In Deutschland bestimmen heute Schlagzeilen über eine Hausdurchsuchung beim emeritierten Publizistik-Professor Norbert Bolz die öffentliche Diskussion. Angeordnet von Richter Lars Fricke vom Amtsgericht Tiergarten, auf Antrag der Berliner Oberstaatsanwaltschaft. Mit involviert: Das deutsche Bundeskriminalamt und dessen «Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet« (ZMI).
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Von einem Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit ist heute in Deutschland die Rede – und das auf breiter Front. Die Kritik am Vorgehen der Justiz kommt nicht nur von denjenigen politischen Kommentatoren, die schon längst monieren, dass Deutschland dazu übergegangen sei, kritische Stimme mit strafrechtlichen Massnahmen zu sanktionieren und damit einzuschüchtern. Mit dem Resultat, dass gemäss Umfragen 60 Prozent der Menschen in Deutschland aussagen, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äussern können.
Nebst Kommentatoren wie der Publizist Jan Fleischhauer oder Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel äussert sich beispielsweise auch die ehemalige Grünen-Vizepräsidentin Ricarda Lang kritisch. «Solche Razzien sind absurd. Und die so weitgehende Interpretation des Strafrechts bei Meinungsdelikten untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat», schreibt Lang auf X. Der Staatsrechtler Prof. Dr. Volker Boehme-Nessler spricht auf WELT.TV von einem «echten Skandal» und führt aus: «Das passt zum Trend, den wir seit vielen Monaten beobachten, dass die Justiz repressiv handelt bei Kleinigkeiten, bei harmlosen Meinungsäusserungen.» Boehme-Nessler bezeichnet die Hausdurchsuchung als «eine der härtesten Massnahmen, die die Justiz vornehmen kann, wegen einer Lappalie, und das ist in keinster Weise verhältnismässig.».
Steinhöfel berät Bolz
Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel fordert den deutschen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt über X auf, tätig zu werden: «Wegen der Causa Bolz bitte ich Sie, umgehend eine klare Dienstanweisung zur Kontextprüfung bei Äusserungsdelikten, zur strikten Verhältnismässigkeit bei digitalen Beweisen und zur Wahrung der Wissenschafts- und Pressefreiheit zu veranlassen. Wer Kritik kriminalisiert, verwechselt Recht mit Rache und Sicherheit mit Zensur.»
Steinhöfel, der regelmässig Verfahren führt für Mandanten, die von staatlicher Zensur oder anderen Massnahmen gegen die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit betroffen sind, verurteilt die Aktion gegen Bolz scharf und erkennt ein Muster: «Das Haus eines renommierten Professors wegen eines fraglos zulässigen Tweets zu durchsuchen, ist ein skandalöser Grundrechtseingriff. Ein Rechtsstaat erkennt den Unterschied zwischen Analyse und Agitation. Diese Grenze wurde hier erneut überschritten.»
Stein des Anstosses: Der Satz «Deutschland erwache»
Aber was war überhaupt passiert? Bereits am 24. Januar 2024 hatte Norbert Bolz einen Kommentar der linken TAZ kommentiert. In dem TAZ-Beitrag hatte die Kommentatorin Lotte Laloire einem AfD-Verbot das Wort geredet und dafür plädiert, die Grundrechte Einzelner einzuschränken – gemeint war, dass dem AfD-Rechtsaussen Bernd Höcke das passive Wahlrecht entzogen werden sollte. Bolz kommentierte das mit: «Gute Übersetzung von «woke»: Deutschland erwache.»
Der Ausspruch «Deutschland erwache» gilt in der Bundesrepublik als nationalsozialische Propaganda. Der Satz wurde im «Sturmlied» verwendet, das um 1920 vom Nationalsozialisten Dietrich Eckart verfasst worden war. «Deutschland erwache» wurde als Parole von den Nationalsozialisten verwendet. Wer die Parole deshalb heute verwendet, macht sich nach Paragraf 86a des deutschen Strafgesetzbuches des «Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen» strafbar. Wegen desselben Paragrafen war beispielsweise AfD-Politiker Björn Höcke verurteilt worden. Er hatte in einem Referat den Ausspruch «Alles für Deutschland» verwendet.
Manchmal gibt’s eine Untersuchung, manchmal nicht
Allerdings ist nicht jede Verwendung solcher Sätze strafbewehrt. Die TAZ selbst beispielsweise titelte 1998 «Deutschland, erwache!» über einem satirischen Beitrag. Und wundert sich heute in einem aktuellen Beitrag darüber, dass sie damals nicht auch in die Fänge der Justiz geraten war. 1998 war in Deutschland allerdings noch Helmut Kohl Bundeskanzler, es herrschten Vernunft und Augenmass, auch bei der Justiz. Interessant auch: Die linke TAZ kritisiert die Hausdurchsuchung bei Professor Bolz explizit und hält sie für «unverhältnismässig». Als Katharina Dröge vor kurzem in einer TV-Talkshow «Jedem das Seine» sagte – die Parole stand über dem Eingangstor des KZ Buchenwald – hatte das keine juristischen Folgen. – Dröge hatte sich tags darauf entschuldigt und bekräftigt, sie hätte das eigentlich anders formulieren wollen.
Der Rechtsanwalt Dubravko Mandic berichtet auf seiner Webseite von einem Fall, bei dem sein Mandant auf X im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg schrieb: «Deutschland erwache bitte». Der Tweet führte prompt zu einem Strafverfahren wegen der Wortkombination «Deutschand erwache», allerdings gelang es dem Anwalt, eine Verurteilung abzuwenden, weil er nachvollziehbar aufzeigen konnte, dass sein Mandant nicht diese Parole im Sinne hatte. Mandic stellt seinen Schriftsatz sogar im Internet zum Download bereit.
Parole oder Satire?
Norbert Bolz hatte den Satz in seinem Tweet ganz offensichtlich nicht im Sinne einer Parole, sondern ironisch-sarkastisch verwendet, um die woke Weltanschauung blosszustellen, die er regelmässig kritisiert.
Genau gleich, wie vor beinahe 100 Jahren bereits der jüdische Schriftsteller Kurt Tucholsky den Nationalsozialismus blossgestellt hatte: Er hatte 1930 ein Gedicht mit dem Titel «Deutschland erwache!» publiziert und dabei mit bitterem Sarkasmus heftig gegen den aufkommenden Nationalsozialismus angeschrieben. – Heute müsste Tucholsky wohl ebenfalls mit einer Hausdurchsuchung rechnen.
Bemerkenswert: Der Tweet war gemäss verschiedenen Medienberichten vom Bundeskriminalamt BKA an die Berliner Staatsanwaltschaft angezeigt worden. Das BKA gehört zum Bundesinnenministerium, das zum Zeitpunkt des Vorgangs von der damaligen Bundesinnenministerin Nancy Faeser geführt worden war. Faeser war während ihrer Amtszeit bei ihren Kritikerin mit totalitär anmutetenden Parolen wie «Wer den Staat verhöhnt, muss es mit einem starken Staat zu tun bekommen« in Ungnade gefallen und für ihre Demokratie-Defizite gerügt worden.
Norbert Bolz selbst schilderte die groteske Situation bei der Hausdurchsuchung auf NIUS RADIO wie folgt: «Der Ablauf der Sache war gar nicht so dramatisch, weil die vier Berliner Polizisten sehr nett waren und versucht hatten, das so wenig peinlich wie möglich über die Bühne zu bekommen. Sie sind morgens um neun gekommen, haben diesen Beschluss zur Durchsuchung vorgelegt und gesagt, ich solle jetzt einmal das Gerät zeigen, auf dem ich diesen Tweet abgesetzt habe. Und dann hat die Berliner Polizei ein Bild von meinem Laptop mit diesem Tweet gemacht, und das war’s dann auch.»
Titelbild: Screenshot NIUS Live am Abend
Kommentar: Hört auf zu überbeissen!
Der jüngste Fall von Meinungszensur in Deutschland bestätigt die Redewendung: Man wird die Geister, die man rief, so leicht nicht wieder los. Das zeigt sich in Deutschland nun in erschreckender Weise. Die verschiedenen Meldestellen gegen «Hass und Hetze», oft genug von Bundesländern und staatlichen Stellen ohne Gesetzesgrundlage gefördert, zeigen ihre hässliche Fratze. Verwunderlich ist das nicht: Wenn Menschen aufgefordert werden, zu denunzieren, was begrifflich gar nicht richtig gefasst ist (wie eben Hass und Hetze), ist genau das vorprogrammiert, was jetzt in Deutschland geschieht. Es werden Verfahren geführt, die mit den bürgerlichen Grundrechten insbesondere der Meinungsäusserungsfreiheit kollidieren. Das ist nicht akzeptabel.
Der zweite Punkt, an dem Deutschland scheiert, ist sein paranoider Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Klar will niemand Zustände zurück wie während den Jahren des Nationalsozialismus. Verständlich ist auch, dass niemand NS-Symbole wie das Hakenkreuz sehen möchte. Oder dass eine Parole wie «Sieg Heil» Wenn aber banale umgangssprachliche Äusserungen unter Strafe gestellt werden, nur, weil sie auch von den Nationalsozialisten verwendet wurden, dann führt das zu den Absurditäten, wie zuletzt in Deutschland zu beobachten waren. «Deutschland erwache» mag von der damaligen Propaganda verwendet worden sein. Aber das wurde auch die Redewendung «Schlag auf Schlag» – sie findet sich in dem inkriminierten Lied genau so. Darf man sie deshalb nicht mehr verwenden? Dasselbe mit dem Ausspruch «Alles für Deutschland».
Ein Gemeinwesen, das solche Äusserungen unter Strafe stellt, hat das Augenmass verloren. Die Auswüchse in der Strafverfolgung von kritischen Äusserungen, wie sie in Deutschland aktuell zu beobachten sind, sind genau das, was sie zu vorgeben verhindern zu wollen: Totalitäre Auswüchse.
§ 86a StGB. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen
1Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet oder
2. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der ein derartiges Kennzeichen darstellt oder enthält, zur Verbreitung oder Verwendung im Inland oder Ausland in der in Nummer 1 bezeichneten Art und Weise herstellt, vorrätig hält, einführt oder ausführt.
2 Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Den in Satz 1 genannten Kennzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
3 § 86 Abs. 4 und 5 gilt entsprechend.

Klasse Kommentar (Spalte rechts) zum ebenso guten Artikel!
Ist es möglich, dass die Hausdurchsuchung ein Einschüchterungsversuch war, weil Bolz einigen Mächtigen auf die Füsse getreten ist (und die „rechtliche“ Begründung nur vorgeschoben ist)?