Der Fall des „Heilers von Näfels“ schlug medial Wellen. Ein Bericht von SRF Kassensturz machte im Herbst 2023 publik, dass die Staatsanwaltschaft fünf Jahre bis zu einer Anklage des Vergewaltigers benötigte und in dieser Zeit eine weitere minderjährige Person von ihm missbraucht wurde. Es ist nichts weniger als ein Justizskandal. Diese Woche wurde ein Experten-Bericht veröffentlicht, der die Umstände davon untersuchte.
Nicole B. brauchte Hilfe. Sie hatte chronische Rückenschmerzen, bisher hatte nichts geholfen. Der Heiler, den sie im am Karfreitag 2013 besuchte, war sozusagen ihre letzte Hoffnung. Was sie da jedoch erwartete, war ein brutaler Missbrauch. Sie nahm in seiner Praxis Platz. Er sagte, dass sie etwas trinken müsse und gab ihr ein Glas Multivitaminsaft, das bereits dastand. Der Saft enthielt auch ein starkes Schlafmittel. Sie begab sich darauf auf die Therapieliege, wo sie nach kurzer Zeit sediert dalag. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, nicht schreien. Der Täter meinte sie bewusstlos und beging sie zu missbrauchen.
Nicole B. sagte gegenüber SRF: „Ich habe wirklich alles, und das ist das Grausamste, miterlebt. Ich lag auf dem Schragen, er drehte mich zur Seite, verging sich an mir, grob und grausam, ich lag da und wollte nur noch sterben, einfach nur sterben.“ Der Missbrauch dauerte über eine Stunde. Schockiert und voller Angst wurde sie von ihrer Freundin abgeholt. Nicole B. fand noch im gleichen Jahr die Kraft ihren Peiniger anzuzeigen.
Nach vier Tagen wieder auf freiem Fuss
Drei Monate nach der Anzeige nahm die Polizei den Täter fest und führte eine Hausdurchsuchung durch. Sie fand mehrere Packungen rezeptpflichtiger Psychopharmaka, die sedierend wirken. In seinen Google-Recherchen entdeckte man zudem Anfragen zu „KO-Tropfen“ und „Narkotikum“, die er wenige Wochen vor dem Missbrauch von Nicole B getätigt hatte. Der Beschuldigte kam für einige Tage in Untersuchungshaft. Die fallführende Staatsanwältin entliess ihn wieder, obwohl sie bereits Kenntnis von einer weiteren Anzeige wegen Missbrauchs hatte – von einem Kind. Es war die Anzeige seiner früheren Stieftochter, die aussagte, dass er sie im Alter von 13 Jahren missbraucht hatte.
Am Anfang lag der Fall noch bei der zuständigen Staatsanwältin. Ende 2013 gab sie den Fall aus gesundheitlichen Gründen ab, verliess kurz darauf die Staatsanwaltschaft Glarus. Den Fall übernahm dann der leitende Staatsanwalt Willi Berchten.
Der vermeintliche Heiler konnte seine Therapien in Näfels weiterhin anbieten, als wäre nichts geschehen. Drei Jahre vergingen, ohne dass Willi Berchten Anklage erhob. 2015 schlug der selbsternannte Heiler wieder zu. Er empfing ein 17-jähriges Mädchen zu einer Behandlung. Zuerst verabreichte er ihr ein Getränk, versetzt mit Schlafmittel, dann folgte der Missbrauch.
Oberster Staatsanwalt lässt den Fall liegen
Der Täter blieb auch nach der Anzeige des dritten Opfers frei. Es verging ein weiteres Jahr, ohne dass der zuständige Staatsanwalt Anklage erhob. Für die Opferanwältinnen unhaltbar. Sie reichten daraufhin gegen Staatsanwalt Willi Berchten Beschwerde wegen Rechtsverweigerung ein: es sei festzustellen, dass «vorliegend das Beschleunigungsgebot verletzt ist und Anklage bis spätestens Ende April 2017 zu erheben ist», schrieben die Anwält:innen. Dann endlich die Anklage: fünf Jahre nach Nicole B.s Anzeige. Das Obergericht Glarus, die auch für die qualitative Prüfung der Staatsanwaltschaft zuständig ist, kritisierte später die zu lange Dauer des Strafverfahrens und hielt fest: „Das Beschleunigungsgebot ist vorliegend in allen Verfahrensabschnitten verletzt.“
Strukturelle Probleme
Die Staatsanwaltschaft erhob also erst im April 2017 Anklage. Es dauerte schlussendlich fast zehn Jahre, bis der mehrfache Missbrauchstäter in letzter Instanz verurteilt wurde. Wie es so lange bis zur Anklage dauern konnte, beleuchtet nun eine Untersuchung des ehemaligen Ausserrhoder Staatsanwalts Christian Bötschi.
Bötschi erkennt mehrere Probleme, die dazu geführt haben, dass es so lange gedauert hat.
Ein Kernpunkt seiner Nachforschungen sind strukturelle Probleme dieser Zeit. Nach der Einführung der schweizerischen Strafprozessordnung 2011 sei die Arbeitsbelastung bereits hoch gewesen und dadurch noch mehr geworden. Das Personal wurde erst später aufgestockt, als der neue leitende Staatsanwalt eingesetzt wurde. Es gab zu wenig Personal. Auch für die 2013 ausscheidende Staatsanwältin, die zuerst mit dem Fall betraut war, konnte keine Nachfolge gefunden werden. Der Handwechsel des Falles von ihr zum leitenden Staatsanwalt führte zu einer weiteren Verzögerung.
Willi Berchter wurde 2014 dann auch noch zum Amtsleiter ernannt. Die Arbeitsbelastung wurde für ihn dadurch noch grösser. Darüber, dass eine zu hohe Arbeitslast da war, informierte er das Departement kaum. Der damalige Erste Staatsanwalt sah laut Bötschi „keinen Anlass, im Detail über den Fall zu sprechen“. Überhaupt habe die Staatsanwaltschaft trotz der hohen Arbeitsbelastung das Departement zu schwierigen oder langen Verfahren kaum informiert. Weiterer Grund für die lange Verfahrensdauer waren laut Bötschi die Komplexität des Falles mit mehreren Opfern und die schwierige Beweislage.
„Individuelle Fehleinschätzung“
Bötschi wird deutlich, wenn es um das individuelle Verhalten von Willi Berchter geht, was zu langen Verzögerungen des Verfahrens geführt hat: „Es ist aber ebenso offensichtlich, dass der nun fallführende Staatsanwalt dieses Verfahren nicht prioritär behandelte. Dies mag für den externen Betrachter, aber auch für das betroffene Opfer schwer nachvollziehbar sein und hat auch bei der gerichtlichen Beurteil zu einer Rüge in Form einer Strafmilderung geführt. Dieses Vorgehen kann objektiv gesehen als falsch beurteilt werden.“ Er wollte scheinbar andere Pendenzen eher erledigen. „Der Entscheid, dieses Verfahren aus diesen Überlegungen nicht vorrangig zu behandeln, entschuldigt weder die lange Verfahrensdauer noch die zusätzliche Belastung, welche insbesondere den Opfern daraus entstanden ist, kann aber durchaus als Erklärung aufgeführt werden“, so die externe Einschätzung Bötschis.
Zudem gab es eine Fehleinschätzung des Staatsanwalts bezüglich Schwierigkeit und Aufwand. „Dieser ist seinerseits bis zum Eingang der Rechtsverweigerungsbeschwerden immer davon ausgegangen, dass er dieses Verfahren im Rahmen seiner normalen Tätigkeit und ohne zusätzliche Unterstützung erledigen könne. Allerdings hat er angesichts dieser Einschätzung auch darauf verzichtet, dieses Verfahren prioritär zu behandeln oder das Departement über die aufwändige Untersuchung detailliert zu orientieren“.
Personalmangel ist Kernproblem
Erste Veränderungen wurden bereits 2017 vollzogen, erläutert der Bericht. Das Departement Sicherheit und Justiz und die Staatsanwaltschaft regelten nach einer Sonderprüfung der landrätlichen Geschäftsprüfungskommission (GPK): Die Staatsanwaltschaft solle nun deutlich früher Alarm schlagen, wenn Fälle liegen zu bleiben drohen.
Der heutige Erste Staatsanwalt Patrick Fluri hat 2019 zusätzliches Personal bekommen. Der Experte Christian Bötschi mahnt aber: Der Landrat müsse „der Staatsanwaltschaft jene Mittel zur Verfügung stellen, die für die Gewährleistung einer funktionierenden Strafverfolgung erforderlich sind.“ Auch wurde die Kontrolle durch das Departement intensiviert. Die Staatsanwaltschaft hat nun vierteljährlich Rechnung über ihre Pendenzen zu tragen.
Drei zerstörte Leben: 27 Monate Haft
Das lange und verschleppte Verfahren hatte diverse Konsequenzen zur Folge. Obwohl der Bericht Bötschis nicht erkennen kann, dass das Verhalten der Staatsanwaltschaft zu einem weiteren Missbrauch geführt hat, ist bereits Kritik im SRF-Beitrag geäussert worden: „So etwas dürfte eigentlich gar nie passieren.
Dass er überhaupt mehrere Opfer missbrauchen konnte, hatte damit zu tun, dass offenbar die Wiederholungsgefahr verneint worden ist von den damaligen Strafverfolgungsbehörden“, sagte Anwältin Andrea Stäuble. Der Täter wurde erst letztinstanzlich vor Bundesgericht verurteilt. Das Strafmass betrug 27 Monate Freiheitsentzug. Er erhielt aufgrund der langen Verfahrensdauer einen Strafrabatt.
Regierungsrat sorgt für nächsten Eklat
Den im November veröffentlichten GPK-Bericht, sowie den nun umfassenderen Bericht von Experte Bötschi wurden diese Woche vorgestellt. GPK-Präsidentin Barbara Rhyner (SVP) machte laut „Südostschweiz“ an der Pressekonferenz den Justizskandal zu einem „Medienskandal“. Die Medienberichte in den „Glarner Nachrichten“ über den Bericht Bötschi trieben ihr Zornes- und Schamröte ins Gesicht. Es würden darin nur die negativen, aber nicht die entlastenden Punkte aufgezeigt. Sie beschäftigte sich also lieber damit, die Überbringer der Botschaft zu kritisieren, statt sich in Selbstkritik zu üben. Der Bericht Bötschi hielt klar fest, dass auch der Landrat für genügend Personal sorgen müsse, damit die Staatsanwaltschaft ihren Pflichten nachkommen kann.
Die SVP-Landrätin und Lehrerin aus Elm argumentierte dann auch noch, schuld sei nicht der Personalmangel, sondern dass die Justiz sich mit zu viel kleinen Vergehen beschäftigen müsse – obwohl der Bericht eines externen Experten, den sie eigentlich gerade vorstellen sollte, Gegenteiliges aussagte und als ob es an ihr wäre die jeweiligen Strafanzeigen auf ihre Relevanz zu bewerten.
Wenigstens Ruedi Schwitter (GLP) konterte laut „Südostschweiz“, dass schon 2013 der kantonale Tätigkeitsbericht davor gewarnt habe, dass die Staatsanwaltschaft vor allem von mittleren und grösseren Straffällen personell überfordert sein könnte. „Als Aussenstehender bekommt man den Eindruck, mit der Rechtsstaatlichkeit sei es im Kanton Glarus schlecht bestellt“, so Schwitter. Ihn erstaune es auch, dass im Budget 2025 keine zusätzlichen Mittel für die Strafverfolgungsbehörde vorgesehen seien. Denn Gerechtigkeit und Demokratie seien nur möglich, wenn die Verwaltung und die Staatsanwaltschaft funktionierten, so Schwitter.
Rolf Blumer (SVP), der die externe Untersuchung angestossen hatte, warf zudem Regierungsrat Andrea Bettiga (FDP) (Bild) vor, sich hinter der Gewaltentrennung zu verstecken. Dieser war als Departementsleiter Sicherheit und Justiz die ganze fragliche Zeit der Vorgesetzte jenes Ersten Staatsanwalts. Blumer bezweifelte auch, dass die Justiz heute Bedrohte und Opfer schütze.
Andrea Bettiga übte sich am Mittwoch im Landrat lieber im Schweigen. Die „Südostschweiz“ schreibt: „Kein Wort des Bedauerns, kein Wort des Mitgefühls, keine Bitte um Entschuldigung an die Adresse der drei Frauen, die Opfer in einem der grössten Glarner Missbrauchsfälle geworden sind. Das wäre das Mindeste gewesen.“ Bettiga machte dabei auch gar nicht erst den Versuch aufzuzeigen, was unter seiner Leitung verbessert worden ist.
Genugtuung für Opfer nur im reduzierten Satz
Der Bericht des „Kassensturz“ machte im Oktober 2023 einen weiteren haarsträubenden Aspekt dieses Falles bekannt. Der Täter war im Zuge seiner Strafe auch zu einer Genugtuungszahlung von 12’000 Franken an Nicole B. verurteilt worden. Da er selbst über kein Geld verfügte, musste der Kanton für die Genugtuung aufkommen. Der Kanton Glarus, der in so einem Fall nicht verpflichtet ist die volle Genugtuung zu übernehmen, wollte dann tatsächlich nur 7500 Franken bezahlen. Die Anwältin Beatrice Müller sagte damals: „Das führt zu einer erneuten sekundären Viktimisierung, weil das Opfer diese Kürzung nicht nachvollziehen kann. Und seien wir realistisch: Der Kanton Glarus wäre nicht bankrottgegangen, wenn er die ganze Genugtuung ausbezahlt hätte.“
Es ist ein weiterer Aspekt, der in ein Paradigma passt, dass sich Justiz und Verwaltung im Kanton Glarus herzlich wenig um die Opfer von sexuellem Missbrauch und das damit verbundene Leid kümmern. Der Fall wurde jahrelang verschleppt, der leitende Staatsanwalt ist sich keiner Mitschuld bewusst, einem Opfer wird auch noch die Genugtuung gekürzt. Zudem will auf Justiz- wie auch auf Politischer Ebene niemand so richtig Verantwortung übernehmen. Es ist ein furchtbares Zeichen, das der Kanton Glarus an alle Opfer von sexueller Gewalt aussendet. Nicole B. sagte im SRF-Beitrag: „Der Missbrauch traumatisierte mich, doch das Versagen der Glarner Justizbehörden war für mich fast noch schlimmer.“ Genau das darf nicht geschehen.
Was nun?
Der Täter kam 27 Monate in Haft. Er dürfte mittlerweile schon wieder auf freiem Fuss sein. Der „Kassensturz“ befragte zudem zwei Experten zum Rückfallrisiko des Täters. Beide bestätigten, dass es die hohe Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls gibt. Der Forensiker Frank Urbaniok sagte: „Der Täter setzte ein Schlafmittel ein, er ist nicht geständig, er wurde während dem Strafverfahren rückfällig und er missbrauchte mehrere Opfer. Das sind eine Fülle von Merkmalen, die darauf hinweisen, dass sein Vorgehen eng mit seiner Persönlichkeit verbunden ist. Dementsprechend muss man von einem hohen Rückfallrisiko ausgehen.“
Mit dem neuen Sexualstrafrecht gibt es mittlerweile die Möglichkeit Täter in Lernprogramme und Abklärungen zu stecken. Zum Zeitpunkt des Verfahrens gegen den „Heiler von Näfels“ gab es diese Möglichkeit noch nicht. Es ist damit ein wichtiges Mittel, um Frauen in der Gesellschaft nachhaltig zu schützen. Die Justiz müsste es dazu aber auch ergreifen. Dazu müsste man das Leid der Missbrauchsopfer aber erkennen und die Ernsthaftigkeit solcher Fälle verstehen.
Der heutige Erste Staatsanwalt, Patrick Fluri, beruflich von Lachen/SZ nach Glarus gezogen, hatte aber trotz Überbelastung Zeit, ein Urteil des Glarner Obergerichts an das Bundesgericht weiterzuziehen. Diesem gemäss hatte ein kaum sichtbarer, bzw. falsch aufgestellter Blitzer am Kerenzerberg an Ostern 2021 rund 600 Fahrzeugen zu Unrecht geblitzt. Prompt hob das Bundesgericht das Urteil des Glarner Obergerichts auf, weshalb die Sache mit der primär finanziell motivierte Blitzerei an das Glarner Kantonsgericht zurückgewiesen wurde.
Die glarner Gerichte haben seit Jahrzehnten ein gravierendes Problem, Recht korrekt umzusetzen. Verfahren, die knapp vor der Verjährung stehen, werden durch das kantonsgericht mit unhaltbarer Begründung in die Unverjährbarkeit gerettet. Danach geschieht häufig nicht mehr viel und die (schwach) begründeten Urteile des Obergerichts werden überdurchschnittlich häufig durch das Bundesgericht aufgehoben. Besonders der Gerichtsschreiber Erich Hug ist schon mehrfach negativ aufgefallen. So hat Glarus mehrere Fälle, die sich gegen 20 Jahre dahinschleppen. Fast ist man geneigt, von italienischen Verhältnissen zu sprechen. Fragwürdig bleibt auch, warum es der ehemalige OBergerichtspräsident Yves Ruedi geschafft hat Bundesrichter zu werden. Nachweislich ist Ruedi durch seine Schwatzhaftigkeit vor der eigentlichen Hauptverhandlung gegenüber Dritten aufgefallen. Andrea Bettiga, der sich vor Jahren gebrüstet hat, einen grossen AVIG-Fall gelöst zu haben, sollte jedenfalls seine Unfähigkeit einsehen und endlich seinen längst überfälligen Rücktritt einreichen.