«Die Krippe muss sofort reagieren»

Der Worstcase für eine Kinderkrippe – und viele andere Betriebe, bei denen Menschen betreut werden: Ein Mitarbeiter wird eines sexuellen Übergriffs beschuldigt. Wie reagieren? Anlässlich des konkreten Falls der «Hotelkrippe» in St. Gallen hat INSIDE-JUSTIZ mit dem St. Galler Juristen Dr. Andreas Dudli ein Gespräch geführt. Dudli ist öffentlicher Notar, Rechtsanwalt (mit dem SAV-Fachanwalt Strafrecht) und seit zwölf Jahren Lehrbeauftragter für Privatrecht an der Universität für St. Gallen.

 

Herr Dudli, wie soll eine Kinderkrippe vorgehen, wenn von Eltern der Vorwurf erhoben wird, ihr Kind sei von einem Mitarbeiter sexuell belästigt worden?*

Dies stellt das Worst-Case-Szenario für eine Kinderkrippe dar. Die Krippe muss sofort reagieren, die richtige Reaktion ist aber vom Einzelfall abhängig.

In dem diese Woche durch die Presse gegangenen Fall hat sich die Krippe von dem beschuldigten Mitarbeiter sofort getrennt. Ist das aus Ihrer Sicht nachvollziehbar unter dem Aspekt, dass die Krippe die Kinder schützen wollte?

Die Krippe hat eine auftragsrechtliche Treuepflicht gegenüber den Kindern (Kindeswohl) und den Eltern, gleichzeitig aber auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den Arbeitnehmenden. Die sofortige Trennung vom betreffenden Mitarbeitenden ist unter beiden Aspekten nachvollziehbar. Nicht zuletzt dient diese Massnahme auch dem Schutz des betreffenden Mitarbeitenden, denn die Vorwürfe bleiben zu jenem Zeitpunkt im Raum stehen.

Es wird kritisiert, die Krippenleitung hätte dem Mitarbeiter zu der vorgelegten Austrittsvereinbarung eine Bedenkzeit einräumen müssen. Wie muss eine Krippenleitung vorgehen, damit sie juristisch «safe» ist?

Es gibt kein richtiges Rezept, wie eine Krippenleitung vorgehen muss. Im Nachhinein wäre es sicher geschickter gewesen, wenn dem betreffenden Mitarbeitenden eine Bedenkzeit eingeräumt worden wäre. Nach meinem Wissenstand wurde dies im Nachhinein aber nachgeholt und es wurde nachträglich nochmals eine Vereinbarung abgeschlossen.

Viele Unternehmer ärgern sich, dass Mitarbeiter sich dann am nächsten Tag krankschreiben lassen, wenn ihnen die Kündigung droht, womit sie u.U. monatelang nicht gekündigt werden können. Was kann man als Arbeitgeber da unternehmen?

Als Arbeitgeber kann man dagegen wenig unternehmen. Allerdings gibt es auch noch das Mittel einer fristlosen Entlassung, wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist. Liegt eine strafrechtliche Verurteilung vor, ist der Grund einer firstlosen Kündigung allenfalls gerechtfertigt.

Falls ein Mitarbeiter mit einer Austrittsvereinbarung nicht einverstanden ist: Kann die Krippenleitung bei einem solchen Vorwurf eines sexuellen Übergriffes fristlos kündigen?

Eine fristlose Kündigung ist vom Betreffenden beim Gericht anfechtbar. Geschützt wird die fristlose Kündigung durch das Gericht nur dann, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgebenden nicht mehr zumutbar war. Diese Hürde ist relativ hoch angesetzt. Ob der Vorwurf eines sexuellen Übergriffs (ohne Schuldspruch) eine fristlose Kündigung bereits rechtfertigt, beurteile ich als heikel. Die strafrechtliche Unschuldsvermutung ist im modernen Rechtsstaat ein zentrales Standpfeiler.

Stichwort Untersuchung der Vorwürfe: Hätten Sie der Krippe zu einer Strafanzeige geraten? Warum? Warum nicht?

Im Grundsatz ist eine Strafanzeige zu empfehlen. Die zuständigen Behörden werden die Angelegenheit in der Folge untersuchen und für alle Beteiligten mit einem Ergebnis abschliessen. Ist das Ergebnis eine Einstellung des Verfahrens, ist das Resultat zwar nicht für alle Beteiligten zufriedenstellend, allerdings herrscht dann aus der juristischen Perspektive Klarheit. Bei einer Strafanzeige kann sich die Krippe ausserdem etwas aus dem Schussfeuer nehmen. Verantwortlich zu untersuchen sind dann die Strafbehörden und nicht mehr die Krippe als Arbeitgeberin.

Solche Delikte gelten als sehr schwierig zu ermitteln: Es sind Vieraugendelikte, forensische Untersuchungen nicht möglich, und das mutmassliche Opfer ist ein Kleinkind – vorliegend war es ein zweieinhalb Jahre alter Junge. Macht es da irgendeinen Sinn, Strafanzeige zu erstatten?

Eine Strafanzeige kann auch in diesem Einzelfall hilfreich sein. Denn solange die Strafbehörden das Verfahren gegen den betreffenden Mitarbeiter nicht einstellen, muss dieser immer in der Ungewissheit leben, dass ihm irgendwann doch noch ein Verfahren droht. Insofern ist es auch im Interesse des Betreffenden, dass ein solches Verfahren durchgeführt wird, welches ihn dann strafrechtlich entlastet.

Das OR (Obligationenrecht) kennt eine Fürsorgepflicht für die Mitarbeiter – gilt die auch noch, wenn so schwere Vorwürfe im Raum sind?

Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden gilt in meinen Augen immer, auch wenn schwere Vorwürfe im Raum sind.

Verbietet die Fürsorgepflicht dann nicht, dass man gegen einen Mitarbeiter bei einem solchen Vorwurf eine Strafanzeige stellt? Man liefert ihn ja dann quasi «ans Messer» – Oder braucht es so etwas wie eine minimale Plausibilität bei solchen Vorwürfen, dass sich eine Strafanzeige rechtfertigt?

Wie bereits ausgeführt, kann eine Strafanzeige auch zur Entlastung von Vorwürfen dienen. Insofern ist eine Strafanzeige nicht immer gegen die Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden. Es ist davon auszugehen, dass eine Krippenleitung die Plausibilität von Vorwürfen nur schwer einschätzen kann. Solche Vorwürfe kommen stets unerwartet. Die Angelegenheit ist am besten bei den Strafbehörden aufgehoben, die regelmässig mit solchen Dingen zu tun haben. Und nochmals: Die Krippe kann sich so etwas aus dem Kreuzfeuer nehmen.

Vorliegend wurde ein Strafuntersuchung geführt, die zum – wenig überraschenden – Ergebnis kam, der Tatvorwurf lasse sich nicht erhärten. Der Mitarbeiter in dem konkreten Fall stellt sich auf den Standpunkt: Wenn man keine Beweise findet, hätte man mich weiterbeschäftigen müssen.

Aus unternehmerischer Perspektive ist es sowohl für die Krippe als auch für den betreffenden Mitarbeiter auch nach einem Freispruch nicht zumutbar, dass der betreffende Mitarbeiter in der Krippe weiter beschäftigt wird. Auch wenn die Einstellung eines Strafverfahrens von Gesetzes wegen einem Freispruch gleichkommt, besteht bei einigen dennoch latent das Bauchgefühl bestehen, dass das Verfahren nur deshalb eingestellt wurde, da einfach nicht genügend Beweise für eine Verurteilung vorlagen. Gewisse Eltern würden ihre Kinder wohl nicht mehr in diese Krippe schicken, wenn die betreffenden Person weiter dort angestellt ist.

Um die Integrität des Mitarbeiters zu schützen, hat die Krippenleitung im vorliegenden Fall auch intern nichts über die Gründe des Ausscheidens kommuniziert. Ist das richtig so? Hätte Sie im Team die Gründe nennen dürfen oder hätte das die Unschuldsvermutung oder die Persönlichkeitsrechte des Mitarbeiters verletzt?

Diese Frage kann ich als Jurist nicht beurteilen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass alle Beteiligten nicht interessiert daran sind, dass dieser Fall öffentlich behandelt wird.

Gleichzeitig hat ja eine Krippe auch eine Verpflichtung gegenüber den Kunden, die in einem solchen Falle kein Vertrauen mehr in einen Mitarbeiter der Krippe haben. Kann man das überhaupt auflösen?

Dies ist vorliegend genau das Problem. Selbst wenn mit der Einstellung des Strafverfahrens eigentlich juristisch ein vollwertiger Freispruch vorliegt, könnte bei den Beteiligten (insbesondere den Eltern) das schlechte Gefühl aufkommen, dass der Freispruch nur deshalb zustande kam, da für eine Verurteilung die Beweise nicht ausreichten. Insofern kann die Krippe das Vertrauen nur wieder herstellen, wenn sie sich vom betreffenden Mitarbeitenden (sofort) trennt.

Gibt es Ratschläge an Krippenleitungen, was sie vorkehren können, um Verdachtsfälle gegen Mitarbeiter auf einfache Art und Weise ausräumen könnten?

Als einfachste Massnahme könnte ich mir vorstellen, dass ein Vieraugenprinzip Sicherheit schafft. Ist ein Mitarbeitender nie alleine, kann die zweite Person stets bezeugen, dass in seiner Präsenz keine Unregelmässigkeiten aufgetaucht sind. Dieses Vieraugenprinzip könnte insbesondere dort zum Einsatz kommen, wo Kinder umgezogen oder gewickelt werden.

 

*Das Interview wurde schriftlich per E-Mail geführt.

 

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