Nach Jahren des Schweigens setzt sich Stefan Bischof (*1989) für die Aufarbeitung der Missstände im Schulheim Michlenberg in Rehetobel ein. Mit Unterlagen aus dem Ausserrhoder Staatsarchiv und klaren Forderungen an die Verantwortlichen kämpft der Goldacher für Gerechtigkeit – und dafür, dass kein Kind jemals das erleben muss, was er durchgemacht hat. Ein Artikel von stgallen24.
Im Alter von 13 Jahren wurde Stefan Bischof in die Klinik Sonnenhof Ganterschwil eingewiesen. Hier begann ein besonders dunkles Kapitel seiner Kindheit. Bischof erinnert sich: «Ich wurde körperlich und seelisch misshandelt. Die restriktiven Massnahmen, die dort angewendet wurden, waren oft entwürdigend.»
Der Mangel an individueller Betreuung und das Gefühl, allein gelassen zu sein, prägten ihn nachhaltig.
Nach einiger Zeit wurde Bischof ins Schulheim Michlenberg in Rehetobel verlegt, doch auch dort erlebte er Übergriffe. «Der Schulleiter hat mich körperlich und seelisch misshandelt», erinnert er sich. Um die Missstände zu dokumentieren, begann er, ein Tagebuch zu führen. Dieses wurde später zu einem wichtigen Beweisstück.
Mit anwaltlicher Unterstützung erlangte Stefan Bischof Zugang zu den Unterlagen aus dem Ausserrhoder Staatsarchiv, die die Administrativuntersuchung zum Schulheim Michlenberg dokumentieren.
Diese Berichte offenbaren gravierende Missstände, die auch andere Kinder betrafen.
«Der Bericht belegt strafrechtlich relevante Tätlichkeiten gegenüber anderen Kindern und beschreibt eine psychologische Einschätzung des Heimleiters, der als gewalttätig wahrgenommen wurde. Trotzdem wurde die Polizei nicht eingeschaltet», erklärt Bischof.
Weiter kritisiert er die mangelnde Aufsicht durch den Kanton: «Die Aufsichtspflicht wurde nicht wahrgenommen. Wäre sie ausgeführt worden, hätte es nie zu derartigen Eskalationen kommen dürfen.»
Bischof bemängelt zudem, dass seine Interaktionen mit der Aufsichtsstelle in den Berichten nicht thematisiert werden: «Ich habe nie wirklich eine Rückmeldung von der Aufsichtsstelle erhalten, obwohl ich versucht habe, mich an sie zu wenden. Das macht die Situation umso frustrierender.»
Die Untersuchung zeige auf, dass die Missstände dem Kanton bekannt waren.
«Es ist schwer zu ertragen, dass die Verantwortlichen damals weggeschaut haben, obwohl sie genau wussten, was geschah», sagt Stefan Bischof.
Diese Erkenntnisse haben ihn in seinem Entschluss bestärkt, Antworten und Konsequenzen zu verlangen. «Ich möchte mit den Verantwortlichen des Kantons zusammensitzen», betont er.
Dabei geht es ihm um drei zentrale Fragen: Warum hat der Kanton seine Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen? Warum dauerte es so lange, bis die Missstände behoben wurden? Und: Werden die damals Verantwortlichen nun doch noch zur Rechenschaft gezogen?
Stefan Bischof betont, dass sein Anliegen nicht nur in der Aufarbeitung der Vergangenheit liegt, sondern vor allem in der Verhinderung zukünftiger Missstände.
«Es darf nie wieder passieren, dass Kinder und Jugendliche in einer solchen Umgebung leben und leiden müssen», sagt er. Er hofft, dass durch seine Bemühungen nicht nur für ihn persönlich, sondern für viele andere Betroffene eine Veränderung angestossen wird.
Trotz der traumatischen Erlebnisse hat Bischof bemerkenswerte Erfolge erzielt: Nach seiner Entlassung aus dem Heim besuchte er eine reguläre Schule, wurde Klassenbester und absolvierte eine Lehre als Polymechaniker. Später bildete er sich zum technischen Kaufmann und Betriebswirtschafter weiter.
Heute studiert er Betriebsökonomie an der Ostschweizer Fachhochschule, hat 2024 einen Bachelor erworben und arbeitet nun an seinem Master. «Ich wollte zeigen, dass ich mehr kann, als man mir zugetraut hat», sagt er.
Eine zentrale Botschaft in Bischofs Geschichte ist seine Kritik an den damaligen Verantwortlichen.
«Es ist schwer zu verstehen, dass einige der Personen, die für meinen Leidensweg mitverantwortlich sind, immer noch in sozialen Berufen tätig sind», sagt er. Für Stefan Bischof ist klar: Das System hat versagt. «Die Heimaufsicht war damals nicht in der Lage, die Kinder effektiv zu schützen. Vieles wurde einfach ignoriert oder vertuscht.» Das gelte für beide Heime – Ganterschwil und Rehetobel.
Bischof fordert, dass die Aufsicht über solche Institutionen unabhängig und transparent arbeitet, um sicherzustellen, dass solche Fehler nicht wiederholt werden. «Es muss endlich Konsequenzen geben.»
Theoretisch haben die Kantone eine Aufsichtspflicht über ihre sozialen Institutionen – diese sei aber weder in St. Gallen noch in Appenzell Ausserrhoden wahrgenommen worden. «Man hat sich an beiden Orten einfach darauf verlassen, was die Verantwortlichen behauptet haben – ohne die Insassen je einzubeziehen.»
Auch wenn Stefan Bischof heute äusserlich ein erfolgreiches Leben führt, sind die psychischen und physischen Folgen seiner Kindheit noch immer präsent. «Es gibt zu wenig spezialisierte Ärzte und Therapeuten, die sich mit den langfristigen Folgen von institutionellem Missbrauch auskennen», kritisiert er.
Die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt eine zusätzliche Belastung. Bischof bezieht denn auch aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse eine IV-Rente.
Trotz der Herausforderungen blickt er optimistisch in die Zukunft und hofft, dass aus seiner Geschichte die richtigen Lehren gezogen werden.
«Ich wünsche mir, dass niemand mehr durchmachen muss, was ich erlebt habe», sagt er. Ebenso hofft er auf ein Einlenken beider Kantone, dass sie die Geschichten ihrer Kinder- und Jugendheime transparent aufarbeiten und den Betroffenen zumindest eine Entschuldigung, wenn nicht gar eine Entschädigung anbieten.
Und: Er möchte, dass die Verantwortlichen, damit sind vor allem die Heimleiter und deren Vorgesetzten bei den Kanton Appenzell Ausserrhoden und St. Gallen, zur Verantwortung gezogen werden. «Mir geht es nicht um Rache. Aber ich möchte, dass die Leute für ihre Verfehlungen, die sie auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen abgezogen haben, geradestehen müssen.»
Stefan Bischofs Kampf ist nicht nur eine persönliche Mission, sondern auch ein Appell an die Gesellschaft, den Schutz von Kindern und Jugendlichen ernster zu nehmen und sie vor ähnlichem Leid zu bewahren. ddd
Teil 1 der Stefan Bischof-Geschichte: Aufarbeitung und Gerechtigkeit: Stefan Bischofs Kampf um Antworten
Teil 2 der Stefan Bischof-Geschichte: Geh und häng Dich auf
Teil 3 der Stefan Bischof-Geschichte: «Hilflos ausgeliefert»
Interview mit Stefan Bischof
Bischof absolviert ein Studium in Betriebsökonomie. Und dies, obwohl er keine richtige Schulbildung genossen hatte: Seine Eltern steckten ihn im Alter von 13 Jahren in ein Heim. Sein Leidensweg durch verschiedene Institutionen war lang und steinig: «Ich wurde körperlich und seelisch misshandelt», sagt der Goldacher im Interview in stgallen24. Wir bringen einige Auszüge davon. Das ganze Interview finden sie hier.
Stefan Bischof, waren Sie ein schwieriges Kind?
Ich empfinde es schwierig, mich als Kind zu beurteilen. Aber ich weiss mit Sicherheit, dass mein Bruder ein schwierigeres Kind war, der seit Geburt auf einen Rollstuhl angewiesen ist und somit eine gesonderte Betreuung benötigt. Vor diesem Hintergrund hätte ich mich eher als ziemlich pflegeleicht bezeichnet, da ich in der Lage war, alles selbstständig zu erledigen.
Sie konnten sich erst mit rund 30 Jahren wieder an Ihre Kindheit erinnern. Warum – und wie haben Sie sie in Erinnerung?
Ich habe meine Kindheitszeit bis 15 komplett aus meinem Gedächtnis verdrängt. Dies ist eine Art Schutzfunktion des Gehirns, da die Erinnerungen dermassen schlimm für mich waren. Die Erinnerungen kamen fetzenweise wieder auf, wie meine Eltern mit mir umgegangen sind, als wäre ich ein kleines Kind und zudem massive seelische Gewalt auf mich auswirkten, mit Worten wie: «Du bist nichts wert und zu nichts fähig» oder «Geh und hänge dich auf». Meine Kindheit war voller schrecklicher Begebenheiten. Zuerst wurde ich vom Vater massiv körperlich und seelisch misshandelt. Es entwickelten sich verständlicherweise eine massive Wut gegen die väterliche Elternfigur. Daraufhin versuchte der Vater, seine Fehler wieder gutzumachen, in dem ich plötzlich als fünfjähriges Kind ein Pony im Garten hatte … Stetige Ablehnung, später auch fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Klinik Sonnenhof und im Schulheim Michlenberg waren ebenfalls eine sehr schlimme und prägende Zeit.
Warum haben Sie Ihre Eltern erst nach Ganterschwil in die Klinik Sonnenhof, dann nach Rehetobel ins Schulheim Michlenberg abgegeben?
Als ich etwa 13 war, konnte ich mich besser gegen die väterliche Tyrannei wehren, in dem ich auch mal zurückgeschlagen habe. Dies war den Eltern unerwünscht und kam ihnen nicht gelegen, weshalb sie einem Aufenthalt in der Klinik Sonnenhof zugestimmt haben. Die Unterbringung im Schulheim Michlenberg erfolgte auf das Anraten des damaligen Chefarztes der Klinik Sonnenhof. Viele der Patienten des Sonnenhofs, bei denen sie nicht mehr weiterwussten, wurden einfachheitshalber in das Schulheim Michlenberg abgegeben. Meinen Eltern war dies recht, da sie sich um ein Kind weniger kümmern mussten und sie sich gerne auf Fremdmeinungen stützen.
Wie haben Sie die Klinik Sonnenhof in Erinnerung?
Für mich war es das Schlimmste, aus dem gewohnten Umfeld plötzlich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden. Ich hatte absolut keine seelischen Probleme erkannt, ebenfalls hatte man mir keine seelischen Probleme aufgezeigt und erklärt. Es war für mich sehr schlimm, mitansehen zu müssen, wie andere mit sich umgegangen sind, teilweise unerklärliche Ausraster hatten und sich die Arme oder Beine mit Messerklingen ritzten. Ebenfalls sah ich den Sonnenhof – hinter verschlossenen Türen – mehr als Gefängnis, eingeschlossen und abgeschieden von der Aussenwelt.
Und wie das Personal?
Gleich zu Beginn wurde mir durch eine Fachperson klargemacht, entweder würde ich meine Eltern für die Einlieferung mein Leben lang dankbar sein – oder sie für den Rest meines Lebens hassen. Leider hatte sie recht und es resultierte das letztere. Am angenehmsten war das Pflegepersonal, das sich am meisten Zeit nahm für die Kinder. Die Ärzte und Psychologen haben nach meiner Meinung den Sinn und Zweck einer ärztlichen und psychologischen Tätigkeit verfehlt. Normalerweise betreut man in einer psychiatrischen Klinik die Patienten in psychologischer Hinsicht. Dies wurde trotz eines knappen Jahres Aufenthalt nicht getan. Gespräche haben vorwiegend mit meinen Eltern und unter den Ärzten resp. Psychologen stattgefunden. Ich hatte vielleicht zwei oder drei Mal ein Gespräch mit einer psychologischen Fachperson.
Wie sieht es mit dem Schulheim Michlenberg aus?
Mir wurde stets zugesichert, dass ich nach dem Aufenthalt in der Klinik Sonnenhof wieder nach Hause zu meinen alten Klassenkameraden könne. Allein schon, dass es ohne erklärlichen Grund hiess, dies wäre jetzt doch nicht der Fall und ich müsse in ein Internat, hat mich schwer getroffen. Im Schulheim Michlenberg hat man alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann im Umgang mit einem Kind: Das Personal handelte gegenüber den Kindern unter der letzten Menschenwürde, und ich fürchtete um meine berufliche Zukunft, da man nichts Schlaues lernen konnte in der Schule, was für die beruflichen Perspektiven wichtig gewesen wären. Statt einem offiziellen Lernprogramm wie Englisch, Geometrie oder Chemie standen Dinge wie Weben an einem alten Webstuhl, Volkstanz oder Theatervorführungen auf dem Programm.
Wurden Sie denn überhaupt nicht kindgerecht behandelt und gefördert?
Nein – das Kindeswohl hat niemand geschert. Während knapp einem Jahr Aufenthalt in der Klinik Sonnenhof hat man es nicht für notwendig gehalten, ein psychologisches Gespräch mit dem Kind zu ersuchen. In meinen Akten sind lediglich zwei Stellen vermerkt, wo man mit mir gesprochen hat. Auf diesen zwei Seiten war festzustellen, dass ich ein «ganz normales Kind» war, ohne Verhaltensauffälligkeiten. Im Schulheim Michlenberg wurde mir trotz expliziten Wünschen, etwas lernen zu dürfen, diese verweigert.
Das ganze Interview finden sie hier und der zweite Teil hier.