sich ein solches Verhalten mit der ehrenwerten Aufgabe eines Bundesratsberaters? Entsprechende Anfragen von akkreditierten Bundeshausjournalisten ignoriert er, obwohl er für deren Betreuung vom Steuerzahler fürstlich entlöhnt wird (Lohnklasse 30/31, Jahreslohn von 212’000 bis 222’000 Franken). Wie lange will die als fleissig und sparsam bekannte Finanzministerin dieser öffentlich finanzierten Arbeitsverweigerung noch zuschauen? Eigentlich hätte sie wissen müssen, wen sie sich da in ihr engstes Umfeld holt. Nachdem Hollenstein seinen Job bei CH Media verloren hatte, twitterte er ein Selfie von sich im Freizeittenue mit dem Kommentar: «Arbeit wird tendenziell überschätzt». (Roger Huber)  

 

 

Die Fragen von Inside Justiz

  • Wie steht die Schweiz zur Frage der Unabhängigkeit der ASU als integrierte Abteilung der ESTV im Steuerstrafverfahren?
  • Warum ist die ASU funktional und organisatorisch nicht ausserhalb der ESTV und damit unabhängig organisiert?
  • Wie rechtfertigt die Schweiz völkerrechtlich die Durchbrechung der Gewaltenteilung, indem BR Karin Keller-Sutter nach Art. 190 Abs. 1 DBG eigenmächtig die «Besondere Untersuchung» anordnen kann?
  • Welche Kenntnisse über den Sachverhalt hat die Vorsteherin des EFD, bevor sie die Ermächtigung nach Art. 190 Abs. 1 DBG unterzeichnet, oder handelt es sich bei der Ermächtigung bloss um einen blossen Routinevorgang?
  • Wieviele Ermächtigungen nach Art. 190 Abs. 1 DBG wurden in den Jahren 2014 bis 2023 erteilt?
  • Hat das Verfahren 41338/23 vor dem EGMR einen Einfluss auf die weitere Ermächtigung nach Art. 190 Abs. 1 DBG?
  • Unterbleiben bis zum Abschluss des Verfahrens vor EGMR einstweilen weitere Ermächtigungen der ASU zur Führung von besonderen Untersuchungsverfahren?
  • Ist für die Dauer des Verfahrens eine andere Organisation der besonderen Untersuchung nach Art. 190ff DBG vorgesehen?
  • Beabsichtigt die Schweiz eine aussergerichtliche Verständigung mit der Beschwerdeführerin?
  • Welche Bedeutung misst die Schweiz in Steuerstrafverfahren dem Gebot der Unabhängigkeit nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK bei?
  • Wie rechtfertigt die Schweiz die nicht-parteiöffentliche Kommunikation unter konsequenter Ausserachtlassung der Parteirechte (Mitwirkungs-, Teilhabe- und Informationsrechte) der beschuldigten Gesellschaft zwischen der Verwaltungsstrafbehörde ASU und gewöhnlichen Verwaltungseinheiten (z.B. Kant. Steueramt, andere Abteilungen der ESTV und Dritte) vor dem Hintergrund von fair trial und der EMRK-Grundsätze für eine Parteiöffentlichkeit.
  • Im Verfahren der P. Bau AG wurde dieser das sogenannte «letzte Wort» nicht angeboten (Art. 347 StGB). Weshalb wird im Steuerstrafverfahren der beschuldigten Gesellschaft das «letzte Wort» nicht in Beachtung der richterlichen Fürsorgepflicht angeboten?
  • Das Unternehmen P. Bau AG wurde aufgrund eines ASU-Berichts vom 21. August 2017 verurteilt, der gegen eine natürliche Person erstellt wurde. Diese natürliche Person war (zufällig) gleichzeitig Organperson der P. Bau AG. Divergierende Rechtsinteressen von P.  Bau AG und der natürlichen Person können so per se nicht ausgeschlossen werden.
  • Weshalb lässt es die Schweiz zu, dass die beschuldigte Gesellschaft nicht selbständig zur Sache befragt wird?
  • Warum hält in Steuerstrafverfahren die Schweiz am Konzept des Erfolgsstrafrechts im Gegensatz um Schuldstrafrecht fest?

    Wie rechtfertigt die Schweiz die teilweise drakonischen Strafen in Steuerstrafrechtsfällen?

  • Falls der EGMR die Beschwerde 41338/23 gutheisst, welche Folgen sind für die innerstaatliche Kodifikation des Steuerstrafrechts zu erwarten?
  • Welche Veränderungen im Steuerstrafrecht hat die Schweiz unabhängig vom erwähnten Fall geplant?

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