Wie Politiker die Bevölkerung hinters Licht führen

Die Kontroverse um das neue Jugendschutzgesetz JSFVG zieht weitere Kreise. Insbesondere Aussagen von Parlamentariern, die das neue Gesetz verteidigen, ziehen den Umnut von spezialisierten Juristen auf sich. Sie bezichtigen die Parlamentarier mehr oder weniger unverhohlen der Lüge.

Da ist zum Beispiel SP-Nationalrat Matthias Aebischer. Im TAGESANZEIGER von Dienstag hat der ehemalige Tagesschau-Moderator die Kritik an dem neuen Gesetz vollmundig als «Ente» abgetan. Hintergrund war die Kritik des Referendumskomitees, das behauptet, mit dem Gesetz würde eine Ausweispflicht eingeführt, um im Internet Filme z.B. auf Twitter, Facebook oder Youtube sehen zu können.

Diese Aussagen seien «eine offensichtliche Verzweiflungstat, um die notwendigen 50’000 Unterschriften vor Ablauf der Frist zusammenzubekommen», wird Aebischer im TAGESANZEIGER unkritisch zitiert. Und weiter: «Es stimmt nicht, dass wir uns künftig mit dem Pass ausweisen müssen, um uns auf Youtube Filme anzuschauen.».

Vielleicht nicht mit dem Pass, aber dann halt mit einer ID oder zumindest einem amtlichen Ausweis. Zu diesem Schluss kommt eine grosse Zahl von Experten, um nicht zu sagen, eigentlich alle, die sich mit dem Gesetz auseinandergesetzt haben:  Der auf Internet-Fragen spezialisierte Rechtsanwalt Martin Steiger, die Fachjournalistin Adrienne Fiechter oder, wie in diesem Artikel von 20MINUTEN,  die drei Rechtsprofessoren Urs Saxer, Andreas Glaser und Oliver Diggelmann (alle von der Universität Zürich). Der Gesetzestext sei klar, finden sie, und lasse keinen Spielraum.  Tatsächlich steht im Gesetz auch unmissverständlich, dass die Anbieter geeignete Massnahmen treffen müssten, damit Minderjährige vor für sie ungeeigneten Inhalten geschützt werden (in den Absätzen 1 von Artikel 8 und 20 des Gesetzes), und solche Massnahmen mindestens die Einrichtung und den Betrieb eines Systems zur Alterskontrolle vor der erstmaligen Nutzung des Dienstes beinhalten müssten (in den Absätzen 2 von Artikel 8 und Artikel 20).

Aebischers Fake-News

«Krass irreführend» sind damit also wohl weniger die Aussagen des Referendumskomitees, wie Aebischer behauptet, sondern eher seine eigenen. Um nicht deutsch und deutlich zu sagen: Aebischer, der frühere Journalist, verbreitet Fake News. INSIDE-JUSTIZ hat beim Berner SP-Nationalrat nachgefragt und bat ihn um eine Begründung für seine Aussage, es brauche auch weiterhin keine Identifizierung und Alterskontrolle, obwohl doch das Gesetz in den Artikeln 8 Abs. 2 und 20 Abs. 2 eben dies genau verlangt, und zwar noch vor der ersten Nutzung des Dienstes. Aebischer antwortet nicht mit einer Begründung, sondern mit einer neuen Behauptung: «Bei Youtube können alle Inhalte, die für Minderjährige freigegeben sind, heute und auch in Zukunft ohne Login konsumiert werden.» Und weiter: «Das Gesetz schreibt nicht vor, eine Ausweiskopie einzureichen. Die Branche kann das selber regeln.»

Falsch, sagt Internet-Anwalt Martin Steiger zu diesem letzten Punkt: «Bei den Plattformen ist gerade keine ‚Co-Regulierung‘ vorgesehen. Der Bundesrat muss verordnen». Tatsächlich ist von einer Selbstregulierung im Gesetzestext nicht die Rede. Art. 20 Abs. 3 sagt klipp und klar in Bezug auf die System zur Alterskontrolle: «Der Bundesrat regelt die Anforderungen an die Systeme nach Absatz 2.»

Fünfteilige Altersklassen

Aber auch der erste Teil der Aussage von Aebischer ist «krass irreführend», um bei seinem Zitat zu bleiben. In Art. 12 Abs. 2 lit. b verlangt das neue Gesetz, dass ein mindestens fünfstufiges Altersklassifikationssystem geschaffen werden muss. Aebischers Aussage, dass «bei Youtube alle Inhalte, die für Minderjährige freigegegen sind, heute und in Zukunft ohne Login konsumiert werden» können, ist damit widerlegt. Wenn beispielsweise ein Film für 14-jährige freigegeben ist, müsste Youtube mit dem neuen Gesetz sicherstellen, dass keine jüngeren sich diesen Film anschauen können. Und wie anders als mit einem Login sollte Youtube das sicherstellen?

INSIDE-JUSTIZ hat Aebischer mit diesen Widersprüchen konfrontiert und bat um Aufklärung.  Antwort: Keine. Immerhin, auf die konkrete Frage aus unserer ersten E-Mail, wie anders als mit einem amtlichen Ausweis denn eine Altersidentifikation vorgenommen werden könnte, antwortet Aebischer: «Ziffern- und Buchstabenfolgen auf der ID oder dem Pass wären eine Lösung, oder in Zukunft auch die e-ID.» Letzteres ist zweifellos richtig – nur wurde die Einführung der e-ID eben erst in einer Volksabstimmung verworfen. Die Einführung einer solchen steht damit aktuell in den Sternen, eine neue gesetzliche Grundlage müsste erst noch erarbeitet werden.  Und eine Ziffern- oder Buchstabenfolge auf der ID oder dem Pass könnten wohl kaum helfen, ohne dass ein Scan eben dieses amtlichen Ausweises eingeschickt werden müsste. Die Anbieter müssen ja überprüfen können, ob der Ausweis tatsächlich zu derjenigen Person passt, welche die Freigabe verlangt. INSIDE-JUSTIZ bat Aebischer auch in diesem Punkt um Aufklärung, ob das denn eine Lösung wäre, die heute schon zur Verfügung stünde. Antwort wiederum: keine.

Nicht der Einzige

Aebischer ist mit seiner Verwedelungstaktik allerdings nicht der Einzige, der die Bürgerinnen und Bürger hinters Licht führt. Auch der Zuger FDP-Ständerat  Matthias Michel behauptet in der Öffenlichkeit faktenbefreiten Unsinn. Im TAGESANZEIGER befand er die Kritik am neuen Gesetz als «an den Haaren herbeigezogen». Michel war immerhin Sprecher der Kommission, die das Gesetz vorberaten hatte. Man würde deshalb erwarten, dass der Rechtsanwalt sich vertieft mit der Materie befasst hätte. Auch Michel behauptet im TAGESANZEIGER, wie der Jugendschutz technisch umgesetzt würde, stehe noch nicht fest und die Details würden später in einer Verordnung in enger Absprache mit den betroffenen Anbietern festgelegt. Auch das ist, mit Verlaub, schlicht faktenbefreit. Von einer «engen Absprache mit den betroffenen Anbietern» steht kein Wort im Gesetz. Ob Weltkonzerne wie Facebook, Youtube, und Co. sich wirklich mit ein paar Schweizer Beamten an einen Tisch setzen werden, um Details dieser Regeln zu diskutieren?

Im eingangs erwähnten Artikel von 20 Minuten macht Michel weitere brisante Aussagen: «Es gibt heute so viele Möglichkeiten, sich zu identifizeren, das kennen wir alle, wir haben verschiedene Arten von Log-ins.» Echt jetzt? Was Michel offensichtlich nicht versteht: Eine Zweifach-Verifizierung via SMS mag zwar prüfen, ob der User über ein Mobilfunk-Telefon verfügt – an ein bestimmtes Alter ist das allerdings genau so wenig gebunden wie die Eingabe einer Kreditkartennummer, wie INSIDE JUSTIZ bereits vorgestern berichtet hatte. Kein Wunder, akzeptiert beispielsweise bei der Registrierung eines Online-Casinokontos die zuständige Behörde, die Eigenössische Spielbankenkommission ESBK, ausschliesslich den Scan eines amtlichen Ausweises, um das Alter einer Gesuchstellerin oder eines Gesuchstellers zu identifizieren. Der Zuger Ständerat räumt in dem Artikel ein, er sei nicht der Techniker, aber «zuversichtlich, dass es andere Arten der Altersüberprüfung geben müsse als mittels Pass- oder ID-Kontrolle.»

Im Zweifelsfalle: Schwarzen Peter weitergeben

Was die Frage aufwirft, ob Michel als Parlamentarier also Gesetze verabschiedet, über deren konkrete Umsetzung er sich gar keine Gedanken macht? Zuversicht anstelle konkreter Abklärungen und Nachfragen? INSIDE JUSTIZ hat auch bei Michel nachgefragt und ihn um eine Stellungnahme zu den Widersprüchen in seinen Aussagen gebeten. Beispielsweise wollen wir wissen, welche Alternativen zur Alterskontrolle via amtlichen Ausweis es heute denn schon gebe. Eine konkrete Antwort darauf hat Michel nicht, sondern gibt einfach den schwarzen Peter weiter:  «Gestützt auf die Botschaft (des Bundesrates, d. Red.) gingen wir in der Gesetzgebungsarbeit davon aus, dass es mehrere technische Möglichkeiten zur Umsetzung gibt, umso mehr die Branchen die Formulierungen des Gesetzes mitbeeinflusst haben.» Was im Klartext wohl soviel heissen dürfte: Die Lobbying-Organisationen haben halt ihren Job nicht gemacht. Und weiter: «Ausgangspunkt ist das Gesetz: Dieses schreibt weder eine Ausweiskopie noch sonst die genaue Form der Alterskontrolle vor, sondern verlangt von den Anbietern allgemein «die Einrichtung und Betrieb eine Systems zur Alterskontrolle» (Art. 8 und 20).  Das kann, muss aber keine Ausweiskopie sein; denkbar sind Möglichkeiten, wie sie in Zukunft eine E-Identität ermöglicht, das hat der Bundesrat explizit in der Botschaft geschrieben (und das entsprechende  E-ID-Gesetz ist derzeit in Erarbeitung).» 

Nur eben: Zu diesem ist noch nicht einmal die Vernehmlassung ausgewertet, die im letzten Oktober zu Ende ging. Wass das Parlament hätte wissen und deshalb die Schlussabstimmung über das Gesetz am 30. September des letzten Jahres hätte sistieren können, um auf diese technische Umsetzung zu warten. – Immerhin: Über das Inkrafttreten des Gesetzes entscheidet der Bundesrat. Er hätte damit die Möglichkeit, mit der Einführung zuzuwarten, bis die E-Identität vorliegt.

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Ein trauriges Schauspiel

Das Fazit der Recherchen von INSIDE JUSTIZ  ist ernüchternd. Das Parlament hat mit dem neuen Jugendschutzgesetz geschludert. Parlamentarier verschiedener Couleur, die eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung des Gesetzes gespielt haben, führen die Bevölkerung über die Konsequenzen hinters Licht. Und versuchen damit zu vertuschen, welchen Pfusch sie abgeliefert haben. Wenn Journalisten sich nicht einfach mit einer plumpen Behauptung zufriedengeben, sondern nachhaken und Begründungen hören wollen, tauchen die Volksvertreter ab und schieben die Verantwortung auf alle anderen: Bundesrat, Lobbyisten, Branchenorganisationen.

Das zeigt ein erschreckendes Bild: Selber denken ist offenbar nicht angesagt in diesem Parlament. Dabei ist der Komplexitätsgrad des Jugendschutzgesetzes eigentlich recht bescheiden. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie das Parlament komplexere Gesetzgebungsprojekte angehen will, wenn es schon mit einem solchen Gegenstand überfordert ist.

Als einziger Trost bleibt da, dass wenigstens die Erneuerungswahlen nicht mehr weit entfernt sind.