Er habe immer eine Unterhose an, sagte der St. Galler Anwalt A.F. in dem Strafverfahren gegen ihn wegen Ausnützung einer Notlage. Doch dann veröffentlichte der BLICK wenige Stunden nach der Berufungsverhandlung ein durch ein Fenster aufgenommenes Nacktbild – mutmasslich geschossen von einem ehemaligen Mitarbeiter – und präsentierte es als «Beweis» für A.F.s Unglaubwürdigkeit. Zufall? Oder doch eher ein gezielter, publizistischer Angriff? Das St. Galler Kantonsgericht liess sich von der Aktion auf jeden Fall nicht blenden: A.F. wurde auch in der zweiten Instanz von Schuld und Strafe freigesprochen. Der Fall wirft ein schlechtes Licht auf die St. Galler Staatsanwaltschaft.
Am 18. Juni 2025 sprach das Kantonsgericht (Vizepräsident Yves Hiltebrand, Ersatzrichter Dominik Frischknecht und Stefan Schärli sowie Gerichtsschreiber Stefan Kürsteiner ) A.F. erneut frei. Die Ausnützung einer Notlage sei nicht nachgewiesen, der Tatbestand des Art. 193 nicht erfüllt. Das Gericht hielt im Dispositiv fest, dass keine Schuld vorliege und die Zivilklage der Privatklägerin grösstenteils abzuweisen sei.
Die Vorwürfe gegen Anwalt A.F. reichen in die Jahre 2020/21 zurück. Eine zwanzig Jahre jüngere Nachbarin und zeitweise Assistentin behauptete, der Anwalt und ihr Chef habe sich mehrfach nackt in seiner Kanzlei im Herzen der Stadt St. Gallen gezeigt und sexuell konnotierte Bewegungen an seinem Glied gemacht. Die Staatsanwaltschaft klagte A.F. schliesslich wegen mehrfacher Ausnutzung einer Notlage gemäss Art. 193 StGB an. Die Anklageschrift warf A.F. vor, er habe durch «sein Verhalten sexuelle Avancen gemacht». Er habe sich im Beisein der Assistentin «mehrfach völlig nackt, inklusive erigiertem oder zumindest teilweise erigiertem Glied» gezeigt und dabei «sexuell konnotierte Handlungen, insbesondere räumlich deutbare Masturbationsbewegungen» vorgenommen.
Doch bereits das Bezirksgericht St. Gallen sprach A.F. 2023 in erster Instanz vollumfänglich frei. Das Gericht hielt fest, dass keine Anzeichen für eine Notlage oder Abhängigkeit vorlagen. Es gebe keinen Beweis für eine sexuelle Absicht. Damit hätte die Geschichte ihr Ende finden können. Doch die Staatsanwaltschaft, vertreten durch Staatsanwältin Carmen Zaugg, liess trotz der eindeutigen und nachvollziehbaren Urteilsbegründung nicht locker, sondern reichte Berufung ein – und das ohne neue Beweismittel. Juristen auf dem Platz St. Gallen rieben sich die Augen. Bis heute vermuten nicht wenige, dass es mehr darum gehen sollte, ein Exempel zu statuieren, als einen vernünftigen Fall aufzubauen. Die Staatsanwaltschaft versuchte einen Fall einer ausgenützten Notlage nach Art. 193 StGB zu konstuieren. Die Verteidigung in der Person von Rechtsanwalt Bernhard Isenring sah im Plädoyer auch vor der Berufungsinstanz kein einziges Tatbestandsmerkmal dieses Artikels für erfüllt an.
«Man hätte spätestens 2022 einstellen müssen»
Isenring stellte klar, dass auch die Anwendbarkeit von Art. 194 StGB (Exhibitionismus) ausgeschlossen sei, da kein entsprechender Strafantrag fristgerecht gestellt worden war. Eine Verurteilung nach Art. 193 sei «absurd» und «offensichtlich konstruiert». Selbst wenn man der Darstellung der Privatklägerin noch folgen würde, (was die Verteidigung nicht tue), sei kein Abhängigkeitsverhältnis erkennbar. Die Frau habe das Büro jederzeit eigenmächtig verlassen können, und das bei anderer Gelegenheit auch getan, um Spaziergänge zu unternehmen oder einfach für mehrere Stunden allein unterwegs zu sein. Die von der Staatsanwaltschaft behauptete wirtschaftliche Notlage sei zudem in keiner Weise belegt.
Isenring stellte auch klar, dass die Staatsanwaltschaft in rechtsstaatlich bedenklicher Weise auch mehrere Jahre zurückliegende und bereits rechtskräftig eingestellte Verfahren heranzog, um den Beschuldigten als notorischen Exhibitionisten darzustellen. Er bezeichnete dieses Vorgehen der Staatsanwaltschaft als «skandalös». Und auch das Gericht urteilte schliesslich, der Versuch, mit den bereits verjährten oder eingestellten Verfahren Stimmung zu machen, sei unzulässig.
Der peinliche Moment vor Gericht
Im zweiten Verfahren vor dem Kantonsgericht versuchte Staatsanwältin Carmen Zaugg erneut, in das nackte Auftreten des Beklagten in seinem Büro eine sexuelle Handlung hineinzukonstruieren. In einem Vortrag, der eher an eine groteske Filmszene erinnerte, versuchte sie dem ausschliesslich männlich besetzten Spruchkörper anatomisch und sprachlich zu erklären, woran Masturbationsbewegungen zu erkennen seien. Isenring konterte trocken: „Ein Verhalten, das als unangebracht gewertet wird, ist nicht automatisch strafrechtlich relevant.“
Wie sich zeigte, hatte die Staatsanwältin die Begriffe «Masturbationsbewegungen» und «sexuelle Handlung» im Rahmen einer Einvernahme suggestiv eingebracht. Die Zeugin selbst habe solche Begriffe nie verwendet und auch keine solchen Vorwürfe erhoben, erklärte der Verteidiger. Im Gegenteil: Aus dem Protokoll ihrer Vernehmungen ergibt sich ein weitgehend banaler Eindruck. Auf die Frage, ob es schlimm gewesen sei, hatte die Mitarbeiterin geantwortet: «Ich habe es komisch gefunden, aber nicht schlimm.» Für die Verteidigung war damit erstellt, dass es hier um eine Medienkampagne und Rufmord gehe.
Dafür spricht auch eine weitere Kuriosität dieses Falles. Am Nachmittag nach der Berufungsverhandlung publizierte BLICK.CH unvermittelt ein angebliches Nacktbild von A.F. – aufgenommen mutmasslich aus dem Gebäude gegenüber der Kanzlei und durch ein Fenster. Der Fotograf oder die Fotografin wolle anonym bleiben, schrieb der BLICK, der sich gleichwohl auf eine Publikation einliess, weil die Bilder an der Glaubwürdigkeit von Anwalt A.F. rütteln würden. Im Prozess hatte dieser noch gesagt, er habe immer eine Unterhose an. Nur: Warum hatte der anonyme Fotograf die Bilder just im Anschluss an die Berufungsverhandlung an die Medien gegeben und nicht bereits in den Monaten zuvor – die Strafsache war schliesslich in den St. Galler Medien prominent breitgetreten worden. Die Sache riecht auf jeden Fall nach einem Komplott.
Gut möglich, dass die Sache am Ende nach hinten losgeht. Ein zivil- oder gar strafrechtliches Nachspiel gegen die Publikation erscheint juristisch möglich, falls ein Gericht auf Rufschädigung und Persönlichkeitsverletzung erkennen sollte. Strafrechtlich könnte Art. 179quater StGB (unbefugte Aufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbereich) einschlägig sein. Ein bekannter Fachmann für Krisenkommunikation gibt indes aber zu bedenken, dass ein weiteres Verfahren die Geschichte womöglich nur noch einmal dynamisieren und den bereits entstandenen Reputationsschaden noch einmal akzentuieren könnte.
Der Hund als Nebenschauplatz mit Wirkung
Im erstinstanzlichen Verfahren hatte die Staatsanwaltschaft noch versucht, aus der Anwesenheit der Hünding «Jenni» während den Nacktepisoden eine Tierschutzverletzung zu konstruieren und dem Beschuldigten eine «Zoophilie» zu unterstellen. Zudem war von der Zeugin behauptet worden, der Hund habe das Geschlechtsteil des Beschuldigten geleckt. Auch dieser Anklagepunkt wurde bereits erstinstanzlich verworfen und in der Berufung von der Staatsanwaltschaft nicht mehr vorgebracht worden. Während ihren Ausführungen kam Staatsanwältin Zaugg dann trotzdem wieder auf den Punkt zu sprechen, was unter Strafrechtlern indes als grobes Foulplay gilt. Der Verteidiger sprach denn auch von einem «grenzwertigen Versuch dem Angeklagten eine zusätzliche moralische Entgleisung zu unterstellen».
Urteil mit Schattenseiten
Einen kleinen Sieg gönnten die Richter am Kantonsgericht der Staatsanwaltschaft und damit Carmen Zaugg dennoch: Sie halbierten das Honorar des Verteidigers für das Verfahren vor der ersten Instanz von rund CHF 50’000 auf die Hälfte. Und auch für die zweite Instanz gewährte das Gericht eine nur sehr reduzierte Entschädigung von unter CHF 7’000.–. Ein Vorgehen, das auch andere Gerichte zum grossen Ärger der Strafverteidiger immer einmal wieder an den Tag legen, und das besonders gerne gegenüber «auswärtigen» Verteidigern: Wer – wie Isenring – nicht dem üblichen inneren Zirkulationssystem der Gerichtsbarkeit entstammt, dem wird gerne das Etikett des «zu teuren» Anwalts angeheftet.
Damit bleibt A.F. auf einem grossen Teil seiner Verteidigungskosten sitzen – obwohl er zweimal in allen Punkten freigesprochen wurde und kein strafrechtlich relevanter Vorwurf zurückbleibt. Denn eine vom Gericht abgewiesene oder zurückgestutzte Anwaltsentschädigung geht nicht einfach zulasten des Verteidigers, sondern muss dann eben von seinem Mandanten übernommen werden.
Der Preis des Freispruchs für A.F. ist damit hoch. Die Entschädigung für die Verteidigung aus der Gerichtskasse beträgt weniger als ein Drittel der tatsächlichen Kosten. A.F. selbst spricht von einem Gesamtschaden über 100’000 Franken – trotz doppeltem Freispruch. Den Reputationsschaden nicht einberechnet. Und die Staatsanwaltschaft St. Gallen muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie ein absurdes Verfahren wie dieses führt, das von Anfang an keinen Aussicht auf Erfolg hatte. Solche Fälle anzuklagen passt nicht zur ansonsten gerne gepflegten Behauptung einer hohen Arbeitsbelastung. Strafverfolgungsbehörden, die so verfahren, dürfen sich nicht wundern, wenn ihnen die Politik zusätzliche Kapazitäten versagt.
Titelbild: KI genierte Situation
Kommentar
Ideologischer Eifer
Am 18. Juni 2025 bestätigte auch die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen A.F.s Freispruch.
Auch die Berufungsinstanz erkannte, dass das angeklagte Verhalten des Anwalts A.F., sich im Büro bisweilen nackt auszuziehen, zwar einigermassen absurd erscheinen mag, aber unter den gegebenen Umständen keinen Straftatbestand erfüllte. Die Forderungen der Privatklägerin (Schadenersatz und Genugtuung) wurden abgewiesen bzw. auf den Zivilweg verwiesen.
Zudem auferlegte das Gericht den allergrössten Teil der Verfahrenskosten dem Staat und sprach A.F eine Entschädigung für seine Anwaltskosten zu. Dieses eindeutige Ergebnis wirft ein Schlaglicht auf den Charakter des Verfahrens – und es drängt sich die Frage auf, ob hier eine Anklage mit ideologischem Eifer geführt wurde, anstatt nüchtern juristisch zu arbeiten.
Der erfahrene Strafverteidiger Dr. Bernhard Isenring, der A.F. im Berufungsverfahren vertrat, hielt der Staatsanwaltschaft in seinem Plädoyer unverblümt vor, das Verfahren hätte gar nie vor Gericht kommen dürfen. Dennoch hatte die Staatsanwaltschaft „krampfhaft“ versucht, einen Fall zu konstruieren und Sachverhaltselemente zu suggerien, die selbst in den Schilderungen der angeblichen Geschädigten nirgends vorkamen. Ein solches Vorgehen ist nicht weniger absurd als die Nacktanwandlungen des Beschuldigten.
So hat die Anklagebehörde die Vorwürfe Vortrag der Privatklägerin nicht nur unkritisch übernommen, sondern sogar noch dramatisierend ausgeschmückt. Hinweise etwa auf eine angebliche Zoophilie oder aktive sexuelle Handlungen entsprangen mehr der Phantasie einer übereifrigen Staatsanwältin, als dass sie den Ermittlungsergebnissen entsprochen hätten.
Das weckt den Verdacht, dass es hier womöglich weniger darum ging, einen Sachverhalt strafrechtlich sauber aufzuarbeiten, als darum, es dem durchaus als schillernden Figur bekannten Anwalt A.F. – nota bene selbst ehemaliger Staatsanwalt – einmal so richtig zu zeigen.
Eine solche Haltung einer Staatsanwältin dürfe nicht toleriert werden und keinen Platz haben, betonte Verteidiger Isenring vor Gericht. Und ihm ist zuzustimmen.
Die Staatsanwaltschaft hat sich in ein Verfahren verbissen, das bei rechtsstaatlicher Betrachtung nie vor Gericht gehört hätte. Und die mediale Begleitkampagne zeigt, wie wenig Schutz freigesprochene Personen vor der öffentlichen Meinung geniessen.
Der Staat schuldet seinen Bürgern nicht nur Verfahren nach Recht und Gesetz, sondern auch Schutz vor willkürlicher Anklage und sozialer Vernichtung. Wenn dieser Schutz versagt, steht nicht der Angeklagte nackt da. Sondern die Justiz selbst.
Roger Huber
Feministisch geprägte Strafverfolgung? Eine Frage der Ideologie
Der Freispruch von A.F. lenkt den Blick auf ein heikles Thema:
Halten ideologische – insbesondere feministisch geprägte – Argumentationsmuster Einzug in die Strafverfolgung?
Gerade bei jüngeren Staatsanwältinnen, so die provokante Frage, könnte ein übersteigertes Engagement für bestimmte gesellschaftspolitische Anliegen die objektive Rechtsanwendung überlagern. Im vorliegenden Fall war die federführende Anklägerin tatsächlich eine jüngere Frau (Carmen Zaugg), die in Medien als „forsch“ und unerbittlich“ beschrieben wird. Ein Beobachter kommentierte spitz, die „forsche Staatsanwältin“ wolle dem nun gesellschaftlich geächteten A.F. mit einem harten Urteil‚ den Rest geben‘“. Diese Wortwahl deutet an, dass hier offenbar mit grossem Eifer – manch einer würde sagen: mit missionarischem Furor – Anklage geführt wurde. Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe (14 Monate Gefängnis auf Bewährung) erschien nicht nur dem Verteidiger als auffallend hoch und unverhältnismässig. In unserem Artikel «Der nackte Mann – ein ehemaliger Staatsanwalt steht vor Gericht» mutmasste der Autor gar, ob dies eine “interne Abrechnung” unter Juristen sei – ein Versuch, einem als Heuchler empfundenen Ex-Kollegen besonders hart zuzusetzen.
Doch geht es wirklich um Feminismus? Oder schlicht um persönliche Befangenheit und Profilierung? Tatsache ist: Sexualstrafrecht wird seit einigen Jahren – auch unter dem Eindruck von #MeToo – von intensiven gesellschaftlichen Debatten begleitet. Schlagworte wie “Victim Blaming” oder “Believe Women” prägen den Diskurs. Es zeichnet sich eine Tendenz ab, Opferaussagen sehr starkes Gewicht beizumessen und strafwürdiges Verhalten rigoroser zu verfolgen, insbesondere wenn Machtgefälle im Spiel sind (etwa Vorgesetzter gegenüber Untergebener). Diese Haltung ist im Kern von legitimen Anliegen gespeist – dem Schutz potentiell Schwächerer und der Ahndung von Übergriffen. Allerdings besteht die Gefahr, dass einzelne Strafverfolger dabei ihre gebotene Neutralität verlieren und gleichsam zu Parteiischen werden. Im deutschen Sprachraum gab es kürzlich einen aufsehenerregenden Fall, der diese Problematik ins Scheinwerferlicht rückte:
In einem Verfahren wegen Vergewaltigung in Deutschland erklärte eine Staatsanwältin offen in ihrem Schlussplädoyer, sie sei “bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen” – als Feministin und persönlich Betroffene empfinde sie es als unerträglich, dass sich ein mutmassliches Opfer in der Verhandlung kritischen Fragen stellen und wegen ihres Aussageverhaltens rechtfertigen müsse. Diese Staatsanwältin legte ihre feministische Überzeugung bewusst auf den Tisch und sah darin kein Problem, solange sie es transparent mache. Ihre Äusserung führte zu einem Befangenheitsantrag der Verteidigung. Der deutsche Bundesgerichtshof befasste sich 2024 mit dem Fall – und entschied, dass die Mitwirkung einer „feministisch voreingenommenen“ Sitzungsvertreterin der Anklage nur dann einen Revisonsgrund darstelle, wenn ihr Verhalten sich als “Missbrauch staatlicher Macht” darlege und vom Gericht unkompensiert bliebe. Im konkreten Fall sah der BGH diese Schwelle als nicht überschritten an und verneinte eine Verletzung des fairen Verfahrens. Bemerkenswert ist jedoch, dass ein solcher Fall überhaupt eingetreten ist. Tonio Walter, Strafrechtsprofessor und Kommentator, kritisierte das Karlsruher Gericht scharf: Es müsse selbstverständlich sein, Hauptverhandlungen mit offensichtlich befangenen Anklägern gar nicht erst zu führen – die Anwesenheit einer derart voreingenommenen Staatsanwältin sei an sich bereits ein absoluter Revisionsgrund. Walters Position macht deutlich, wie besorgniserregend eine ideologisch eingefärbte Strafverfolgung aus rechtsstaatlicher Sicht ist: Die Staatsanwaltschaft hat unparteiisch „Wächterin des Gesetzes“ zu sein, nicht Anwältin einer politischen Agenda.
In der Schweiz sind derart extreme Beispiele (noch) kaum publik geworden. Es gibt keine bekannten Fälle, in denen Staatsanwältinnen offen ihre feministische Befangenheit eingeräumt hätten. Dennoch vernimmt man in juristischen Fachkreisen informelle Klagen über eine mitunter missionarische Strenge gerade junger Ankläger, insbesondere in Fällen von Sexualdelikten oder häuslicher Gewalt. Strafverteidiger berichten hinter vorgehaltener Hand, man spüre gelegentlich einen „Zeitgeist“, der das Handeln gewisser Staatsanwälte beeinflusse – etwa die Neigung, Beschuldigten von vornherein zu misstrauen und auf Teufel komm raus eine Verurteilung anzustreben, selbst wenn die Beweislage dünn ist. Belastbare Studien oder Statistiken zu einer „ideologischen Ausrichtung“ von Staatsanwaltschaften existieren indes kaum. Die meisten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte dürften sich ihrer Pflicht zur Objektivität bewusst sein und redlich bemüht, persönliche Werte und Überzeugungen im Dienst auszublenden. Allerdings, wie eine Juristin treffend anmerkt, sind auch Strafverfolger “alle nur Menschen”, die eigene Lebenserfahrungen und Werthaltungen mitbringen – “egal wie sehr man sich bemüht, irgendwo fliesst das immer ein klein wenig in unsere Arbeit ein”.
Stimmen aus Praxis und Wissenschaft: Qualitätssicherung und Fehlentwicklungen
Fachleute weisen darauf hin, dass das System der Strafverfolgung selbst strukturelle Risiken birgt, die ideologische Fehlentwicklungen begünstigen könnten. In der Schweiz werden Staatsanwälte administrativ meist der Exekutive zugerechnet, nicht der Judikative. Sie führen die Untersuchungen und erledigen den Grossteil der Strafverfahren per Strafbefehl selbst – ohne dass ein Richter involviert wäre. 98 % aller Fälle entscheiden heute Staatsanwältinnen und Staatsanwälte eigenständig am Schreibtisch. Dieses effizienzgetriebene System hat Vorteile, birgt aber auch Gefahren: „Die Arbeit der Staatsanwälte lässt sich schlecht kontrollieren“, warnt etwa Christoph Ill, der Erste Staatsanwalt des Kantons St. Gallen (und damit der Vorgesetzte von Carmen Zaugg). Weder Einstellungsverfügungen noch Strafbefehle unterliegen einer systematischen öffentlichen Überprüfung; sie müssen oft nicht einmal begründet werden. Transparenz- und Kontrolllücken sind somit vorhanden. Wenn also ein Staatsanwalt – aus welchen Motiven auch immer – ein Verfahren mit übermässigem Eifer vorantreibt oder einen Sachverhalt einseitig interpretiert, kommt dies selten ans Licht, solange der Beschuldigte den Strafbefehl akzeptiert. Erst wenn es zum Prozess vor Gericht kommt (weil Einspruch erhoben oder das Delikt zu schwer für den Strafbefehl ist), findet eine gerichtliche Korrektur statt. Der Fall A.F ist ein exemplarisches Beispiel für eine solche Korrektur: Hier musste erst ein vollständiges Gerichtsverfahren durchlaufen werden, in dem die Vorwürfe sich als nicht gerichtsfest erwiesen – am Ende steht der Freispruch und sogar eine Entschädigung für den zu Unrecht Verfolgten.
Aus Sicht vieler Praktiker zeigt dies auch, dass das System im Grunde funktioniert: Ein unabhängiges Gericht hat eine überzogene Anklage gebremst. Doch die Frage ist erlaubt, warum es überhaupt so weit kommen konnte. Qualitätssicherung in der Justiz beginnt schon bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Wenn – wie hier – ein offensichtlich lückenhafter Tatbestand (Nacktheit ohne ausdrückliche sexuelle Handlungen) durch kreative juristische Konstruktionen und emotionale Aufladung zur Anklage gebracht wird, stellt sich die Frage nach der internen Kontrolle: Prüft niemand im Staatsanwaltshierarchie kritisch die Stimmigkeit von Anklageschriften? Gibt es innerhalb der Behörden ein Korrektiv gegen möglichen Übereifer? Ein erfahrener Strafjurist mag einwenden, dass jeder Beschuldigte ja die gerichtliche Prüfung suchen kann; doch gerade bei geringeren Vorwürfen scheuen viele den aufwendigen Prozess und akzeptieren lieber einen Strafbefehl – selbst wenn er unbegründet ist. Hier schlummern potenzielle Fehlentwicklungen in der Anklagepraxis, die wenig sichtbar bleiben.
Immerhin: Fälle wie jener von A.F. werden öffentlich diskutiert und sensibilisieren für das Spannungsverhältnis zwischen berechtigtem Engagement und gebotener Objektivität. In Deutschland hat die Debatte um die „feministische Staatsanwältin“ bereits die Fachwelt bewegt – die Entscheidung des BGH „wirft die Frage auf, inwieweit subjektive Überzeugungen der Pflicht zur Objektivität entgegenstehen bzw. diese gar konterkarieren“, wie eine Strafrechtsdozentin kommentierte. In der Schweiz finden solche Diskussionen meist hinter den Kulissen statt. Formelle Beschwerden gegen angeblich voreingenommene Staatsanwälte sind rar; es fehlt auch an klaren gesetzlichen Instrumenten, um Anklagebehörden wegen Befangenheit abzulehnen (analog zur Richterablehnung). Daher ist die Kultur innerhalb der Staatsanwaltschaften entscheidend: Werden dort unterschiedliche Sichtweisen zugelassen? Gibt es eine Fehlerkultur und Supervision, die verhindert, dass Einzelne sich in einen „Kreuzzug“ verrennen? Oder droht eine Politisierung, bei der etwa ein neues, stärker feministisches Selbstverständnis mancher Strafverfolger unreflektiert die Verfahren prägt?
Mangels empirischer Studien bleibt vieles Spekulation. Doch informelle Einschätzungen von Praktikern deuten an, dass man wachsam sein muss. Der bekannte Strafverteidiger Urs Oswald beispielsweise beklagte in einem Interview, es gebe Fälle, in denen „mit vorgefasster Meinung und Tunnelblick“ ermittelt werde – was er auf eine Mischung aus Unerfahrenheit und persönlicher Voreingenommenheit zurückführt (Quelle mündlich, sinngemäss). Andere Anwälte berichten, dass jüngere Staatsanwältinnen durchaus eine neue Sensibilität für sexualisierte Gewalt mitbringen – was positiv sei – jedoch müsse diese stets gepaart bleiben mit rechtsstaatlicher Distanz und Bereitschaft, auch zu non liquet (Nicht-Erhärtung der Vorwürfe) zu stehen, anstatt um jeden Preis einen Schuldspruch zu erzwingen.
Rechtsstaatlichkeit als Korrektiv gegenüber Eifer und Agenda
Der Fall A.F. zeigt in aller Deutlichkeit: Ideologie hat im Strafprozess nichts verloren – sei es in Form eines übersteigerten Sendungsbewusstseins oder anderer Beweggründe, die von der nüchternen Anwendung des Gesetzes wegführen. Natürlich dürfen und sollen Staatsanwälte gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen und etwa bei Sexualdelikten mit der nötigen Sensibilität vorgehen. Doch die Grenze zur Befangenheit ist überschritten, wenn ein/e Staatsanwalt/Staatsanwältin den Ausgang eines Verfahrens als persönliche Mission betrachtet. A.F.s Verteidiger sprach von einer Hexenjagd mit fragwürdigen Mitteln, und das Kantonsgericht hat am Ende deutlich gemacht, dass dem keine Rechtsgrundlage untergeschoben werden kann.
Einen absoluten Freibrief haben Beschuldigte damit freilich nicht – die meisten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte leisten sachliche Arbeit im Dienste der Gerechtigkeit. Doch es ist Aufgabe des Rechtsstaats, stets darauf zu achten, dass Objektivität, Verhältnismässigkeit und Zurückhaltung gewahrt bleiben. Strafrecht ist scharfes Schwert, es sollte – so formulierte es Christoph Ill – „Ultima Ratio“ und nicht Werkzeug politischer oder ideologischer Feldzüge sein. Im Zweifel muss ein unabhängiges Gericht korrigierend eingreifen. Im Fall A.F. ist dies geschehen, zum Glück für den Angeklagten und zum Erhalt rechtsstaatlicher Prinzipien. Doch man wird aus diesem Fall Lehren ziehen müssen: vielleicht in Form interner Schulungen für junge Staatsanwälte über die Grenzen des Art. 193 StGB, vielleicht in Form eines kritischeren Vier-Augen-Prinzips bei heiklen Anklagen. Und nicht zuletzt sollten Fälle wie dieser offen diskutiert werden – damit Eifer und Ideologie in der Strafverfolgung rechtzeitig erkannt und eingedämmt werden, bevor Unschuldige zu Schaden kommen.
