Und wieder: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt die Schweiz heute in einem spektakulären Fall aus Luzern. Die Schweiz hat die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt, weil sie eine Frau zu wenig vor ihrem damaligen Lebenspartner geschützt hatte. Die Behörden hätten um die Gefährlichkeit des Mannes gewusst und die Frau nicht ausreichend gewarnt, sagen die EGMR-Richter. Der Entscheid fiel mit 5:2 Stimmen – und gegen das Votum des Schweizer Richters Nicolas von Werdt.
,Der Fall ist geeignet, auch hartgesottenen Justizprofis das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Im November 2006 lernte eine damals 47-jährige Nicole Dilll, einen Mann kennen, wir nennen ihn Roland, und begann mit ihm eine intime Beziehung. Was Nicole nicht wusste: Roland war ein verurteilter Sexualstraftäter und Mörder. 1995 wurde er für ein Delikt im Jahr 1993 zu 12 Jahren Haft verurteilt und im Mai 2001 bedingt aus dem Gefängnis entlassen.
Schwer kriminell und gefährlich – und doch auf freiem Fuss
Er begann – noch vor er Nicole kennenlernte – erneut eine Beziehung, delinquierte aber wieder: Im September 2006 wurde er für rund einen Monat in Untersuchungshaft genommen. Die Vorwürfe: Drohung, Nötigung, Missbrauchs eines Telekommunikationssystems und Verleumdung seiner neuen Lebensgefährtin. Am 12. Oktober 2006 hielt ein psychiatrisches Gutachten zu Roland fest, es sei kurzfristig keine Gefahr für die ehemalige Lebenspartnerin zu befürchten. Gleichzeitig schrieb der Gutachter – gemäss Sachverhaltsdarstellung im EGMR-Urteil (56114/18) aber auch, «dass aufgrund der eingeschränkten Fähigkeit von X, mit schwierigen Situationen angemessen umzugehen, von ihm vor allem verbale Drohungen, aber auch schwerere Gewalttaten zu erwarten seien, die sich insbesondere gegen Personen richten würden, mit denen er eine intime Beziehung unterhalte, aber gegebenenfalls auch gegen Behörden.» Eine späteres Gutachten im Jahr 2017 desselben Psychiaters bestätigte die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeit – (nach damaliger Falleinordnung ein F60.80 im ICD-10 Register der psychischen Erkrankungen).
Trotzdem wies das Luzerner Amtsstatthalteramt mit Beschluss vom 17. Oktober 2006 an, Roland – unter Auflagen – freizulassen. Die Auflagen beinhalteten u.a., ein Kontaktverbot zu seiner ehemaligen Gefährtin und dass er eine Therapie besuchen musste.
Andeutungen statt klare Warnung
Ende August 2017 wandte sich Nicole an Rolands Hausarzt, «aufgrund des (vom EGMR nicht näher beschriebenen, die Red.) Verhaltens von Roland». Der Hausarzt riet Nicole, sich zu trennen, aber nicht abrupt. Der Arzt hatte offenbar mit dem Gerichtspsychiater telefoniert, welcher Roland als «tickende Zeitbombe» bezeichnet hatte. Mit dem Einverständnis von Nicole (gemäss Sachverhalt im Gerichtsentscheid) informierte der Hausarzt auch die Polizei, die sich einen Tag später telefonisch bei Nicole meldete. Der Polizist erfuhr von ihr, dass diese die Beziehung zu Roland beenden wolle, dieser das aber nicht akzeptiere und sie ständig per Telefon und SMS belästige. Auf direkte Anfrage des Polizisten erklärte Nicole aber, sie habe die Situation unter Kontrolle und Roland noch etwas Zeit geben wolle. Weder der Hausarzt noch der Polizist erzählten der Frau von der kriminellen Vergangenheit Rolands. Der Polizist will ihr gegenüber gemäss einer späteren Aussage aber mitgeteilt haben, dass Roland eine «nicht ungefährliche Person» sei.
Die Eskalation
Am 19. September 2007 um 22 Uhr schreibt Nicole eine E-Mail an Roland und macht definitiv Schluss. Anrufversuche von Roland beantwortet sie nicht. Um 2230 steht dieser vor ihrer Tür. Nicole wehrt sich dagegen, die Wohnungstür zu öffnen und will ihm seine Sache über das Badezimmerfenster übergeben. Roland dringt gleichwohl in die Wohnung ein und überwältigt Nicole. Gewaltsam entführt er sie dann zu sich nach Hause und versucht sie über zwei Stunden lang in der Garage zu ersticken. Er vergewaltigt sie, ergreift eine Armbrust und schiesst ihr drei Mal in den Brustkorb. Anschliessend fesselt er sie an Armen und Füssen, legt sie in den Kofferraum des Autos und fährt stundenlang herum.
Am frühen Morgen kehrt er mit seinem Opfer zurück in seine Wohnung und bedroht sie weiterhin mit einem Messer. Um 0730 Uhr ruft er Nicoles Arbeitgeber an: Es gehe ihr nicht gut, sie komme nicht zur Arbeit. Nicole gelingt es schliesslich, Roland davon zu überzeugen, dass sie mit seinem Psychologen sprechen müsse. Dieser schlägt Alarm, die schwerverletzte Nicole kann mit der REGA ins Kantonsspital Luzern überführt und ihr Leben gerettet werden. Roland wird festgenommen und begeht drei Tage später Selbstmord. Nicole leidet bis heute an den Folgen der Tag.
Verfahren gegen den Staat
2015 klagt Nicole gegen den Kanton Luzern, auf der Basis des kantonalen Haftungsgesetzes. Sie wirft den kantonalen Behörden Pflichtverletzungen vor, insbesondere, dass sie nicht über die kriminelle Vergangenheit und die Gefährlichkeit von Roland informiert worden war. Für den erlittenen Schaden verlangt sie eine Entschädigung von CHF 105’000. Das Bezirksgericht weist die Klage am 8. November 2016 ab, die Berufung am Kantonsgericht Luzern scheitert mit Urteil vom 21. Juli 2017 ebenfalls. Schliesslich gelangt Nicole ans Bundesgericht. Sie argumentiert, der Schutz der Privatsphäre könne keinen Vorrang vor dem Recht auf Leben eines anderen Menschen haben.
Am 8. Juni 2018 weist das Bundesgericht in Urteil 2C_816/2017 in der Besetzung Hansjörg Seiler (SVP, unterdessen pensioniert), Florence Aubry Girardin (Grüne) und Stephan Haag (GLP) die Beschwerde ab. Die Bundesrichter argumentierten dabei zunächst mit allerlei formaljuristischen Spitzfindigkeiten, dass die Vorinstanzen und insbesondere das Kantonsgericht mit seiner Sachverhaltsfeststellung keine Rechtsverletzung begangen und auch das rechtliche Gehör nicht verletzt habe. Und das, obwohl das Kantonsgericht z.B. trotz entsprechenden Anträgen der Klägerin nicht bereit war, z.B. die Einträge in der Polizeidatenbank zu den Akten zu nehmen, um festzustellen, was genau die Polizei über den Täter gewusst hatte. Auch die Therapieberichte über Roland wurden nicht in das Verfahren miteinbezogen.
Bundesgericht verneint Kausalzusammenhang
In materiellrechtlicher Hinsicht befand das Bundesgericht, eine «Garantenpflicht» für Nicole hätte der Staat nur gehabt, wenn diese sich «in einer unmittelbaren Gefahr oder Notlage befunden» hätte – das sei aber bei dem Telefonat mit dem Polizisten nicht der Fall gewesen, dieser habe deshalb nicht unrechtmässig gehandelt. Und weiter:
«Dass sie im Wissen um die Vergangenheit ihres Partners anders vorgegangen wäre und sich besser vor dessen Reaktion auf die Trennung zu schützen versucht hätte, ist wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund ist auch grundsätzlich nachvollziehbar, dass die ausgebliebene Warnung durch die Polizei von der Beschwerdeführerin als gravierender Fehler eingestuft wird. Es kann durchaus anerkannt werden, dass das Verhalten der Behörden zum Lauf der Dinge beigetragen hat. Ob sich die Beschwerdeführerin im Wissen um die Vergangenheit ihres Partners letztlich erfolgreich vor diesem hätte schützen bzw. seinen Gewaltausbruch hätte verhindern können, bleibt aber ungewiss. Der Umstand, dass die Dinge möglicherweise anders verlaufen wären, führt jedenfalls noch nicht zu einer Haftung des Staates für den erlittenen Schaden bzw. zu einem Genugtuungsanspruch der Geschädigten gegenüber dem Staat.»
EGMR: Hürde hoch, aber vorliegend gegeben
Die Strassburger Richter sehen das anders. Das Urteil ergeht in Siebner-Besetzung. Mattias Guyomar (Frankreich), Armen Harutyunyan (Armenien), Maria Elosegui (Spanien), Gilberto Felici (San Marino) und Katerina Simackova (Tschechien) plädieren für eine Verurteilung der Schweiz, Stéphanie Mourrou-Vikström (Monaco) und der Schweizer Vertreter, alt-Bundesrichter Nicolas von Werdt (SVP) halten dagegen und unterliegen.
Die Mehrheit des Gerichtshofs hält zunächst fest, der Staat habe aufgrund von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) durchaus eine «positive Verpflichtung», bei Gefahren das Leben der bedrohten Personen zu schützen. Die Hürden dafür seien allerdings hoch: «Damit eine Verletzung einer positiven Verpflichtung vorliegt, muss nachgewiesen werden, dass die Behörden zum Zeitpunkt der Tat wussten oder hätten wissen müssen, dass eine bestimmte Person aufgrund der kriminellen Handlungen eines Dritten in ihrem Leben einer realen und unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt war, und dass sie im Rahmen ihrer Befugnisse nicht die Maßnahmen ergriffen haben, die aus vernünftiger Sicht zweifellos dieses Risiko hätten abwenden können.» Die Behörden seien verpflichtet, eine eigenständige, proaktive und umfassende Bewertung des Lebensgefährdungsrisikos durchzuführen – es reiche nicht, sich mit der Wahrnehmung des Opfers zufrieden zu geben (sprich: nichts zu unternehmen, falls ein potentielles Opfer glaubt, die Situation unter Kontrolle zu haben – oder wenn es keine Anzeige stellen möchte.)
Für die Menschenrechts-Richter steht erstens fest, dass die Behörden spätestens zu dem Zeitpunkt über die Gefährdung von Nicole informiert waren, als der Hausarzt von Roland mit der Polizei Kontakt aufgenommen hatte. Und was die fehlende Information des Polizisten zur kriminellen Vergangenheit von Roland angeht, hält der EGMR klipp und klar fest, dass «in Fällen von Gewalt gegen Frauen die Rechte des Täters nicht über das Recht auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit der Opfer gestellt werden dürfen.» (wobei durchaus befremdend anmutet, warum der Gerichtshof hier einen Unterschied zwischen Frauen und Männern macht).
Polizist entlastet
Das Strassburger Urteil anerkennt allerdings auch, dass die Schweizerische Gesetzgebung dem Polizisten in der damaligen Situation Grenzen setzte und eine Informationsweitergabe womöglich als Amtsgeheimnisverletzung gewertet und den Polizisten in Bedrängnis gebracht hätte. Und: Anders als noch das Bundesgericht, das verlangt hatte, dass für eine Haftungsklage einer spezifische Amtsperson ein widerrechtliches Verhalten nachgewiesen werden müsse, sieht Strassburg auch in einem Systemversagen einen Verstoss gegen Art. 2 der EMRK. Wörtlich:
«In Anbetracht des Vorstehenden und unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falls ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Behörden insgesamt nicht alles getan haben, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um die Verwirklichung des sicheren und unmittelbaren Risikos für das Leben der Klägerin zu verhindern, von dem sie Kenntnis hatten oder hätten haben müssen.»
Alt Bundesrichter von Werdts abweichende Haltung
Anders als sonst wurde die Schweiz in dem vorliegenden Urteil nicht von Andreas Zünd vertreten, sondern von alt Bundesrichter Nicolas von Werdt. Und anders als Richter Zünd, der regelmässig für die Verurteilung der Schweiz stimmt, hat von Werdt im vorliegenden Fall der Verurteilung widersprochen – ist aber am Ende im Spruchkörper mit 5:2 unterlegen.
Von Werdt erinnert in seiner abweichenden Haltung zunächst daran, dass das Gericht nicht dem Rückblickfehler unterliegen dürfe. Er meint damit, dass aus der heutigen Sicht und im Wissen um das später Vorgefallene die Gefährdung womöglich klar erkennbar erscheint. Das Gericht muss das aber ausblenden und darauf abstellen, was für die Behörden damals erkennbar war – ohne ahnen oder wissen zu können, was später passieren würde.
Dabei müsse zum Beispiel berücksichtigt werden, dass Nicole nie behauptet habe, von Roland körperlich misshandelt worden zu sein, wie das in früheren Fällen von häuslicher Gewalt, die der Gerichtshof bereits beurteilt hatte, der Fall gewesen sei. Auch in dem erneuten Strafverfahren gegen Roland sei es nicht um Vorwürfe von körperlicher Gewalt gegangen.
Zu dem Behördenversagen, das vom Gerichtshof mehrheitlich bejaht wird, ziselt von Werdt detailliert auseinander, wer zu welchem Zeitpunkt tatsächlich was gewusst hatte. Von Werdt macht darauf aufmerksam, dass bei einem genauen Studium der Akten die involvierten Akteure jeweilen nur ein begrenztes Wissen gehabt hätten: So habe der Polizist beispielsweise von den psychiatrischen Gutachten, die Roland als Gefahr bei Trennungssituationen beschrieben, nichts gewusst. – Über diese Information habe lediglich der Staatsanwalt verfügt, der aber weder von Nicole, noch der Beziehung mit Roland und damit auch nicht von Nicoles Absicht wusste, sich zu trennen. Für von Werdt ist es deshalb unzulässig, Informationen, über die «einzelne Behörden völlig unabhängig voneinander verfügten», einfach «zusammenzufassen».
Schliesslich wirft von Werdt in Frage nach den Konsequenzen des Urteilsspruchs auf. Im vorliegenden Falle habe der Polizist die Vorwürfe von Nicole nach dem Telefonat als «Stalking», also Belästigung, bezeichnet. Eine solche werde aber nur auf Anzeige, nicht von Amtes wegen verfolgt – was auch im Einklang stehe mit der Instanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Wenn es die Mehrheit des Spruchkörpers im vorliegenden Falle bejaht, dass die Behörden zum Zeitpunkt des Gesprächs zwischen Polizist und Nicole (zu dem nur der Vorwurf der Belästigung im Raum gestanden habe), ein förmliches Verfahren einzuleiten müssten, um «das Vorliegen einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr für das Leben des Opfers zu untersuchen und – unter Einhaltung aller Verfahrensgarantien (Artikel 6 der Konvention) – eine unabhängige, proaktive und umfassende Bewertung dieser Gefahr vorzunehmen», dann würde dies den Behörden «eine unerträgliche und übermässige Belastung» auferlegen.
Finanzielle Forderungen weitgehendst abgewiesen
Nicole hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am Ende einen Schadenersatz von über CHF 560’000 gefordert für Verdienstausfall, Haushaltsschaden und verminderte Altersrenten. Diese Forderung strich der EGMR massiv zusammen auf am Ende noch EUR 52’000 zzgl. allenfalls auf diesem Betrag zu entrichtenden Steuern.
(Titelbild: Screenshot SRF – Der Club)
Der Fall Nicole Dill
Das Opfer des geschilderten Falles hat über ihr Schicksal ein Buch geschrieben und ist mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit getreten. «Leben! Wie ich ermordet wurde», heisst das Buch, das im Verlag «Wörterseh» erschienen ist. Nicole Dill hat ihre Biografie zusammen mit der Autorin Franziska K. Müller aufgeschrieben.
Die Geschichte von Nicole Dill war auch Themen in verschiedenen weiteren Publikationen, z.B. in der EMMA unter dem Titel «Niemand hat mir gesagt, dass er ein Mörder ist».
Sehr gute Zusammenfassung des Urteils. Die Minderheitsmeinung von Werdt (unterstützt von Frau Mourou aus Monaco) erscheint weit überzeugender als jene der Mehrheit.