Die Gaga-Maut

Das Parlament behandelt in der Sondersession vom Mai verschiedene Vorstösse zur Situation am Gotthard. Dabei soll auch die Idee einer dynamischen Maut am Gotthard diskutiert werden, schrieb 20minuten.ch letzte Woche. Die Vorlage, die auf einen Vorstoss des Urner Mitte-Nationalrates Simon Stadler stehe «vor dem Durchbruch». Was 20 Minuten nicht schreibt: Die Idee widerspricht dem Völkerrecht und ist verfassungsrechtlich problematisch.

Eine «variable Maut für den Nord-Süd-Transit» schwebe dem Urner Nationalrat Stadler vor, schrieb 20minuten.ch. Je nach Verkehrsaufkommen soll sie unterschiedlich hoch auffallen, vielleicht sogar ganz wegfallen, wenn es keinen Stau gebe. Für Einheimische soll die Durchfahrt kostenlos bleiben – oder sie sollen massive Vergünstigungen erhalten.

Viel Gegenwind wegen juristischer Bedenken: Simon Stadler, Urner Mitte-Nationalrat: (Foto Parlamentsdienste)

Hürde 1: Verstoss gegen Landverkehrsabkommen

Bei den Leserbriefschreibern kommt die Idee erwartungsgemäss gut an, z.B. von den Deutschen und den Holländern am Gotthard eine Maut zu verlangen. Was weder sie noch Mitte-Nationalrat Stadler bedenken: Die Rechtslage verbietet ihre Idee. Und zwar gleich mehrfach.

Da ist zunächst das Landverkehrsabkommen der Schweiz mit der EU. Dieser Vertrag ist eines der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Union und regelt den Güter- und Personenverkehr auf der Strasse und der Schiene. Der Vertragstext sagt schon in Art. 1 Abs. 3 explizit: «Die Vertragsparteien verpflichten sich, im Rahmen der Anwendung dieses Abkommens keine diskriminierenden Massnahmen zu ergreifen.» Ein Text, der schwer mit einer Abgabe in Einklang zu bringen ist, die nur Ausländer bezahlen sollen.

Dass auch allerlei Modelle von Rückerstattungen oder Verrechnungen mit der Motorfahrzeugsteuer für Inländer nach EU-Recht nicht funktionieren, hatte vor Jahren der damalige deutsche Verkehrsminister Andreas Scheuer (CDU) erfahren müssen. Die von ihm bereits für viele Millionen Euro aufgegleiste Einführung einer Maut auf der deutschen Autobahn, die den Deutschen hätte zurückerstattet werden sollen, wurde im Juni 2019 vom Europäischen Gerichtshof als diskriminierend eingestuft. Ausser Spesen, nix gewesen, hiess es damals für Scheuer. Und seine politische Karriere war genauso tot wie die Idee der Autobahnmaut in Deutschland.

Nun mag man einwenden, dass der Europäische Gerichtshof kein unmittelbares Durchgriffsrecht auf die Schweiz habe. Ob es dann allerdings ein kluger politischer Zug wäre, ausgerechnet in der aktuellen Situation die Europäische Union mit einer Gotthard-Maut zu provozieren, ist eine andere Frage. Zumal Bayern und Österreich schon lange monieren, dass wegen der Schwerverkehrsabgabe der Schweiz auf der Brennerroute viel zu viel Ausweichverkehr herrsche. – Weil die Lastwagen auf der Brenner-Route günstiger fahren als durch die Schweiz.

Die Behauptung mit den Einheimischen-Tarifen

20minuten.ch behauptet in seiner Berichterstattung, Österreich könnte mit seinen Einheimischen-Tarifen und «gewissen Rabatten» ein Vorbild für die Schweiz sein. Stadler will den Ball dem Bundesamt für Strassenverkehr ASTRA zuspielen und lässt sich zitieren: «Es gibt die Möglichkeit einer Green Card, einer Mehrfahrtenkarte oder einer Rückvergütung.» Dass letzteres wie oben gezeigt gegen EU-Recht verstösst, scheint Stadler nicht bedacht zu haben –eine entsprechende E-Mail-Anfrage von INSIDE JUSTIZ liess der CVP-Nationalrat unbeantwortet.
Die Mehrfahrtenkarte für Anrainer existiert in Österreich tatsächlich und kostet EUR 12 für 6 Fahrten, danebst gibt es für Anrainer auch eine Jahresvignette für EUR 66. Als Anrainer-Gemeinden gelten allerdings lediglich achtzehn Gemeinden in unmittelbarer Umgebung. Die Anrainer-Karten dürfen zudem nur für Privatfahrten verwendet werden – nicht von Firmen, denn das würde zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Die Einheimischen-Vergünstigungen sind zudem unter stetem Druck der EU, die Verbilligungen für Einheimische als Diskriminierung sieht – so mussten beispielsweise die Einheimischen-Tarife der Bergbahnbetreiber abgeschafft werden.

Auf die Situation in der Schweiz umgemünzt: Wo sollte die Grenze für die Einheimischen-Tarife gezogen werden? Sollten alle Urnerinnen und Urner davon profitieren? Das wären rund 38’000 Personen – vergleichbar mit Österreich, wo rund 33’000 Menschen von den Anrainer-Tarifen profitieren. Aber was ist mit dem Tessin? Wären dann alle 350’000 Tessinerinnen und Tessiner Anrainer? Chiasso, der südlichste Zipfel des Tessins, ist immerhin mehr als eine Stunde von Airolo entfernt. Fast wie Zürich von Göschenen. Klar ist: Soweit kann der Kreis der Anrainer nicht gezogen werden. Aber wo zieht man die Grenze? Auch darauf hat Nationalrat Stadler keine Antwort – zumindest liess er INSIDE JUSTIZ keine zukommen. Vielleicht, weil es keine vernünftige Antwort darauf gibt und jede Festlegung die Einwohnerinnen und Einwohner des nächsten Dorfes, das nicht mehr zu den Anrainern zählt, verfassungswidrig diskriminieren würde.

Hürde 2: Bundesverfassung

Auch ob die Schweizer Bundesverfassung eine Gotthard-Maut überhaupt zulassen würde, ist umstritten. Der Bundesrat zum Beispiel will mit Verweis auf die Verfassung keine Maut einführen. Die Bundesverfassung hält in Art. 82 Abs. 3 wörtlich fest: «Die Benützung öffentlicher Strassen ist gebührenfrei.» Allerdings ergänzt um den Nachsatz: «Die Bundesversammlung kann Ausnahmen bewilligen.» Und solche gibt es tatsächlich: Sowohl für die Benützung des Grossen St. Bernhard-Tunnels wie auch des Munt-La-Schera-Tunnels hat das Parlament entsprechende Ausnahmen durchgewunken.

Verschiedene politische Kreise befürchten allerdings, dass ein Entscheid für eine Maut am Gotthard auch in anderen Kreisen Gelüste wecken könnte. Das wird beispielsweise von vielen Exponenten der SVP abgelehnt – sogar im betroffenen Kanton Uri.

Die Präsidentin der Urner SVP-Kantonalpartei, Claudia Brunner, sieht die aktuelle Debatte kritisch: «Es erscheint mir klar, dass die Bündner dann selbstverständlich am San Bernardino auf Gegenrecht pochen – nur schon, weil sie sonst den ganzen Umfahrungsverkehr hätten. Als nächstes kommen dann die Zürcher, die vor dem Gubristtunnel wesentlich mehr Staustunden haben als wir am Gotthard, und wollen ebenfalls Geld sehen. Es ist ein Fass ohne Boden und wird uns am Ende einfach mehr Abgaben an den Staat bescheren.» – Und die «Ausnahme», welche die Bundesverfassung vorsieht, würde zur Regel.

Zudem: Um bei einer Tunnel-Maut das Ausweichen auf den Gotthardpass zu verhindern, müsste wohl auch die Passstrasse mautpflichtig werden – bisher ein Tabu in der Schweiz. Mautgebühren für ganz normale Strassenabschnitte gibt es schlicht nirgends. «Viele Urnerinnen und Urner können mit dem Gotthardstau auf der Autobahn an den paar wenigen neuralgischen Tagen leben. Viel wichtiger ist uns, dass die parallel verlaufende Kantonsstrasse frei bleibt», sagt Brunner. Und verweist darauf, dass schon hilfreich ist, wenn die Autobahn-einfahrten südlich von Altdorf bei Stau gesperrt werden und unten im Tal klar signalisiert wird, dass es über die Kantonsstrasse keinen Zugang zum Gotthard gibt.

Sieht Maut als wenig realistisch an: SVP-Kantonalpräsidentin Claudia Brunner.

Kann eine Maut wirklich den Verkehr reduzieren?

Brunner ist auch skeptisch, ob eine Gotthard-Maut tatsächlich den Verkehr reduzieren würde: «Es mag sein, dass andere Nationen preissensibler sind. Aber wer über Ostern oder Pfingsten in den Süden fährt, lässt sich doch auch von einer Maut nicht abschrecken.» Naja, kommt natürlich auf den Preis an.
Wie hoch die Maut überhaupt ausfallen könnte – gerade eine dynamische, dazu gibt es keine Informationen. Es geistern Zahlen von CHF 20 bis CHF 100 herum, festlegen mag’ sich aber niemand. Am Brenner kostet eine Einzelfahrt zurzeit EUR 12, am Mont Blanc CHF 30.00. Wird die dynamische Maut aber teurer, könnte die Gebühr zum Bumerang werden, insbesondere für diejenigen, die geschäftlich vom Norden in den Süden oder umgekehrt reisen müssen und sich den Zeitpunkt nicht einfach aussuchen können.
Entweder ist die Maut im Gesamtbudget für die Ferien unbedeutend – oder sonst so teuer, dass sei zu einer Belastung für die Einheimischen wird. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Urnerinnen und Urner eine Maut begrüssen, wenn sie selbst sie auch bezahlen müssten», sagt Claudia Brunner.
Auch das Argument, dass sich die Blechlawine besser verteilen würde, sieht sie kritisch: «Vielleicht beim Sommerreiseverkehr. Aber für die Oster- und Pfingstfeiertage bringt das nichts. Wer erst ab Gründonnerstag frei hat, kann halt beim besten Willen nicht schon am Montag losfahren.»

Kaum belastbare Studien

Wie die Preis-Elastizität einer solchen dynamischen Maut tatsächlich aussähe, darüber kann nur spekuliert werden. Ein SRF-Artikel aus dem Juni 2023 listet verschiedene Studien auf, deren Aussagekraft allerdings begrenzt ist. Was man aus einer Astra-Studie von 2014 weiss: Um die Betriebs- und Sanierungskosten des Gotthard-Strassentunnels zu decken, wäre eine Gebühr von CHF 21 nötig. Erfahrungen mit dynamischen Tunnel-Mautgebühren gibt es nicht.
SRF verweist auf die Versuche mit dynamischem Road-Pricing in Städten und Ballungszentren, die tatsächlich zu einer Reduktion des Verkehrs geführt hatten. Nur: Der Vergleich hinkt gewaltig, denn in ein Stadtzentrum hineinzufahren ist unter vielen Aspekten eine ganz andere Sache, als einen Tunnel auf der Nordsüd-Achse zu durchqueren. Das Bundesamt für Strassen ASTRA stellte 2019 fest, dass 78% der Fahrten durch den Gotthard den Freizeitverkehr betreffen und die Zahlungsbereitschaft dieser Freizeitfahrer grundsätzlich tiefer sei als die der Berufspendler oder der Nutzfahrer. Nur: Was das für eine dynamische Maut konkret bedeuten könnte, bleibt vorerst reine Spekulation.

Fazit

Wie die verschiedensten Perspektiven zeigen, ist die Sache mit einer dynamischen Maut so einfach nicht. Nur schon aus juristischen Gründen, die politische Dimension der Tessiner, die durch eine solche Massnahme quasi von der Restschweiz abgehängt würden, noch gar nicht berücksichtigt. Das Parlament wäre also gut beraten, «kurz vor dem Durchbruch» einer dynamischen Maut den Motor zu drosseln und das Gehirn einzuschalten.

Titelbild: Streenshot SRF

Update: Nationalrat will keine dynamische Maut

Der Nationalrat hat am Dienstag entschieden, dass zur Entlastung vor dem Ausweichverkehr auf der Nord-Südachse die betroffenen Kantone die Möglichkeit erhalten sollen, gewisse Strassenabschnitte bei Bedarf vorübergehend zu sperren. Der Rat hat am Dienstag eine entsprchende Motion mit 101 zu 92 Stimmen bei einer Enthaltung überwiesen. Jetzt kommt das Geschäft in den Ständerat. Die Regelung soll insbesondere die Hauptstrasse H2 und H13 in Uri, dem Tessin und in Graubünden freihalten, wenn auf den Nord-Südachsen grosse Staus herrschen, die Ausweichverkehr provozieren. Der Bundesrat hatte sich allerdings gegen den Vorstoss ausgesprochen.

Angenommen wurde hingegen eine Motion, mit der die Betreiber von Navigationssystemen verpflichtet werden sollen, angeordnete Strassensperren im Navi anzuzeigen – und damit zu verhindern, dass die Navis Verkehrsteilnehmer bei Staus auf Ausweichrouten schickt. Der Vorstoss wurde mit 96 zu 93 Stimmen bei vier Enthaltungen angenommen. Die Gegner argumentierten erfolglos, es sei unsinnig anzunehmen, dass grosse weltweit agierende Konzerne ihre Navigationssysteme aufgrund eines Gesetzes der Schweiz umprogrammieren würden.

Weitere Verkehrsmanagement-Massnahmen wie eine dynamische Maut oder ein digitales Reservationssystem für Fahrten durch den Gotthardtunnel wurden abgelehnt. Wenn auch im Falle der Maut mit dem knappsten aller möglichen Abstimmungsresultate: 91:90.

One thought on “Die Gaga-Maut

  1. In Deutschland wurde eine ähnliche geplante Maut schon 2014 als rechtswidrig (diskriminierend, weil ungleich behandelnd) eingestuft:
    https://www.sueddeutsche.de/auto/verstoss-gegen-europarecht-bundestagsexperten-nennen-dobrindts-pkw-maut-diskriminierend-1.2074419

    Dass der Schweizer Nationalrat Simon Stadler eine solche in der Schweiz einführen will, wirft die Frage auf, ob ihm das Recht egal ist oder ob er es nicht versteht. Dass er sich gegenüber Inside-Justiz trotz E-Mail-Anfrage nicht äussert, fällt ebenso auf ihn zurück. Ein Politiker zeigt dann Format, wenn er öffentlich auch Fehler einräumt und eine Äusserung zurückzieht, eine Meinung aufgibt.

    Insgesamt ein peinlicher Auftritt von Simon Stadler. Und die Bezeichnung „Gaga-Maut“ trifft ins Schwarze.

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