Das Bundesgericht hat in einem wegweisenden Urteil (1C_63/2023) zentrale Bestimmungen des neuen Luzerner Polizeigesetzes für ungültig erklärt. Dies betrifft vor allem die automatisierte Erfassung von Fahrzeugen und deren Insassen, was weitreichende Folgen für die Polizeiarbeit in Luzern und anderen Kantonen der Schweiz haben könnte.
Die Lausanner Richter begründeten ihr Urteil mit dem Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung und der Überschreitung der kantonalen Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Strafverfolgung, die dem Bund vorbehalten ist. Die Diskussion um das Polizeigesetz wirft damit erneut die Frage auf, wie weit staatliche Überwachungsmassnahmen in einem liberalen Rechtsstaat gehen dürfen.
Das Luzerner Parlament hatte im Oktober 2022 eine Änderung des Polizeigesetzes verabschiedet, die der Polizei neue Möglichkeiten zur Verbrechensbekämpfung geben sollte. Die Reform sah vor, dass Polizeikameras entlang der Strassen automatisch jedes vorbeifahrende Fahrzeug erfassen und die Bilder in Echtzeit mit Fahndungslisten abgleichen. Diese so genannte automatisierte Fahrzeugfahndung (AFV) hätte nicht nur die Kennzeichen, sondern auch die Insassen erfasst und die Speicherung aller Daten für bis zu 100 Tage ermöglicht. Die neue Regelung stiess jedoch auf Widerstand und wurde von mehreren Privatpersonen und politischen Gruppierungen wie der SP und den Grünen angefochten. Im Februar 2023 gelangte die Beschwerde schliesslich ans Bundesgericht, das nun sein Urteil gefällt hat.
Grundrechtseingriff und Kompetenzüberschreitung
Das Bundesgericht kritisierte in seinem Urteil die umfassende Datenerhebung und -speicherung durch die AFV als unverhältnismässigen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Die Richter betonten, die automatisierte Überwachung verletze das Verhältnismässigkeitsprinzip und stelle einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung dar. Der kantonalen Regelung fehle eine ausreichende gesetzliche Grundlage, um derart umfassende Überwachungsmassnahmen zu rechtfertigen.
Ein zentraler Kritikpunkt ist die Gesetzgebungskompetenz. Gemäss Bundesgericht ist die Regelung der Strafverfolgung ausschliesslich Sache des Bundes und nicht der Kantone. Da die Überwachung primär der Verbrechensbekämpfung diene, sei die AFV nicht im kantonalen Recht verankert und bedürfe einer entsprechenden Regelung auf Bundesebene, etwa in der Strafprozessordnung.
Freude und Bedauern
Die Reaktionen der Luzerner Politik sind geteilt. SP und Grüne, die sich gegen das Gesetz ausgesprochen hatten, zeigten sich erfreut über das Urteil. Rahel Estermann, Kantonsrätin der Grünen und eine der Beschwerdeführerinnen, äusserte sich in der Berner Zeitung positiv und sprach von einem „Erfolg für die Bürgerrechte“. Für sie ist die flächendeckende Erfassung und Speicherung von Fahrzeugdaten „eine krasse Form der Massenüberwachung“. Estermann fordert nun einen „Marschhalt“ bei der Einführung von AFV-Systemen in anderen Kantonen. Besonders brisant ist der Fall Bern, wo die AFV bereits eingeführt wurde und ebenfalls eine Beschwerde hängig ist.
Auf der anderen Seite steht die SVP Luzern, die im Bundesgerichtsentscheid einen Rückschritt sieht. Der Entscheid erschwere die Arbeit der Polizei und gefährde die Sicherheit der Bevölkerung, schreibt die Partei in einer Mitteilung. „Der Täterschutz wird über den Opferschutz gestellt“, kritisierte die SVP. Sie forderte, dass bei schweren Verbrechen der Datenschutz zurückstehen und die Sicherheit der Bürger im Vordergrund stehen müsse.
Signalwirkung
Der Entscheid des Bundesgerichts hat Signalwirkung für andere Kantone. In Bern, Solothurn und Thurgau gibt es ebenfalls Regelungen zur automatisierten Fahrzeugfahndung, die nun möglicherweise überarbeitet werden müssen. Philippe Müller, Sicherheitsdirektor des Kantons Bern, äusserte sich laut SRF zurückhaltend und verwies darauf, dass die Berner Regelung Unterschiede zur Luzerner Regelung aufweise. So würden in Bern die Daten nur gespeichert, wenn ein Fahndungstreffer vorliege, und die Überwachung diene in erster Linie der Verbrechensprävention.
Dennoch wird auch das Berner Polizeigesetz nach Einschätzung von Experten einer strengen Prüfung durch das Bundesgericht unterliegen. Die Juristenvereinigung „Demokratische Juristinnen und Juristen“, die in Bern Beschwerde gegen das Gesetz eingereicht hatte, wertet das Urteil als klare Absage an eine „uferlose Massenüberwachung“. Für Bern bedeutet dies, dass das Urteil als Grundlage für eine allfällige künftige Ablehnung der kantonalen Regelung dienen könnte.
Polap
Ein weiterer Bestandteil des Luzerner Polizeigesetzes, der vom Bundesgericht aufgehoben wurde, ist die Einführung der zentralen Datenaustauschplattform „Polap“, die den Zugriff auf die polizeilichen Informationssysteme von Bund und Kantonen vereinfacht hätte. Diese Plattform hätte es ermöglicht, Daten ohne das sonst übliche Amtshilfeverfahren abzufragen, was die Effizienz der Polizeiarbeit erhöhen sollte. Das Bundesgericht lehnte diese Regelung jedoch mit der Begründung ab, sie stelle einen zu weit gehenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung dar und genüge nicht den gesetzlichen Anforderungen an Transparenz und Verhältnismässigkeit.
Auch der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger zeigte sich in einem Interview mit der NZZ besorgt über die mögliche Zentralisierung von Polizeidaten. Er bezeichnete die Pläne als „rechtsstaatlich problematisch“ und forderte, vor einer weiteren Zentralisierung die bestehenden Rechtsgrundlagen zu stärken. Lobsiger kritisierte eine zunehmende „technokratische Hektik“ bei digitalen Projekten, die Prinzipien wie Föderalismus und Gewaltenteilung gefährde.
Konsequenzen für den Einsatz intelligenter Technologien
Das Bundesgerichtsurteil schränkt nicht nur die AFV, sondern auch den Einsatz von künstlicher Intelligenz in polizeilichen Analysesystemen ein. Systeme wie Gesichtserkennung und andere automatisierte Verfahren zur Vorhersage von Straftaten dürfen nur eingesetzt werden, wenn der Einsatz menschlicher Analysten gewährleistet ist. Dies ist eine klare Einschränkung für den Einsatz von sogenannten „Predictive Policing“-Technologien, die in mehreren Kantonen und auch auf nationaler Ebene zunehmend diskutiert werden.
Mit diesem Urteil hat das Bundesgericht klargestellt, dass der automatisierten Fahrzeugfahndung in der Schweiz enge Grenzen gesetzt sind. Die kantonalen Gesetze zur Massenüberwachung stehen nun auf dem Prüfstand und es ist davon auszugehen, dass auch andere Kantone wie Bern und Solothurn ihre Regelungen überdenken müssen. Das Urteil könnte letztlich dazu führen, dass die Fahrzeugfahndung und ähnliche Überwachungsmassnahmen nur noch auf Bundesebene im Rahmen der Strafprozessordnung durchgeführt werden dürfen.
Von der Luzerner Regierung wurde das Urteil positiv aufgenommen, da es Rechtssicherheit schaffe, wie die Luzerner Regierungsrätin Ylfete Fanaj gegenüber der NZZ erklärte. Die Regierung werde das Urteil nun genau analysieren und das weitere Vorgehen festlegen. Für Kritiker wie die SP und die Grünen ist das Urteil hingegen ein wichtiger Erfolg für die Privatsphäre und den liberalen Rechtsstaat, während die AFV-Befürworter in der SVP eine Verschlechterung der inneren Sicherheit befürchten.
Insgesamt zeichnet das Bundesgerichtsurteil ein Bild, wie Überwachungsmassnahmen in der Schweiz geregelt werden sollen: Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung sind nur mit einer strengen gesetzlichen Grundlage zulässig und die Gesetzgebungskompetenz liegt im Bereich der Strafverfolgung beim Bund. Dieses Urteil dürfte die Grundlage für die Weiterentwicklung polizeilicher Überwachungsmassnahmen in den kommenden Jahren bilden und könnte die Diskussion um Datenschutz und Überwachung in der Schweiz grundlegend verändern.