Bagatellfälle: Anzeige nur nach Vorkasse- Neuerungen in der Strafprozessordnung

Die Schweizer Staatsanwaltschaften stöhnen über die Arbeitslast, die ihnen Hasstiraden im Internet bescheren. Am 1. Januar 2024 trat die revidierte Fassung der Strafprozessordnung in Kraft. Eine Änderung darin sieht vor, dass Staatsanwaltschaften bei Ehrverletzungsdelikten vorab eine «Sicherheitsleistung» verlangen können. Freie Bahn für  Hate-Speech?»

1’500 Franken musste ein 35jähriger Mann aus Graubünden bezahlen, damit sich die Staatsanwaltschaft mit seiner Ehrverletzungsanzeige befasste. 20 Minuten berichtete kürzlich über den Bündner, der eine E-Mail mit heftigen Beschimpfungen erhalten hatte. Darin hatte man ihn heftig beleidigt und ihm gewünscht, dass er von einem Tier getötet wird. Er reichte darauf eine Anzeige auf Ehrverletzung und Beschimpfung ein.

Doch statt einer Bestätigung, dass die Staatsanwaltschaft seinen Fall bearbeite, erhielt er zuerst einmal eine briefliche Aufforderung für einen Vorschuss von 1’500 Franken. Andernfalls werde die Anzeige automatisch zurückgezogen. Der 35-Jährige war überrascht. Er sieht in der Vorschusspflicht die Gefahr einer Rechtsungleichheit: «Viele Opfer von Beleidigungen können sich einen solchen Vorschuss nicht leisten.»

Staatsanwaltschaften sind überlastet

Grund für diese Zahlungsaufforderung ist eine Änderung der revidierten Strafprozessordnung, die am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist. Der neue Artikel lautet „Bei Ehrverletzungsdelikten kann die Staatsanwaltschaft von der antragstellenden Person verlangen, dass sie innert einer bestimmten Frist Sicherheit für allfällige Kosten und Entschädigungen leistet. Wird die Sicherheit nicht fristgerecht geleistet, so gilt der Strafantrag als zurückgezogen. Die Staatsanwaltschaften können somit neu bei Ehrverletzungsdelikten eine sogenannte Sicherheitsleistung, eine Art Kaution, verlangen. Als solche Delikte gelten insbesondere Verleumdung, üble Nachrede und Beleidigung.

 Grund für diese Neuerung ist vor allem die starke Zunahme solcher Ehrverletzungsklagen im Internet. Wie das Bundesamt für Statistik zeigt, haben sich diese Fälle zwischen 2009 und 2022 fast verdoppelt. Dies hat zur Folge, dass die Staatsanwaltschaften mit diesen Anzeigen stärker belastet werden. In seiner „Botschaft vom 28. August 2019“ mit dem Titel „Die Strafprozessordnung praxistauglicher machen“ erläutert der Bundesrat die Änderung wie folgt: „Dies aus der Überlegung heraus, dass bei solchen Delikten die Motivation für eine Anzeige oft eher im Wunsch nach persönlicher Vergeltung als in der Tatsache einer Rechtsgutverletzung liegt. Stehen solche Motive für eine Anzeige im Vordergrund, so ist es gerechtfertigt, von der anzeigenden Person einen Kostenvorschuss zu verlangen, bevor der Strafverfolgungsapparat in Gang gesetzt wird“. Bagatelldelikte sollen also durch diese Sicherheitsleistung verhindert werden.

Ermessensspielraum bei der Höhe

Eine solche Sicherheitsleistung kennt das Zivilrecht bereits. RA Martin Steiger (Bild rechts), der bereits 2016 vor einer solchen Änderung gewarnt hat, schreibt dazu: „Die Ehrverletzungsdelikte sind gerade für Opfer von Hatern, Stalkern und Trollen ein wichtiges Mittel, um sich wehren zu können. Viele Opfer können sich ein zivilrechtliches Verfahren vor Gericht nicht leisten und sind daher auf die Strafverfolgung angewiesen.“ Damit sei auch das im Strafrecht ein finanzielles Risiko für die Opfer solcher Straftaten verankert. Dabei handelt es sich um ein Risiko, das direkt vom Staat auf die Beklagten und potenziellen Opfer übertragen wird, denn anders als im Zivilrecht ist im Strafrecht der Staat der Kläger. Verliert er den Prozess, träge er auch die Kosten – neu nun auch der Angeklagte. Die Änderung siehe aber auch vor, dass die Staatsanwaltschaften eine solche Sicherheitsleistung nicht verlangen müssen, sondern nur könne.

Martin Steiger wie auch RA Bernhard Maag weisen jedoch darauf hin, dass die Erfahrung gezeigt habe, dass aus einer solchen „Kann-Regelung“ oft eine „Soll-Regelung“ gemacht werde, von der die Staatsanwaltschaften gerne Gebrauch machen. Zudem seien im Gesetz keine Zahlen für die Festsetzung einer solchen Kaution zu finden, vielmehr hätten die Staatsanwaltschaften einen Ermessensspielraum. Der Kanton Freiburg spricht in seiner Weisung von 300 Franken, die in der Regel als Kaution verlangt werden, im Kanton Zürich sind es 500 Franken, im Fall des Beschuldigten in Graubünden, über den 20 Minuten berichtete, waren es 1‘500 Franken. Teilweise ist eine Ratenzahlung vorgesehen. Das finanzielle Risiko hängt also nicht nur von den Erfolgsaussichten im Einzelfall ab, sondern auch davon, in welchem Kanton die Straftat begangen wurde.

Kritische Stimmen

Bereits vor der Änderung äusserten sich verschiedene Stimmen kritisch. Die Luzerner Zeitung berichtete 2018 über die geplante Änderung und schrieb von einer „absurden und gefährlichen Idee“. Auch die RA Martin Steiger und Maag warnten bereits vor einer solchen Neuerung. Eine scharfe Kritik kam nun vom Verband der demokratischen Juristen und Juristinnen. Leandra Columberg (Bild Mitte), Vorstandsmitglied, sagte gegenüber 20 Minuten: „Wenn die Staatsanwaltschaften nicht die Ressourcen für die Bearbeitung der eingehenden Anzeigen haben, sollen sie die eigenen Strukturen und Prioritäten hinterfragen. Der Zugang zum Recht darf nicht vom Portemonnaie abhängig gemacht werden.“

Im Beobachter meldete sich der Berner Strafrechtsanwalt Michael Steiner (Bild links) zu Wort, der dieser Neuregelung eine Berechtigung einräumt. „Vom Grundsatz her hat die Neuregelung eine gewisse Berechtigung, da die Justiz nicht mit Bagatellen belastet werden soll.» Zu wünschen wären aus seiner Sicht aber klare, einheitliche und überprüfbare Kriterien, wann die Staatsanwaltschaften den Vorschuss verlangen und wann nicht. Seine Kritik zielt auf den Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaften: „Es besteht die Gefahr, dass das System unfair wird“, sagt er gegenüber dem Medium.

Bagatellen?

Interessant ist das Arbeitsverständnis Staatsanwälten, die sich darüber beklagen, dass man sich mit „Nichtigkeiten wie Nachbarschaftsstreitigkeiten“ befassen müsse.  Sind Bagatellfälle also eine Zumutung für Staatsanwälte? Müssen wir also damit rechnen, dass solche Fälle wie jene 98 Prozent der Fälle im Strassenverkehr in Zukunft aus Kostengründen „industriell“ erledigt werden? Nur weil solche Fälle durch gesellschaftliche Entwicklungen massiv zugenommen haben und der Staat nicht in der Lage ist, sich solchen Entwicklungen anzupassen. Es ist doch Kernaufgabe der Staatsanwaltschaft, auch kleine und «lästige» Fälle zu verfolgen. Für die Staatsanwaltschaft mag es eine Bagatelle sein, wenn eine depressive Frau als „Schlampe“ oder ein depressiver Mann im Internet als «Psycho» beschimpft wird. Man kann sich aber vorstellen, was eine solche Erfahrung bei den Betroffenen auslösen kann. Zum einen ist es sehr fraglich, ob durch diese finanzielle Hürde gerade die unbegründeten Klagen verschwinden werden. Wahrscheinlicher ist, dass nur noch diejenigen klagen, die es sich finanziell leisten können. Denn Ehrverletzungsdelikte verursachen kaum Ermittlungsaufwand, da Beleidigungen auf sozialen Medien leicht nachzuweisen sind. Der Ermittlungsaufwand steht also in keinem Verhältnis zu dem, was auf dem Spiel steht: Den ungehinderten Zugang von rund neun Millionen Bewohnern der Schweiz zum Recht.

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