Vor einigen Tagen berichteten mehrere Zeitungen, darunter die NZZ und der Blick, von einer Korruptionsaffäre: Ein Netzwerk von Autohändlern und ein mutmasslich korrupter TCS-Prüfer stehen im Zentrum eines grösseren Betrugsskandals der Schweiz. Über dreizehn Jahre hinweg sollen mehr als 1’332 Fahrzeuge in schlechtem Zustand durch Scheinprüfungen geschleust worden sein, um sie als verkehrstüchtig zu verkaufen. Fehler entstanden vor allem bei den Solothurner Behörden. Das Bundesstrafgericht schreibt dazu: «Der Vorwurf scheint schlicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht untersucht worden zu sein.»
Im Zentrum der Affäre steht ein Fahrzeugexperte des Touring Club Schweiz (TCS) aus dem Berner Seeland. Zusammen mit etwa 30 Mitbeschuldigten soll der Mann von 2010 bis 2023 zahlreiche Fahrzeuge ohne echte Prüfung als verkehrstüchtig bestätigt haben. Die mutmasslichen Straftaten umfassen Bestechung, Urkundenfälschung, gewerbsmässigen Betrug und Korruption. Zu den Beschuldigten zählen nicht nur Autohändler, sondern auch private Fahrzeughalter aus verschiedenen Ländern.
Besonders brisant dabei ist: Bereits 2018 erhielt die Solothurner Staatsanwaltschaft eine anonyme Anzeige, in der konkrete Vorwürfe gegen den TCS-Mitarbeiter und einen Autohändler erhoben wurden. Doch anstatt die Hinweise zu verfolgen, unterblieben tiefgreifende Ermittlungen. Man nahm lediglich einen Augenschein in der Werkstatt, wobei man keinen Verstoss vorfand und darauf weitere Ermittlungen unterliess. Das Bundesstrafgericht kritisierte diese Untätigkeit später scharf als „pflichtwidrig“.
Ein verzweigtes Betrugsnetzwerk
Nach den bisherigen Erkenntnissen zahlten Autohändler Geld oder machten Geschenke an den TCS-Kontrolleur, um ihre Fahrzeuge durch die Prüfungen zu schleusen. Dabei ging es vor allem um ältere Occasionen in teils mangelhaften Zuständen. Diese wurden nach der Scheinprüfung in verschiedenen Kantonen als verkehrstüchtig eingelöst und weiterverkauft. Um die Prüfungen überhaupt zu ermöglichen, schlossen die Händler fiktive TCS-Mitgliedschaften ab. Die mutmasslichen Bestechungsgelder wurden dem Prüfer direkt ausgehändigt, wobei ihm offenbar eine Kollegin bei der Abwicklung half. Für beide gilt die Unschuldsvermutung.
Die Dimensionen des Betrugs wurden erst Anfang 2021 sichtbar, als die Zürcher Kantonspolizei durch einen weiteren anonymen Hinweis aufmerksam wurde. In der Folge deckten die Ermittler ein ausgeklügeltes Betrugsnetzwerk auf, das sich über mehrere Kantone erstreckte. Im Herbst 2023 schlugen sie schliesslich zu: In mehreren Kantonen, darunter Bern, Aargau und Zürich, fanden Razzien statt, bei denen zahlreiche Verdächtige verhaftet wurden. Der Fall füllt inzwischen mehr als 60 Bundesordner.
Kritik an den Solothurner Behörden
Eine zentrale Rolle in diesem Fall spielte der Kanton Solothurn, der 2018 die erste Anzeige erhielt. Darin wurden konkrete Vorwürfe gegen den TCS-Prüfer und einen Autohändler erhoben, die Fahrzeuge ohne echte Prüfung durch die Kontrolle schleusten. Die Solothurner Behörden sahen jedoch keinen Anlass, die Hinweise zu untersuchen. Stattdessen wurde die Anzeige weitgehend ignoriert, und die Ermittlungen beschränkten sich auf Verstösse gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz.
Das Bundesstrafgericht urteilte später, dass diese Untätigkeit unverständlich sei. Die Anzeige hätte ernst genommen und umfassend untersucht werden müssen. Stattdessen argumentierten die Solothurner Ermittler, die Hinweise seien zu vage gewesen. Diese Ausflüchte überzeugten das Gericht jedoch nicht. Es betonte, dass anonyme Hinweise auf Korruption mit Engagement verfolgt werden müssen, da Täter selten freiwillig Anzeige erstatten. Die Zürcher Kantonspolizei habe vorbildlich gezeigt, wie derartige Hinweise aufgeklärt werden können.
Zürcher Ermittler handelten vorbildlich
Im Gegensatz zu den Solothurnern handelten die Zürcher Behörden entschlossen. Nachdem sie Anfang 2021 einen weiteren anonymen Hinweis durch eine vertrauliche Quelle erhalten hatten, leiteten sie verdeckte Ermittlungen ein. Diese führten schliesslich zur Aufdeckung des weitreichenden Netzwerks und zu zahlreichen Verhaftungen. Im Urteil des Bundesstrafgerichts wurde die Arbeit der Zürcher Ermittler ausdrücklich gelobt.
Allerdings führte der Fall zu einem sogenannten Gerichtsstandskonflikt, da sich die Kantone uneinig waren, wer für die Strafverfolgung zuständig sei. Solothurn wollte die Verantwortung erneut abgeben, argumentierte aber zugleich, dass die Anzeige von 2018 nicht spezifisch genug gewesen sei, um umfassende Ermittlungen zu rechtfertigen. Das Bundesstrafgericht entschied jedoch zugunsten der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft und wies den Fall den Solothurnern zu. Es stellte klar, dass der Schwerpunkt der Straftaten in Solothurn liege, da die erste Anzeige dort eingegangen sei.
Systematische Korruption bedroht den Rechtsstaat
Das Bundesstrafgericht warnte in seinem Urteil eindringlich vor den Gefahren systematischer Korruption: Sie führe nicht nur zu volkswirtschaftlichen Schäden und Wettbewerbsverzerrungen, sondern gefährde letztlich auch die Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats. Zudem würden durch die Scheinprüfungen potenziell gefährliche Fahrzeuge in Verkehr gebracht wurden, die Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer gefährdeten.
Die Kritik am Verhalten der Solothurner Behörden bleibt bestehen. Gegenüber der NZZ antwortet sie, dass sie den Fall inzwischen offiziell übernommen hat. Auf Anfrage schreibt sie, durch die Übergabe komme es zu gewissen Verzögerungen. Doch man bemühe sich, das Verfahren voranzutreiben. Die Kritik des Bundesstrafgerichts akzeptiere man. Einigen Aspekten des anonymen Schreibens sei tatsächlich nicht weiter nachgegangen worden.
Bild: Facebook TCS St. Gallen
„Bereits 2018 erhielt die Solothurner Staatsanwaltschaft (StA SO) eine anonyme Anzeige, in der konkrete Vorwürfe gegen den TCS-Mitarbeiter und einen Autohändler erhoben wurden.“ Gemäss Bundesstrafgericht hat die StA SO pflichtwidrig (siehe oben) 2018 die Hauptvorwürfe trotz Anzeige nicht ermittelt, sie muss nun doch ermitteln.
Die Beschuldigten können sich also bei der StA SO bedanken (vielleicht haben sie sich ja schon 2018 bedankt …), weil die ersten Vorwürfe von 2010 (siehe oben)
– bereits 2020 absolut verjährt sind (Bestechung Privater und Sich bestechen lassen, Art. 322octies und Art. 322novies i.V. mit Art. 97 Abs. 1 Bst. c StGB)
– und weitere Ende 2025 absolut verjähren (Betrug und Urkundenfälschung, Art. 146 und 251 i.V. mit Art. 97 Abs. 1 Bst. b StGB) .
Da etwa 30 Beschuldigte und schon 60 Bundesordner Akten bestehen (siehe oben), das Verfahren also umfangreich ist, können geschickte Verteidiger (und unwillige Staatsanwälte) weitere Vorwürfe in die Verjährung treiben.
Werden die Beschuldigten rechtskräftig verurteilt, dann könnte der Verdacht der Begünstigung (Art. 305 StGB) gegen die StA SO bestehen (weil/wenn Vorwürfe verjährt sind).
Wetten, dass
– die StA SO gegen ihre damaligen KollegInnen nicht ermitteln wird? (Das Bundesstrafgericht redet das Versäumnis der StA SO als „pflichtwidrig“ statt „gesetzwidrig“ klein.)
– der Strattatbestand der Begünstigung folglich toter Buchstabe bleibt, wenn Strafverfolgungsbehörden betroffen sind?
Dieser Fall veranschaulicht, wie der angebliche Rechtsstaat Schweiz funktioniert – oder eben nicht.