Wie zu erwarten war: EGMR gibt Klimaklage Folge

Wie umständehalber zu erwarten war, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweizerische Eidgenossenschaft gerügt und eine Klage des Vereins KlimaSeniorinnen zumindest teilweise gutgeheissen. Ein Überblick.

Die Entscheidung war von der Grossen Kammer des EGRM in Strasbourg (nicht zu verwechseln mit dem EuGH, dem Europäischen Gerichtshof der EU in Luxemburg) gefällt worden, mit 17 Richterinnen und Richtern. Unter ihnen auch der Schweizer Vertreter am EGMR, der frühere SP-Bundesrichter Andreas Zünd, der bei beiden Rügen gegen die Schweiz stimmte. Mit 16:1 Stimme urteilten die Richter, die Schweiz habe Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Der Artikel besagt:

 

Art. 8: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Mit 17:0 Stimmen entschieden die Richter, die Schweiz habe Artikel 6 Absatz 1 der EMRK verletzt. Der Artikel lautet:

Artikel 6 – Recht auf ein faires Verfahren

(1)

Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen, oder, und zwar unter besonderen Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in dem nach Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang.

Dem Entscheid vorausgegangen war eine Anhörung am 29. März 2023. Zudem waren dem Gerichtshof Stellungnahmen zugegangen von über einem Dutzend Menschenrechts- und Klimaaktivisten-Organisationen, vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte über Greenpeace Deutschland, Oxfam oder dem Sabin Center für Klimawandel-Recht an der US-amerikanischen Columbai Law School. Mit anderen Worten: Mit von der Partie war in etwa das «Who is who» all’ derer, die sich für verschärfte Klimaschutzmassnahmen engagieren und/oder sich der Einbindung des Rechtssystems in die klimaaktivistischen Zielsetzungen verschrieben haben. Stimmen von Organisationen oder Fachleuten, welche vom Mainstream abweichende Meinungen haben, wurden vom EGMR nicht gehört. – Und ja, solche gäbe es, durchaus auch fundierte. Sie werden lediglich in der Debatte ausgeblendet.

Ein Buch von einem Urteil

Das gesamte Urteil umfasst 657 Randziffern und rund 200 Fussnoten, entspricht also einem Buch von rund 400 Seiten. Die Entscheidung des EGMR ist deshalb in der Kürze der bis zur Publikation auch dieser Zeilen schlicht nicht in seiner Vollständigkeit zu umfassen. Die Medienberichterstattung nicht nur von INSIDE JUSTIZ dürfte deshalb in diesen ersten Tagen primär auf den Medienmaterialien des Gerichtshofs basieren, die alleine schon ein Dutzend Seiten ausmachen. Aus dieser Kurzzusammenfassung wird zwar deutlich, dass sich der Gerichtshof primär auf die Vorgaben des IPCC stützt und deren «wissenschaftliche Empfehlungen» als «zwingend» erachtet. Ob der Gerichtshof den Stand der Wissenschaften kontrovers diskutierte oder einfach nur unkritisch den durchaus nicht unumstrittenen Weltklimarates IPCC übernommen hatte. Ebenso ergibt sich aus den Medienmaterialien nicht, ob der Gerichtshof sich bei seiner Einschätzung auch damit befasst hat, dass Regierungen bei Festlegungen von CO2-Reduktionszielen die Verhältnismässigkeit zu wahren und auch weitere Verfassungsziele im Auge zu behalten hat. – Eine Diskussion, die spätestens seit der Corona-Situation auch im Bewusstsein der Justiz angekommen sein sollte. Schon während der Pandemie wurde kontrovers diskutiert, ob verfassungsmässig garantierte Rechte, aber auch softere , sog. «Sozialziele» (wie z.B. den Wohlstand zu mehren) zugunsten eines maximalen Gesundheitsschutzes einfach aufgegeben und vorübergehend ausser Kraft gesetzt werden dürfen. Die gleichen Fragestellungen kommen natürlich beim Ziel der CO2-Reduktion erneut aufs Tapet. Auch hier stehen Klimazielsetzungen teilweise in einem Spannungsfeld zu anderen Zielen des Staates wie wirtschaftlicher Wohlfahrt, Preisstabilität der Währung oder einer hohen Beschäftigung.

Mehrere Fälle zusammengefasst

Das Urteil des EGMR war das erste, das Massnahmen von Regierungen zur CO2-Reduktion zum Thema hatte und findet deshalb auch international viel Beachtung. Zusammen mit dem Schweizer Fall wurden verschiedene weitere diskutiert, so beispielsweise Klagen einer Gruppe von jungen Portugiesen gegen Portugal (und weitere Staaten) oder eine Klage gegen Frankreich. Gegenstand war indes immer die Frage, ob die fraglichen Staaten genug unternehmen würden, um zu versuchen, die Klimaerwärmung zu drosseln.

Erster Punkt: Keine Beschwerdelegitimation der Individualklagen

In einem ersten Punkt urteilte der Gerichtshof, dass alle vorgebrachten Individualklagen die Klagevoraussetzungen nach Art. 34 EMRK nicht erfüllten. Der Artikel verlangt eine Betroffenheit, der EGMR selbst spricht von einer «Opfer-Position». Die Klagenden müssen direkt und persönlich von getroffenen (oder unterlassenen) Massnahmen der staatlichen Autoritäten betroffen sein. Das verneinte der Gerichtshof auch in Bezug auf die vier Einzelklagen, die zusammen mit der Klage des Vereins der KlimaSeniorinnen eingereicht worden waren. Für niemandem der Klagenden wurde der «Opferstatus» akzeptiert – mit anderen Worten: Niemand konnte darlegen, dass die aktuellen Auswirkungen der Klimaerwärmung derart in seine persönlichen Rechtspositionen einwirkten, dass damit eine Klageberechtigung erfüllt wäre.

Fragt sich, wie der Gerichtshof bei einer solchen Sichtweise dann zum Schluss kommen kann, die Klage des Vereins der rund 2000 KlimaSeniorinnen sei dann zuzulassen. Auch hier argumentiert der Gerichtshof nicht mit einer besonderen Betroffenheit durch den Klimawandel, der weit über die Belastungen für die Allgemeinheit hinausgehen würden. Die KlimaSeniorinnen hatten nämlich argumentiert, als Frauen über 75 seien sie übermässig vom Klimawandel betroffen. Die Wissenschaft könne belegen, dass z.B. die Sterblichkeit von Ü75-Frauen bei Hitzewellen besonders ausgeprägt sei.

Populärbeschwerden: Ausgeschlossen, ausser der Gerichtshof akzeptiert sie doch

Diese Argumentation machte sich der Gerichtshof allerdings nicht zu eigen, sondern befand, im Gegensatz zu den Individuen hätte der klagende Verein der KlimaSeniorinnen das Recht, «im Namen derjenigen Personen, die betroffen seien von den nachteiligen Auswirkungen oder Bedrohungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen und ihre Lebensqualität und die durch die EMRK geschützt seien, Klage zu erheben.» Solche Populärbeschwerden sind eigentlich ausgeschlossen und widersprechen den Rechtsbehelfen der Konvention. Das hält der Gerichtshof auch selbst fest, findet dann aber: «Der Klimawandel ist eine gemeinsame Belastung der Menschheit und es ist notwendig, die Lastenteilung zwischen den Generationen zu fördern.»

Ein Punkt, der unter Juristen noch hitzige Debaten ergeben dürfte, verletzt der Gerichtshof damit doch selbst die Regeln der Konvention. Nicht eben das, was man von einem Gericht erwartet, das der Durchsetzung von rechtsstaatlichen Regeln verpflichtet sein sollte.

Zu den materiellen Punkten: Unzureichende CO2-Massnahmen

Bezogen auf die unzureichenden Klimaschutzmassnahmen hält der Gerichtshof zunächst fest, «dass es hinreichend verlässliche Anhaltspunkte dafür gibt, dass der anthropogene Klimawandel existiert, dass er eine ernste gegenwärtige und künftige Bedrohung für die Ausübung der durch die Konvention garantierten Menschenrechte darstellt, dass die Staaten sich dessen bewusst und in der Lage sind, Massnahmen zu ergreifen, um dem wirksam zu begegnen, dass die entsprechenden Risiken voraussichtlich geringer sind, wenn der Temperaturanstieg auf 1,5 C über dem vorindustriellen Niveau begrenzt wird und wenn dringend Maßnahmen ergriffen werden. Die bislang weltweit ergriffenen Massnahmen würden zudem nicht ausreichen, findet der EGMR.

Und weiter: «In Bezug auf die Beschwerde des klagenden Verbandes in Bezug auf die Schweiz stellte der Gerichtshof fest, dass es kritische Lücken im Prozess der Einführung des relevanten nationalen Regelungsrahmens gab, einschliesslich des Versäumnisses der Schweizer Behörden, durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise die nationalen Treibhausgasemissionsgrenzen zu quantifizieren. Ausserdem stellte der Gerichtshof fest, dass die Schweiz in der Vergangenheit ihre Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht hat. Die Schweizer Behörden hatten nicht rechtzeitig und in geeigneter Weise gehandelt, um die entsprechenden Gesetze und Massnahmen zu entwickeln und umzusetzen.»

Widersprüche in der Argumentation

Auch dieser Punkt erscheint kritisch. Der Gerichtshof spricht explizit davon, dass die Staaten die Verpflichtung hätten, sich auf ein Netto-Null-CO2 Niveau zu begeben und das in den nächsten 30 Jahren. Gleichzeitig kritisiert der Gerichtshof die Schweiz dafür, dass sie zu wenig unternehme, obwohl die Frist von drei Jahrzehnten, welche der Gerichtshof eben noch höchst selbst gesetzt hatte, noch längst nicht abgelaufen ist. Auch dieser Punkte dürfte nicht nur unter Juristen, sondern auch unter Politikern nurmehr Kopfschütteln auslösen.

Fehlender Zugang zum Gericht

Die zweite Rüge an die Schweiz betraf den eher formaljuristischen Aspekt der Verletzung von Art. 8 EMRK. Dieser (siehe oben) verlangt von den Vertragsstaaten, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zum Gericht und eine gerichtliche Beurteilung gewähren. Vorliegend waren die Instanzen, vom UVEK über das Bundesverwaltungsgericht bis zum Bundesgericht gar nie auf die materiellen Anträge der KlimaSeniorinnen eingetreten, weil sie dem Verein die Klagelegitimation absprachen. Der Gerichtshof hält dazu nun fest, dass dem Verein – anders als den Individuen – der Opferstatus zuerkannt werde. «Die nationalen Gerichte haben keine überzeugenden Gründe dafür angegeben, warum sie es nicht für nötig hielten, die Begründetheit der Beschwerden zu prüfen. Weil dem Verein keine anderen juristischen Mittel zur Verfügung gestanden hatten, habe die Schweiz Art. 6 der Konvention verletzt.

Welche Folgen hat das Urteil

Interessant wird sein, welche Konsequenzen der Richterspruch des EGMR haben wird. In Bezug auf die tatsächlichen Massnahmen zur CO2-Verminderung dürfte das Urteil wenig bewirken. Klimapolitik wird nach wie vor von der Politik gemacht und letztlich vom Volk. Für die bürgerliche Mehrheit dürfte der Strassburger Richterspruch mehr ein Ärgernis als eine Motivation sein, die Klimaziele zu verschärfen. Problematischer dürfte die Rüge in Bezug auf die Rechtsweggarantien sein. Hier öffnet der EGMR einer ganzen Beschwerdeindustrie Tür und Tor, indem er mit dem heutigen Urteil quasi Verbandsbeschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen ermöglicht – und dass ein solches auf Klimafragen beschränkt bleiben soll, dürfte schon mittelfristig kaum haltbar sein.

Die Links zu dem Fall:

Urteil (html und als pdf) (Downloadseite des EGMR)

Medienmitteilung zum Urteil (in englischer Sprache, deutsch nicht vorhanden)

Q&A (Questions & Answers) zu den verschiedenen Klimafällen von heute

 Artikel von INSIDE JUSTIZ zum Instanzenzug in der Schweiz

 

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