In einem aktuellen Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Schweiz gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung verstossen hat, indem sie die Wegweisung eines homosexuellen Asylsuchenden aus dem Iran genehmigt hat. Das Urteil führt zu intensiven Diskussionen, da es sich bereits um den dritten Fall innerhalb eines Jahres handelt, in dem die Schweiz vom EGMR gerügt wurde. Zuvor wurde die Schweiz verurteilt, weil sie zu wenig für den Klimaschutz für ältere Frauen unternimmt, sowie wegen der Abschiebung eines Drogenkuriers nach Bosnien, bei der das Recht auf Familienleben verletzt wurde.
In diesem Fall, der auf ein Asylgesuch von 2019 zurückgeht, argumentierte der 34-jährige Beschwerdeführer, dass er aufgrund seiner sexuellen Orientierung im Iran Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt sei. Nach eigenen Angaben wurde er von seiner Familie attackiert und verfolgt, nachdem diese von seiner Homosexualität erfahren hatte. Aufgrund der Gefahr suchte er zunächst Zuflucht in der Türkei, bevor er in die Schweiz weiterreiste. Obwohl die Schweizer Behörden seine Homosexualität nicht bestritten, wurde sein Asylgesuch abgelehnt, weil das Staatssekretariat für Migration (SEM) und das Bundesverwaltungsgericht der Ansicht waren, dass er im Iran sicher leben könne, wenn er seine sexuelle Orientierung diskret auslebe.
Der EGMR sah dies jedoch anders und stellte fest, dass die Schweiz das Risiko für den Mann nicht ausreichend beurteilt habe. Der Gerichtshof betonte, dass Homosexualität im Iran strafbar ist und dort mit teils drakonischen Strafen bis hin zur Todesstrafe belegt wird. Zudem wird Homophobie in der iranischen Gesellschaft aktiv geschürt, was bedeutet, dass die Bedrohung nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Gesellschaft und Familienangehörigen ausgeht. Berichte belegen, dass LGBTI-Personen im Iran regelmässig Diskriminierung und Gewalt erfahren, wobei die Behörden oft keine Schutzmassnahmen ergreifen. Der EGMR wies darauf hin, dass Diskretion nicht vor dem Risiko schützt, da Gerüchte und die Abweichung von gesellschaftlichen Normen (wie Heirat und Kinder) zu erheblichem Druck und potenziell gefährlichen Situationen führen können.
Ein weiterer Aspekt des Urteils betrifft die psychischen Auswirkungen, die eine erzwungene Verheimlichung der eigenen sexuellen Identität mit sich bringen könnte. Der EGMR argumentiert, dass der Zwang, die sexuelle Orientierung zu verbergen, erheblichen psychischen Schaden hervorrufen kann. Der Gerichtshof sah es als unzureichend an, dass die Schweizer Behörden dies nicht in die Beurteilung des Falles einbezogen hatten.
Das Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, doch das Bundesamt für Justiz analysiert derzeit die Entscheidung und prüft, ob eine Berufung an die Grosse Kammer des EGMR eingereicht werden soll. Sollte die Schweiz das Urteil akzeptieren, wird dies eine Neubewertung der Situation des Beschwerdeführers und potenziell eine Revision der Asylpraxis in ähnlichen Fällen erfordern. Das SEM weist in seinen Richtlinien zwar darauf hin, dass die bloße Strafbarkeit homosexueller Handlungen in einem Herkunftsland nicht automatisch eine Verfolgung bedeutet. Doch der EGMR stellt klar, dass allein das Risiko, die sexuelle Orientierung entdecken zu lassen, für Betroffene existenzielle Gefahren birgt.
Das Urteil könnte auch politische Auswirkungen haben. Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten für die Rechte von LGBTI-Personen betrachten die Entscheidung als wichtiges Signal gegen die Diskriminierung von Asylsuchenden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Sie fordern die Schweiz auf, in solchen Fällen umfassendere Abklärungen durchzuführen, um die Einhaltung der Menschenrechtskonvention zu gewährleisten.
Das Urteil des EGMR betont, dass Länder wie die Schweiz eine Verantwortung haben, Menschenrechte auch in Asylfällen zu wahren. Diese Entscheidung wird auch als Wegweiser für andere europäische Länder angesehen, die mit ähnlichen Fällen konfrontiert sind und nun möglicherweise ihre Verfahren anpassen müssen, um eine Abschiebung von gefährdeten LGBTI-Personen in diskriminierende Heimatländer zu verhindern.