Brünig Lodge – Wie ein Bauverfahren ein Leben zerstörte

Ein Baugesuch, drei Verfahren, 24 Verfügungen – vier Jahre später steht ein Unternehmer am finanziellen Abgrund. Seine Brünig Lodge musste verkauft werden, seine Existenz ist zerstört. Was mit einem bürokratischen Detail begann, entwickelte sich zur Existenzfrage: Jetzt droht eine Millionenklage gegen den Kanton Bern. Im Zentrum der Kritik stehen Regierungsstatthalter Martin Künzi, das Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR) und die Gemeinde Meiringen – sowie die Frage, wie weit Behördenentscheidungen gehen dürfen, bevor sie rechtlichen und wirtschaftlichen Schaden verursachen. Dies ist Teil 1 unserer Serie über den Berner Bauskandal.

Im Jahr 2018 plante der Meiringer Unternehmer Ruben E. Anderegg, sein altes Personalhaus auf dem Brünigpass zu einer touristischen Unterkunft umzufunktionieren – so wie es im Berner Oberland, auch in der Landwirtschaftszone (Stichwort: Alphütten), hunderte Male legal praktiziert wird – und diese innovativ, modern, digital und ohne vor Ort stationiertes Personal über Plattformen wie Airbnb zu betreiben. Dieses an sich nicht ungewöhnliche Vorhaben stiess von Anfang an auf Widerstände beim Tourismus- und Hotelierverein, bei der Infrastrukturkommission, im Gemeinderat und in der Bauverwaltung der Gemeinde Meiringen. Die Folgen waren mehrere Jahre Rechtsstreit, verzögerte Verfahren und zunehmende Konflikte.

Ein Projekt auf Abwegen – und ein Verwaltungsprozess, der eskalierte

Insgesamt wurde die Brünig Lodge fünfmal dazu gedrängt, ihr gemäss Art. 2 BauG/BE und Art. 24c RPG bereits bewilligungsfähiges Baugesuch wieder zu ändern. Dies führte dazu, dass Anderegg drei in ihren Grundzügen identische Baugesuche (Art. 43 Abs. 1BewD) einreichen musste, über die das Regierungsstatthalteramt Interlaken-Oberhasli unter der Leitung von Martin Künzi insgesamt 24 Verfügungen erliess. Nach der Ablehnung der Gesuche baute Anderegg dennoch weiter und eröffnete die Unterkunft – was die Behörden zur Versiegelung der Anlage und zu einer Strafanzeige mit einer Busse von rund 35’000 Franken für Anderegg veranlasste. Ein vergleichbares Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern mit der Verfahrensnummer 100.2020.128U, in welches dasselbe Statthalteramt unter der Leitung von Martin Künzi involviert war, zeigt allerdings, dass ein Anrecht auf eine nachträgliche Ausnahmebewilligung im Sinne von Art. 24c RPG besteht, selbst bei einem Umbau und einer Nutzung des Gebäudes ohne Baubewilligung. Dem Gesuchsteller und somit der Brünig Lodge ist demnach kaum etwas vorzuwerfen, was das Recht auf eine zeitgemässe Ausstellung der Ausnahmebewilligung nach Art. 24c RPG beschränkt hätte.

Nach vierjährigem Ringen erhielt Anderegg schliesslich die Baubewilligung der Bau- und Verkehrsdirektion des Kantons Bern für Zimmer ohne Frühstück – wie es bereits beim ersten Baugesuch im Jahr 2018 eingegeben wurde. Doch zu diesem Zeitpunkt war der wirtschaftliche Schaden bereits eingetreten. Die Hypothek konnte nicht mehr bedient werden, die Brünig Lodge musste verkauft werden und Anderegg verlor nicht nur seinen Betrieb, sondern auch einen erheblichen Teil seines übrigen Vermögens.

Juristische Kritik – Dauer, Neutralität, Kompetenzen

Der auf Baurecht spezialisierte Rechtsanwalt Dr. David Inauen bezeichnete das viereinhalbjährige Verfahren in einem Beitrag des Kassensturzes als unverhältnismässig lang für ein Projekt, das im Kern eine einfache Umnutzung innerhalb eines bestehenden Gebäudes betraf und das an der Grenze zur Baubewilligungspflicht lag. Noch weitreichender ist seine Kritik an der Rolle des Regierungsstatthalters Martin Künzi (das Portrait über Martin Künzi finden Sie in der zweiten Folge unserer Brünig-Serie). Dieser habe baupolizeiliche Aufgaben übernommen, womit er seine Kompetenzen überschritten habe. Diese Aufgaben wären formal der Gemeinde zuzurechnen. Zudem habe Künzi bei einem informellen Augenschein ohne klare verfahrensrechtliche Grundlage ein Protokoll erstellt. Dies deute auf Schwächen in der Neutralität und Verfahrenspraxis hin.

Selbst der Regierungsrat des Kantons Bern hat in seiner Antwort auf die Petition bezüglich des Alphüttli-Skandals in Grindelwald in den Schreiben vom 9. Juni 2021 und 15.Dezember 2022 behördenverbindlich festgehalten, dass die baupolizeilichen Aufgaben gemäss Art. 45 Baugesetz Sache der zuständigen Gemeindebehörde sind. Über den Skandal berichteten unter anderem die Sendung Rundschau,”, die Zeitungen Blick und BZ sowie Inside-Justitz, dass die baupolizeilichen Aufgaben gem. Art. 45 Baugesetz, Sache der zuständigen Gemeindebehörde ist. Selbst der Statthalter Martin Künzi hat in seiner Medienmitteilung vom 29. April 2022 festgehalten: «Umnutzung und Ausbau von Alphütten: Es besteht kein aufsichtsrechtlicher Handlungsbedarf»

Die angeblichen Baubewilligungen der umstrittenen Alphütten wurden schlussendlich von der Gemeinde und nicht vom Statthalteramt erteilt. Sowohl die Brünig Lodge als auch die Alphütten befinden sich in der Landwirtschaftszone. Das Raumplanungsgesetz unterscheidet nicht zwischen Grindelwald und Meiringen und muss in der ganzen Schweiz einheitlich angewendet werden. Dr. David Inauen hat es im Kassensturz-Beitrag auf den Punkt gebracht «Der Statthalter Martin Künzi hat im Fall Brünig Lodge die verfassungsgesetzlich vorgeschriebene Neutralität missen lassen, offensichtlich hatte er Herrn Anderegg auf dem Kieker»

Dass Behörden in komplexen Fällen verschiedene Zuständigkeiten (Baupolizei, Baubewilligungsverfahren, Strafverfahren) berücksichtigen müssen, ist unbestritten. Die Kritik zielt jedoch auf die Verzahnung dieser Kompetenzen und die Frage, ob der Entscheidungsweg stets den rechtlichen Garantien des Verwaltungsrechts folgte.

Die Sicht des Regierungsstatthalters: Recht, Vorschrift, Verfahrenskomplexität

Martin Künzi weist die Vorwürfe entschieden zurück. Er betont, dass es nicht um Willkür gehe, sondern um die Anwendung bestehender gesetzlicher Vorschriften und die Pflicht, als Aufsichtsbehörde über die Gemeindebaupolizei gehe. Auf der Plattform J argumentiert Künzi, es habe sich um drei separate Baubewilligungsverfahren gehandelt, die jeweils ihre eigene Dauer hatten und zum grössten Teil durch die Vorgehensweise der Bauherrschaft verzögert worden seien.

Nach seiner Darstellung hätten verschiedene Instanzen – Gemeinde, Regierungsstatthalteramt und das für raumplanerische Entscheide zuständige Amt für Gemeinden und Raumordnung (AGR) – jeweils auf der Grundlage verbindlicher Vorschriften gehandelt. Die nachträgliche Bewilligung des Projektes durch die Baudirektion des Kantons Bern verteidigt Künzi als rechtliche Bewertung innerhalb der gesetzlichen Vorgaben. Diese widerlege jedoch nicht, dass die Behörden sämtlich im Rahmen des einschlägigen Rechts gehandelt hätten.

Andereggs Perspektive ist eine andere: Zahlreiche Beschwerden und die jahrelange Auseinandersetzung hätten nicht nur den Betrieb zerstört, sondern ihn auch gezwungen, sein Familienhaus zu verkaufen, um den langjährigen Rechtskampf zu finanzieren. Im Nachgang spricht er von einem Gefühl der „systematischen Drangsalierung“ durch die Behörden, die ihn lange Zeit in einer rechtlichen Grauzone gehalten hätten, bevor eine abschliessende Entscheidung fiel.

Titelbild: Das Streitobjekt, die Brünig Lodge in Meiringen.  

(Bild oben links) Noch bis Ende Jahr Regierungsstatthalter, Martin Künzi, (Bild oben rechts) Geschädigter Meiringer Unternehmer Ruben E. Anderegg.

Die juristische Eskalation

Am gravierendsten an diesem Fall ist nicht mehr die Baubewilligung selbst, sondern die rechtliche Eskalation in Richtung Staatshaftung. Ruben Anderegg prüft ein Staatshaftungsgesuch nach Artikel 100 ff. des bernischen Personalgesetzes. Dieses Gesuch richtet sich gegen den Kanton Bern als Träger der Aufsicht über das Regierungsstatthalteramt. Der erste Schritt führt dabei zwingend über ein formelles Staatshaftungsgesuch beim zuständigen Departement für Inneres und Justiz. Dieses Gesuch mündet in eine Verfügung. Die Verfahrenskosten belaufen sich auf rund 500 Franken. Erst bei einer ablehnenden Verfügung ist der Weg an das Verwaltungsgericht offen. Dort kann eine Beschwerde eingereicht und die Haftungsfrage gerichtlich geklärt werden. Anderegg beziffert den möglichen Schaden gemäss eigenen Angaben auf mehrere Millionen Franken. Der Ablauf ist wenig bekannt, da das einschlägige Merkblatt MB5 «Staatshaftung» schwer auffindbar ist und in der Praxis selten transparent kommuniziert wird. Dadurch entsteht der Eindruck, der Gang direkt vor Gericht sei möglich, obwohl das Gesetz einen klar gestuften Verfahrensweg vorgibt.

Das ist juristisch alles andere als trivial: Für die Staatshaftung mit Schadenersatzforderung gilt Folgendes: Es bedarf einer haftungsbegründenden (qualifizierten) Widerrechtlichkeit, eines nachweisbaren Schadens, einer Kausalität, eines Haftungssubjekts und einer Billigkeitshaftung (Art. 100 Abs. 2 PC/BE). Ein Urteil in dieser Sache wäre kein Einzelfall, sondern könnte staatliche Haftungsfragen im Bau- und Verwaltungsrecht grundsätzlich verändern – mit Folgen für Bauherren, Behörden und politische Kontrollinstanzen gleichermassen.

Staatshaftungsrecht 

Das schweizerische Staatshaftungsrecht ist ein komplexes, föderalistisches System. Es regelt die Haftung von Bund und Kantonen für Schäden, die durch staatliche Organe bei der Ausübung öffentlicher Aufgaben entstehen. Die Haftung basiert auf den Grundsätzen der Amtshaftung (Fehlerhaftigkeit, Rechtswidrigkeit, Schaden) sowie auf spezialgesetzlichen Regelungen. Es existieren unterschiedliche Verfahren (verwaltungsrechtlich und zivilrechtlich) und ein Rückgriff auf Beamte ist möglich. Das Staatshaftungsrecht ist durch kantonale Eigenständigkeit geprägt, unterliegt aber auch Bundesgesetzen wie dem Bundesgesetz über die Amtshaftung (AmtHaftG).

Zwischen Recht und Realität – ein Skandal oder Systemversagen?

Der Brünig-Lodge-Fall ist kein juristisches Nischenphänomen. Er zeigt, wie verwaltungsrechtliche Verfahren, unterschiedlich gewichtete Behördenentscheidungen und langwierige Abläufe existenzielle Risiken für einzelne Betroffene schaffen können. Und er wirft drängende Fragen auf:

  • Wie viel Ermessensspielraum dürfen Behörden haben, bevor ein Verfahren rechtsstaatlich fragwürdig, widerrechtlich und willkürlich wird? Dabei muss zwischen Ermessensmissbrauch und Ermessensüberschreitung unterschieden werden.
  • Die Leitplanken des Ermessensspielraum sind gemäss BGE die klaren gesetzlichen Vorschriften, übergeordnetes Recht, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesgerichts.
  • Wo endet legitime Rechtsanwendung und beginnt strukturelles Versagen im Verwaltungsvollzug?
  • Und welche Rolle spielt eine mögliche staatliche Haftung für wirtschaftlichen Schaden, der durch staatliches Handeln verursacht wurde?

Wenn ein Unternehmer am Ende Millionen gegen den Kanton prüft, ist das nicht nur ein persönlicher Konflikt, sondern eine Gesamtschau des Verhältnis zwischen Staat, Recht und wirtschaftlicher Existenz in der Schweiz.

Wenn Recht die Realität zerstört

Am Ende dieses langwierigen Verwaltungsstreits steht nicht nur ein rechtlich umstrittener Entscheid, sondern auch ein durch das durch das System erheblich beschädigtes Leben. Der Unternehmer Ruben Anderegg hat nachweislich nicht nur seine Brünig Lodge verloren, sondern musste auch Teile seines übrigen Vermögens und sein Familienhaus verkaufen, um den Rechtskampf aufrecht erhalten zu können.

Bis heute kämpft er um sein Geld und seinen Ruf. Anderegg selbst beschreibt seinen Weg als jahrelange Drangsalierung und psychische Belastung, die weit über routinemässige Auseinandersetzungen hinausgeht und ihn an «sehr düstere Orte» geführt habe.

Was in juristischen Begriffen oft abstrakt klingt — Zuständigkeitsfragen, Verfahrensdauer, Kompetenzabgrenzungen — hatte für ihn direkte, existenzielle Folgen. Ohne die jahrelange Verzögerung hätte das Projekt vermutlich regulär starten und die Lodge wirtschaftlich betrieben werden können. Stattdessen bedeutete der Konflikt mit der Verwaltung für ihn finanzielle Vernichtung und sozialen Druck, der seine private und berufliche Existenz über Jahre hinweg belastet hat.

Und auch wenn der Regierungsstatthalter Martin Künzi die Vorwürfe vehement zurückweist — er betont wiederholt, dass er gesetzlich gebunden gehandelt habe, obwohl die BVD seine Verfügungen (und die des AGR), wegen (qualifizierter) widerrechtlicher Verletzung von Art. 2 BauG und Art. 24c RPG verletzt, somit die Kompetenzüberschreitung aufgehoben hat und die Entscheidungen landesrechtlich gerechtfertigt seien, auch wenn sie im Detail von verschiedenen Instanzen unterschiedlich bewertet wurden — bleibt für viele Beobachter ein Schattendiskurs über Neutralität, Verhältnismässigkeit und Behördenmacht bestehen. In der Sendung KASSENSTURZ wurde ausdrücklich kritisiert, dass Künzi in mehreren Punkten seine Kompetenzen überschritten habe, was Willkür (Art. 9 BV) ist, und Verfahrensschritte unzulässig in seine Entscheide einflossen; diese Kritik wurde öffentlich breit diskutiert.

Für Anderegg ist klar: Sein Projekt war keine juristische Spielerei, sondern eine wirtschaftliche Vision, die durch das Behördenhandeln zerstört wurde — und die jetzt in Form eines Staatshaftungsgesuch nach Art. 100 ff. PG/BE in Millionenhöhe gegen den Kanton Bern weitergetragen wird. Dieses Staathaftungsgesuch steht für eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, ob staatliches Handeln auch dann haftbar gemacht werden kann, wenn es formalrechtlich zulässig erscheint, aber faktisch existenzielle Schäden verursacht.

Die Abwahl Künzis und die Besetzung des Amts des Regierungsstatthalters mit einer anderen Person in der kommenden Legislaturperiode wird von einigen Beobachtern als politisches Echo auf die anhaltende Kritik am Brünig-Fall interpretiert. Zugleich zeigt sich hier, wie indirekt politische Kontrolle oft bleibt, wenn strukturelle Probleme in Verwaltungsverfahren sichtbar werden. Zurück bleibt die Belastung für Anderegg und für den Kanton Bern selbst, der nicht nur mit einem juristischen Präzedenzfall konfrontiert wird, sondern im Falle eines Erfolgs der Schadenersatzforderung auch mit finanziellen Belastungen in Millionenhöhe.  

Am Ende dieser Geschichte stehen somit nicht nur Zuständigkeiten oder bürokratische Hürden, sondern die Frage der Verantwortung eines Rechtsstaates für die Menschen, die in ihm stehen und fallen — und wie weit ein System gehen darf, bevor es selbst existenzielle Schäden verursacht, um formale Rechtmässigkeit zu behaupten.

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